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„Für Ökonomen muss alles auf eine einzige Leinwand passen“

Ein Gespräch mit Geoffrey Brennan über Sinn und Wirkung von wirtschaftspolitischen Spielregeln, die Verhaltensmotive von Bürgern und Politikern, die Möglichkeit von Reformen und die Bedeutung der ökonomischen Ideengeschichte
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Published/Copyright: November 27, 2014

PWP: Herr Professor Brennan, Ihre am meisten rezipierten Beiträge sind sicherlich die verfassungsökonomischen Arbeiten, die Sie zu einem großen Teil gemeinsam mit dem Nobelpreisträger James M. Buchanan verfasst haben. Worum geht es dabei?

Brennan: Die Verfassungsökonomik hat sich aus der Public-Choice-Schule entwickelt, also aus der Analyse der Politik und allgemein kollektiver Entscheidungen außerhalb von Märkten, mittels des ökonomischen Verhaltensmodells. Der erste Schritt bestand darin, die Annahme des wohlwollenden Despoten, der eine wohlfahrtsmaximierende Politik reibungslos durchsetzt, zu ersetzen durch die Annahme eigeninteressiert handelnder Individuen, deren oft unterschiedliche Interessen im politischen Prozess aufeinander treffen. Es ging darum, die ungewöhnliche und kaum zu begründende Dichotomie zu beseitigen, die zuvor zwischen den Verhaltensannahmen für private und politische Akteure herrschte. Die Vorstellung war damals, dass die Personen, die über die Politik und die Spielregeln entscheiden, außerhalb des Modells stehen, eigentlich sogar außerhalb der gesellschaftlichen Realität. Aber dort stehen sie natürlich nicht, sie sind vielmehr Individuen mit eigenen Interessen, so wie alle anderen auch.

PWP: Dabei geht es also um unser Verständnis von Wirtschaftspolitik. Aber die Verfassungsökonomik will noch etwas mehr, richtig?

Brennan: Ja. Menschen im öffentlichen Sektor werden von denselben Impulsen und Motiven angetrieben wie Menschen im privaten Sektor. Aber dennoch verhalten sie sich vielleicht anders, weil sich die Spielregeln unterscheiden. Deshalb stellt sich die Frage nach den Restriktionen ihres Handelns, nach den Spielregeln und deren Auswirkungen. Wir müssen die Auswirkungen verschiedener Institutionen erkennen, und wir müssen auch verstehen, wie wir institutionelle Arrangements so gestalten können, dass sich die Menschen grosso modo im Interesse des Gemeinwohls verhalten, wie auch immer wir das genau definieren wollen. Nun glaube ich persönlich allerdings nicht, dass es eine gute Annahme ist, dass die Individuen ausschließlich von einem sehr eng definierten, materiellen Eigeninteresse motiviert werden. Das spielt natürlich auch eine Rolle, aber es kommen auch andere Motive hinzu, und zwar sowohl für die Bürger als auch für ihre Repräsentanten.

PWP: Sie würden das Eigeninteresse der Akteure in ökonomischen Modellen also etwas weiter definieren, als es in den meisten Mikroökonomik-Lehrbüchern geschieht?

Brennan: Ein Beispiel: Viele Bürger zahlen mehr Steuern, als sie es täten, wenn sie ganz kaltschnäuzig nur an ihren monetären Nutzen dächten und die Wahrscheinlichkeit berücksichtigten, im Fall der Hinterziehung entdeckt und bestraft zu werden. Sie werden auch von einer Art Bürgersinn motiviert, dem Gefühl einer Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen. Deshalb sind sie steuerehrlicher, als man es auf der Grundlage vieler einfacher Rational-Choice-Modelle vorhersagen würde. Ganz allgemein berücksichtigen die meisten Menschen moralische oder gesellschaftliche Normen, auch wenn sie sich nicht immer vollständig daran halten. Eine Rolle spielt auch das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und Selbstachtung. Die Frage für die Verfassungsökonomen ist dann: Wie können wir Institutionen so gestalten, dass Menschen, die ihr in diesem Sinne breit definiertes Eigeninteresse verfolgen, Entscheidungen treffen, die ihren gemeinsamen Interessen nicht widersprechen?

PWP: Hinter den „gemeinsamen Interessen“ steckt dann, jedenfalls in der klassischen Verfassungsökonomik, ein vertragstheoretischer Ansatz, die Frage: Auf welche Regeln könnten sich die Individuen freiwillig einigen? In der politischen Philosophie hat John Rawls hier den Kunstgriff des „Schleiers der Unwissenheit“ genutzt: Die Fairness von Regeln wird beurteilt, ohne dass man selbst genau abschätzen kann, welche Position man selbst in der Gesellschaft künftig einnehmen wird. Wie beispielsweise Ihrem gemeinsam mit James M. Buchanan verfassten Buch „The Reason of Rules“ zu entnehmen ist, unterscheidet sich Ihr Ansatz aber in diesem Punkt deutlich von Rawls. Wie finden Sie heraus, welche Institutionen für die Individuen zustimmungsfähig sein könnten?

Brennan: Bei Rawls ist der Schleier der Unwissenheit ein imaginäres Konzept, das uns helfen soll, die Voraussetzungen von Fairness zu verstehen. Es ist eine Art normatives Gedankenexperiment, zu dem die Individuen aufgerufen sind. Bei James M. Buchanan und mir dagegen ist dieser Schleier ein Teil der Realität des politischen Entscheidungsverfahrens. Wenn wir nicht über Tagespolitik, sondern über allgemeine Verfassungsregeln diskutieren, dann erwarten wir, dass das eng definierte Eigeninteresse etwas zurück tritt und man eine umfassendere Perspektive einnimmt. Wenn man über die Regeln des Spiels verhandelt, ist der Standpunkt einfach ein anderer als beim Versuch, innerhalb des Spiels seinen Vorteil zu suchen. Der Effekt ist also ähnlich wie bei Rawls, nur handelt es sich bei uns nicht um ein bloßes Gedankenexperiment. Die Frage ist dann natürlich, ob sich unsere Vorstellung eines tatsächlich wirksamen Schleiers der Unwissenheit auf der Verfassungsebene empirisch bewährt hat. Hier glaube ich, dass man sicher sagen kann, dass es diesen Schleier gibt. Aber nicht, wie undurchsichtig er am Ende wirklich ist. Man kann sicher nicht erwarten, dass das eigennützig-strategische Denken auf der Verfassungsebene vollständig verschwindet. Man muss aber auch sehen, dass Rawls sich für einen theoretischen Grenzfall interessiert. Der vertragstheoretische Ansatz in der Tradition Buchanans hat eine andere Perspektive. Wir interessieren uns für die empirische Realität, die für jede mögliche Verbesserung den Startpunkt darstellt. Das zentrale Argument ist dann: Wenn man den Status Quo verbessern will, dann ist mit dem Nachdenken über allgemeine Spielregeln eine größere normative Autorität verbunden als mit dem Durchsetzen des Eigeninteresses innerhalb gegebener Spielregeln, weil im ersten Fall zumindest ein dünner Schleier vorhanden sein dürfte.

PWP: Das klingt auf der theoretischen Ebene überzeugend, aber auch etwas abstrakt. Gibt es in der Geschichte Beispiele, die illustrieren können, wie der Wechsel von der Tagespolitik zur Verfassungsebene hilft, mehr oder weniger konsensfähige Verbesserungen des Status Quo zu identifizieren und durchzusetzen?

Brennan: Das ist eine sehr gute Frage. Aus heutiger Sicht ist die amerikanische Verfassung sicherlich ein großer Erfolg. Und es ist interessant, dass das nicht immer so gesehen wurde. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als die Erinnerung an den Bürgerkrieg noch frisch war, hätten viele Experten das amerikanische Verfassungsexperiment für gescheitert gehalten. Aber es gibt eine Kontinuität des amerikanischen Verfassungsdenkens vor und nach dem Bürgerkrieg; die Prinzipien der Interpretation der Verfassung blieben weitgehend intakt. Wenn man diese Prinzipien betrachtet, so scheint es, dass die Väter der amerikanischen Verfassung tatsächlich das Gemeinwohl im Auge hatten. Nicht ausschließlich natürlich, sie haben nicht vollständig von ihrem Eigeninteresse abstrahiert. Aber soweit man es unter realen Bedingungen erwarten kann, wurden spezifische Interessen dominiert von der Überlegung, wie eine Verfassung aussehen sollte, die das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt.

PWP: Trotzdem gab es auch hier nach dem Bürgerkrieg noch weitere Probleme.

Brennan: Wenn Sie die Frage stellen, ob die amerikanische Verfassung perfekt ist, dann ist die Antwort sicherlich: nein. Aber wenn Sie fragen, ob die Verfassung zufriedenstellend funktioniert und Regeln geschaffen hat, in denen die Gesellschaft ziemlich gut funktioniert, dann ist die Antwort: ja!

PWP: Ein Grund dafür ist vielleicht, dass die amerikanische Verfassung die individuellen Freiheitsrechte stark betont und mit allgemeinen Regeln den Rahmen setzt, in dem sich die konkrete gesellschaftliche Realität dann entwickeln kann.

Brennan: Die meisten moderneren Verfassungen, auch die deutsche, ist für meinen Geschmack zu überladen mit allgemeinen Anspruchsrechten. Natürlich denken wir alle, dass Gesundheit oder Bildung erstrebenswerte Güter sind. Aber deshalb ist es noch nicht unbedingt sinnvoll, ein individuelles Recht auf solche Güter in die Verfassung zu schreiben. Gesellschaften tun dies wohl vor allem, um ausdrücklich den Wert festzuhalten, den diese Güter für sie haben. Doch wo ist die Grenze? Inzwischen wird in manchen Ländern diskutiert, ein Recht auf ein gutes Leben, oder sogar auf Glück, in die Verfassung zu schreiben. Aber wie sollen Regierungen solche Ziele, wenn sie einmal in der Verfassung verankert sind, tatsächlich in die Praxis umsetzen? Die amerikanische Verfassung dagegen hat solche individuellen Rechte ursprünglich nur in geringem Maß gekannt. Sie stand stattdessen in der Kontinuität des englischen Civil law, und soweit es individuelle Rechte gab, entwickelten sich diese zunächst langsam, als Richterrecht, im Common law.

PWP:Auf den ersten Blick scheint es aber eine Besonderheit erfolgreicher Verfassungen zu sein, dass sie sich oft auf einer Tabula rasa entwickelten, also aus einer Situation heraus, in der die gesamte Verfassung neu entworfen werden muss – denken wir auch an das deutsche Grundgesetz nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg. Aber ist es nicht eine vollkommen andere Angelegenheit, eine existierende Verfassung schrittweise zu korrigieren und zu verbessern? Denken wir beispielsweise an die europäische Währungsunion und die Frage, wie wir die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten besser disziplinieren: Hier scheint es schwierig zu sein, einen Schleier der Unwissenheit herzustellen.

Brennan: Das ist sicherlich so. Einige Autoren sprechen davon, dass es gelegentlich „konstitutionelle Momente“ gibt, also mehr oder weniger kurze Zeitfenster, in denen sich die Möglichkeit ergibt, konstitutionelle Reformen innerhalb einer gegebenen Verfassungsordnung durchzuführen. Solche Gelegenheiten ergeben sich aber nicht häufig. Für uns Verfassungsökonomen bedeutet dies, dass es nicht ausreicht, nur darauf hinzuweisen, dass Verbesserungen des Status Quo, sogar Pareto-Verbesserungen, prinzipiell möglich sind. Denn anstatt eine solche Verbesserung einfach herbeizuführen, versuchen am Ende doch alle Beteiligten, für sich selbst die besten Bedingungen herauszuhandeln. Dieses Problem tritt besonders dann auf, wenn – wie auf der europäischen Ebene – sich alle Verhandlungsparteien am Tisch als Vertreter nationaler Interessen sehen und ihre Verhandlungsergebnisse vor den heimischen Wählern rechtfertigen müssen. Diese Rückbindung kann immer wieder als Rechtfertigung für eine Verhandlungsführung herhalten, in der das eigennützige nationale Interesse stark dominiert. Schrittweise Verfassungsreformen sind also schwieriger, gerade unter Rahmenbedingungen wie den europäischen, aber ich denke, es ist nicht unmöglich, zu Verbesserungen zu kommen.

PWP: Was wäre unter diesen Umständen Ihr Ratschlag an einen Europäer, der sich eine effiziente Fortentwicklung der europäischen Institutionen wünscht?

Brennan: Einerseits gilt es, Gelegenheiten zur Reform tatsächlich zu nutzen. Wenn sich konstitutionelle Momente ergeben, beispielsweise weil ein annähernder Konsens über die Probleme des Status Quo herrscht, dann muss es auch Akteure geben, die in dieser Situation die Agenda setzen, verhandeln und Mehrheiten beschaffen. Andererseits gilt es Verfassungsregeln aber auch schlicht durchzusetzen. Der Inhalt von politischen Regeln kann vollkommen rational sein, und die Maastricht-Kriterien waren vermutlich grundsätzlich völlig in Ordnung – aber sie sind nutzlos, wenn die Mechanismen zur Durchsetzung versagen. Sogar die Verfassung der Sowjetunion war in der Schriftform in mancher Hinsicht ein gutes Dokument, aber die Praxis war eine andere.

PWP: Oberste Gerichte kommandieren keine Truppen. Wie kommt man dann also zu einer zuverlässigen Durchsetzung von politischen Spielregeln?

Brennan: In Amerika findet man bis in die breite Bevölkerung hinein eine Art konstitutioneller Wachsamkeit. Es gibt ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Verfassung, das manchmal schon wie eine übertrieben respektvolle Verehrung des Verfassungstextes und seiner Entstehung erscheint. Aber ich denke, dass dies eine Stärke des politischen Gemeinwesens in den USA ist. Verglichen damit sind die Verträge der Europäischen Union leicht zu missachten, egal wie gut sie formal konstruiert sind. Es fehlt dort die Verfassungskultur.

PWP: Können wir also in Europa gar nichts besser machen?

Brennan: So weit würde ich nicht gehen. Es sind immer zwei Fragen, die man sich stellen muss: Was wollen wir in die Verfassung schreiben? Und wie wahrscheinlich ist es, dass die Vorschriften, die wir hineinschreiben wollen, auch tatsächlich beachtet werden? Ein gewiefter Autor eines Verfassungstextes nimmt von vornherein Vorschriften in den Text auf, bei denen er davon ausgehen kann, dass die betroffenen Akteure einen Anreiz haben, sich auch daran zu halten. Ein gutes Gesamtkonstrukt kann zu einem gewissen Grad selbstdurchsetzend sein. Es kann für alle Beteiligten vorteilhaft sein, die Wirksamkeit der Verfassung insgesamt nicht durch opportunistisches Abweichen in Einzelfragen zu gefährden. Aber es sollte natürlich auch formale Durchsetzungsmechanismen geben. Ein Konstrukt wie der Maastricht-Vertrag konnte nicht funktionieren, denn es gab keinen ernsthaften Versuch, unabhängige Instanzen mit der Durchsetzung der Regeln zu beauftragen. Den Regeln fehlte von Anfang an jeder Biss, und jetzt leidet Europa unter den Konsequenzen dieser von vornherein unzulänglichen Institutionen.

PWP: Eine wichtige Frage der Ordnungsökonomik ist: Zu wem sprechen wir als Ökonomen eigentlich? Die Wohlfahrtsökonomik spricht zu einer imaginären guten Fee, die Marktversagen effizient korrigiert und optimale Steuern setzt. Sprechen Verfassungsökonomen zu einer guten Verfassungsfee? Oder würden Sie z. B. Viktor Vanberg zustimmen, der oft darauf hinweist, dass die Bürger selbst der Adressat sind und dass es darum geht, die Bürger über mögliche Verbesserungen der Regelordnung zu informieren?

Brennan: Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Wir hängen ja tatsächlich davon ob, dass es eine breit verankerte Verfassungskultur gibt, wie wir es eben im Zusammenhang mit dem Maastricht-Vertrag schon gesehen haben. Wenn man Verbesserungen der Institutionen in der Praxis durchsetzen will, dann muss man aber auch intellektuelle Eliten und Meinungsmacher überzeugen, und natürlich die Vertreter der Politik selbst. Alle diese Akteure haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie eine gute Regelordnung aussehen sollte, und man muss ihnen plausibel machen, wieso eine bestimmte Reform sinnvoll sein könnte. Man muss, wie es James M. Buchanan auch immer betont hat, die gesellschaftliche Realität nehmen, wie sie ist, man muss beginnen, wo wir sind, und von hier ausgehend gilt es die relevanten Akteure zu überzeugen – die Presse, die Bürokratie, die Politiker, die Wähler. Aber am Ende geht es darum, eine Verfassung zu bekommen, die für freie, unabhängige und verantwortlich handelnde Bürger akzeptabel ist.

PWP: Also geht es um die Souveränität der Bürger: Eine Verfassung ist legitim, wenn sie die Zustimmung der Bürger findet?

Brennan: Ja, aber wir dürfen in der praktischen Politik die Arbeitsteilung nicht aus den Augen verlieren, die dort herrscht. Die meisten Verfassungen werden von Rechtswissenschaftlern entworfen, meist in besonderen Situationen, unter sehr speziellen politischen Bedingungen. Und unter dem starken Einfluss von Berufspolitikern. Politische Eliten haben immer einen erheblichen Einfluss in diesem Prozess. Gleichzeitig gibt es in der praktischen Politik die bekannten Anreizprobleme. Der einzelne Wähler hat für das Gesamtergebnis einer Abstimmung keine Bedeutung, was viele Wähler dazu veranlasst, rational unwissend zu sein und sich nicht besonders für die Details politischer Fragen zu interessieren. Für die politischen Eliten hingegen steht einiges auf dem Spiel, sie bringen sich daher ganz anders in Verfassungsdebatten ein. Am Ende hängt also auch viel davon ab, dass es die Maddisons, Jeffersons und Hamiltons gibt ...

PWP: ... oder die Brentanos, Schmids und Dehlers...

Brennan: ... also Verfassungsväter, Menschen, die in der Lage und auch willens sind, eine funktionierende und tatsächlich für die Bürger vorteilhafte Verfassung zu formulieren. Der Gesellschaftsvertrag ist eine immer auch etwas romantische Idealisierung, die Vorstellung einer Gemeinschaft von informierten und gutwilligen Bürgern, die intellektuelle Diskurse führen. Aber die Realität sieht oft etwas anders aus.

PWP: Wir erleben im Moment eine Öffnung des ökonomischen Verhaltensmodells für Einflüsse aus der Psychologie und anderen Nachbardisziplinen. Ausgerechnet der wichtigste Protagonist der Verfassungsökonomik, James M. Buchanan, hat aber immer darauf bestanden, dass auf diesem Gebiet der klassische, eng definierte Homo oeconomicus die Modelle bevölkert. Sehen Sie das auch heute noch so?

Brennan: Jim selbst hatte da eine etwas ambivalente Position. In manchen Passagen seiner Bücher schreibt er über eine „Verfassungsreligion“, über eine Kultur bürgerlicher Verfassungstreue. Er versucht dann, das mit dem Homo oeconomicus in Einklang zu bringen, aber man kann sich darüber streiten, ob ihm das gelingt. Grundsätzlich war er immer sehr misstrauisch, wenn jemand seine Argumentation auf Appellen zu moralischem Verhalten aufbaute. Ich für meinen Teil denke, dass man moralische Überlegungen aus der Verfassungsökonomik nicht heraushalten kann. Ich muss hier aber etwas weiter ausholen. Ich denke, dass der Rational-Choice-Ansatz eine wichtige Grundlage der Ökonomik ist. Er stellt für die Ökonomik eine Art Grammatik der Argumentation bereit und diszipliniert damit unser Denken. Diejenigen Sozialwissenschaftler, die ohne diese Grammatik argumentieren, sind viel mehr der Gefahr ausgesetzt, auf willkürliche Ad-hoc-Argumentationen zurückzugreifen. Es ist mir aber sehr wichtig, diese Funktion der Rationalitätsannahme scharf zu unterscheiden von den Annahmen über die Motive für das Handeln der Individuen. Rationalität ist nicht deckungsgleich mit Egoismus oder Materialismus. Was wir in unseren Modellen in den Nutzenfunktionen der Individuen berücksichtigen, ist unabhängig von der argumentativen Grammatik, welche der Rational-Choice-Ansatz bereitstellt.

PWP: Es geht Ihnen also um den Unterschied zwischen einem allgemeinen Forschungsansatz auf der einen und empirisch gehaltvollen Annahmen über die Motivation der Individuen auf der anderen Seite.

Brennan: Wir können ziemlich flexibel in der Nutzenfunktion berücksichtigen, was die Leute motiviert, ihre Ziele und Wünsche. Und für mich ist es einfach ein Teil der empirischen Realität, dass hierzu auch moralische Überlegungen gehören. Es gehört aber auch der Wunsch nach Anerkennung dazu, die man je nach den gesellschaftlichen Umständen vielleicht mit moralischem Handeln erwerben kann. Oder der Wunsch nach Selbstachtung. Wäre all das nicht vorhanden, dann wären unsere Gesellschaften doch viel konfrontativer und auch trostloser, als sie es tatsächlich sind. Wenn man das Rational-Choice-Modell also mit solchen empirisch gut belegten Annahmen über die Handlungsmotive der Menschen verbindet, dann bekommt man nach meiner Einschätzung ein viel präziseres Modell menschlichen Handelns, als es mit dem als immer strikt egoistisch definierten Homo oeconomicus möglich wäre.

PWP: Dabei handelt es sich dann sozusagen um interne Bremsen unseres Eigennutzstrebens, das aber natürlich nicht ganz verschwindet.

Brennan: Um nicht missverstanden zu werden: Ich propagiere hier nicht das dem alten Homo oeconomicus genau entgegengesetzte Menschenbild, wie es wohl einige Moralphilosophen vertreten. Es ist nicht so, dass man nur die Individuen überreden muss, das Richtige zu tun, und dann entsteht eine Gesellschaft friedlicher und kooperativer Menschen. Als Ökonomen wissen wir, dass es immer Trade-offs gibt. Wir maximieren ja nicht einfach unser Ansehen, sondern den Nutzen, den wir aus mehreren, konkurrierenden Quellen beziehen. Anreizsysteme sind also wichtig, aber Anreizsysteme funktionieren nicht nur über monetäre Belohnungen oder das Strafrecht, sondern eben auch über soziale Normen, die auf gemeinsamen, in der Gesellschaft geteilten Vorstellungen von moralischem Handeln beruhen. Wenn wir mit einer erweiterten Nutzenfunktion arbeiten, dann sehen wir einfach, auf wie vielfältige Arten wir Anreize zu produktivem und kooperativem Verhalten setzen können. Wenn wir beispielsweise Wissenschaftler auf unbefristeten Stellen produktiver machen wollen, dann können wir ihnen natürlich Boni für ranghohe Publikationen zahlen. Wir können aber auch auf Öffentlichkeit und Ansehen setzen und sie verpflichten, jährlich einen Bericht über ihre Aktivitäten zu veröffentlichen, der einen Vergleich mit ihren Kollegen ermöglicht und für ihr Ansehen in der Profession entscheidend ist. Welcher Mechanismus unter dem Strich mehr bewirkt, ist wieder eine empirische Frage.

PWP: Natürlich reagieren unterschiedliche Individuen auf diese Mechanismen auch verschieden, und zwar auch schon vorher, wenn sie überlegen, welche Karriere sie anstreben.

Brennan: Genau, das ist ein weiterer wichtiger Punkt. Anreizsysteme wirken oft nicht nur in einer konkreten Entscheidungssituation, sondern auch als Selektionsmechanismus. Rationale Individuen überlegen sich, welcher Art von Anreizmechanismus sie sich aussetzen wollen. Dann können wir überlegen: Welchen Typus Mensch locken wir mit Publikationsboni in die Wissenschaft, und welchen mit Anreizen, die auf Ansehen beruhen? Und welchen Typus wollen wir eigentlich in der Wissenschaft haben? Ich denke, wir wollen vor allem Leute, die an ihrem Fach interessiert sind und sich ein hohes Ansehen bei ihren Kollegen erarbeiten möchten. Das gilt aber beileibe nicht nur für die Wissenschaft, sondern man muss überall berücksichtigen, dass Menschen mit bestimmten Dispositionen und Vorlieben auch bestimmte Anreizmechanismen bevorzugen. Diese Selektionsfunktion kommt aber nur in unser Blickfeld, wenn wir zusätzliche Argumente in die Nutzenfunktion aufnehmen.

PWP:Die zahlreichen Abweichungen vom Standard individueller Rationalität, über die seit Jahren in der empirischen Verhaltensökonomik diskutiert wird, gehen aber über das hinaus, was man mit erweiterten Nutzenfunktionen einfangen kann. Würden Sie es trotzdem unangemessen finden, das ökonomische Verhaltensmodell insgesamt infrage zu stellen?

Brennan: Exakt, das wäre unangebracht. Eigentlich sind wir hier bei einem alten Thema Friedrich August von Hayeks, der seinerzeit argumentiert hat, dass es angesichts begrenzter kognitiver Kapazitäten eben nicht rational ist, stets Optimierungsaufgaben zu lösen, sondern dass man vielmehr besser sich selbst Verhaltensregeln gibt und Routinen folgt. Es ist oft nicht rational, vollständig rational im Sinne des alten Homo oeconomicus zu sein. Und ich denke außerdem, dass man einiges von der inzwischen vorliegenden experimentellen Evidenz, die gegen das enge ökonomische Verhaltensmodell spricht, durchaus mit einer Erweiterung der Nutzenfunktion modellieren kann. Die Behauptung, dass die experimentelle Ökonomik das ökonomische Verhaltensmodell insgesamt infrage stellt, scheint mir das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aber diesen Fehler begehen einige Verhaltensökonomen. Ein Beispiel für ein vernünftigeres Vorgehen sind die gängigen Erklärungen für die Beobachtungen in spieltheoretischen Ultimatum-Spielen oder in Öffentliche-Güter-Spielen.

PWP: Im Ultimatum-Spiel entscheidet der eine Teilnehmer darüber, welchen Anteil an einer ihm gegebenen Summe er dem anderen Teilnehmer anbietet, wobei eine Ablehnung seines Angebots dazu führen würde, dass beide leer ausgehen. Rationalerweise bietet er ihm den niedrigstmöglichen Anteil an, denn schon das ist für den anderen besser als nichts. So geizig ist in der Realität aber kaum jemand. Im ähnlich aufgebauten Öffentliche-Güter-Spiel, in dem Trittbrettfahrerverhalten das zu erwartende Resultat wäre, zeigen sich die Menschen ebenfalls kooperativer als gedacht.

Brennan: Der erste Instinkt von Ökonomen ist es angesichts solcher Ergebnisse doch, die Nutzenfunktion zu erweitern, beispielsweise um eine Präferenz für Fairness, oder um eine Neigung zum Sanktionieren von nicht-kooperativen Mitspielern. Wir nutzen also das beobachtete Verhalten, um daraus auf die Präferenzen der Individuen zu schließen. Und dann nehmen wir das, was wir gelernt haben, und prüfen, ob wir damit in anderen Kontexten ebenfalls das Verhalten der Individuen vorhersagen können. Wenn nicht, müssen wir unsere Überlegungen wieder ein wenig revidieren und präzisieren. Auf diese Weise leistet die experimentelle Forschung einen wichtigen Beitrag zum Fortschritt der Erkenntnis.

PWP: Das ist das Gegenteil von dem, was Ökonomen lange getan haben, als sie nach den Wirkungen von Anreizen und Preisveränderungen gefragt haben und es ihnen, wie Vilfredo Pareto sagte, egal war, wie die Nutzenfunktionen der Individuen konkret aussehen. Heute betreiben wir dann also eher Motivforschung?

Brennan: Zum Teil ja. Nehmen wir noch einmal das Ultimatum-Spiel. Hierzu gibt es ein interessantes Experiment von Cristina Bicchieri, in dem sie dem Ultimatum-Spiel noch eine Entscheidung voranstellt. Sie lässt die Teilnehmer an ihrem Experiment entscheiden, ob sie dieses Spiel überhaupt spielen wollen. Die Teilnehmer bekommen also ein Angebot: Man sagt ihnen, dass sie im Ultimatum-Spiel höchstwahrscheinlich mit einer Aufteilung von 100 Euro im Verhältnis von 60:40 oder 70:30 durchkämen. Dann bietet man ihnen an, dass sie vom Leiter des Experiments 60 Euro bekommen, wenn sie dafür auf das Spiel verzichten. Und eine Mehrheit nimmt diese sicheren 60 Euro. Das bedeutet aber, dass der andere Teilnehmer am Ultimatum-Spiel leer ausgeht, denn das Spiel wird ja gar nicht erst gespielt. Die Vermutungen, nach denen Altruismus oder Präferenzen für Fairness in Ultimatum-Spielen wichtig sind, könnten also fehlerhaft oder unvollständig sein. Wir sollten dann nach besseren Erklärungen suchen. Möglicherweise gibt es aber auch tatsächlich entsprechende Fairnessnormen, nur ist dann deren Wirkungsbereich eng begrenzt, auf die Situation des Spiels selbst. Wir sollten herausfinden, wieso dies so ist. Die Welt ist kompliziert; wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir uns auch dafür interessieren, welche Präferenzen und Ziele die Menschen antreiben. Aber nochmals: Die spezifische Logik der ökonomischen Analyse, die durch das Rational-Choice-Modell vorgegeben ist, sollten wir nicht aufgeben.

PWP: Es gäbe auch bisher keine überlegene Alternative, wie es scheint. Ist es nicht so, dass den empirisch diagnostizierten Abweichungen vom Maßstab individueller Rationalität, all den verschiedenen kognitiven Verzerrungen, noch eine kohärente Theorie fehlt, die alles zusammenhält?

Brennan: Die Unterschiede in der Arbeitsweise von Psychologen und Ökonomen sind in diesem Punkt interessant. Psychologen sehen die Welt wie einen Stapel Bücher. Jedes einzelne Experiment ist ein Analyseansatz sui generis und endet als Eintrag in einer riesigen Enzyklopädie verschiedener Experimente, ohne dass dahinter ein gemeinsamer, verbindender Erklärungsansatz steckt. Ökonomen denken ganz anders. Wir mögen diese Kasuistik nicht, diese unverbundene Analyse von einem Phänomen nach dem anderen. Ökonomen vermuten, dass eigentlich alles auf eine einzige große Leinwand passt, dass es einige wenige mehr oder weniger plausible Axiome geben muss, aus denen man Erklärungen für sehr, sehr viele beobachtete Phänomene ableiten kann. Wir sind auf der Suche nach eleganten und möglichst allgemeinen Erklärungen. Diese Art zu arbeiten ist ein charakteristisches Merkmal der Ökonomik, und ich finde, dass es eine Katastrophe wäre, wenn wir dies aufgäben und anfingen, die Arbeitsweise der Psychologen zu imitieren.

PWP: Im Moment wird viel darüber diskutiert, was wirtschaftspolitisch aus den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik folgen soll. Ein Thema ist dabei immer wieder, dass neue Paternalisten mit „Nudges“ die Individuen dazu bringen wollen, sich ihren eigenen langfristigen Präferenzen (beispielsweise für einen gesunden Lebensstil) entsprechend zu verhalten und nicht kurzfristigen Impulsen (beispielsweise dem Wunsch nach einer Flasche Wein) zu folgen. Interessanterweise gibt es da auch einen Berührungspunkt zu Ihren frühen Arbeiten mit Loren Lomasky, in denen Sie erörtern, was daraus folgt, wenn Individuen eine hierarchische Präferenzordnung haben. Was halten Sie von der aktuellen Diskussion?

Brennan: Nun, die Idee, eine hierarchische Präferenzordnung anzunehmen, reicht weit zurück, wenigstens bis zu den sokratischen Schulen. Rationalität wurde immer auch als Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion verstanden. Das ging so weit, dass ein Leben ohne kritische Selbstprüfung als nicht lebenswert begriffen wurde. Eine reflektierte, etwas distanzierte und auch an objektiven Kriterien des guten Lebens orientierte Sicht auf das eigene Handeln wurde also für unabdingbar gehalten. Auf der anderen Seite liefert uns die moderne Forschung aber auch gute Argumente dafür, dass die Fähigkeit zu instinktivem Handeln, mit dem die Evolution uns ausgestattet hat, wichtig ist. Die blitzschnellen Reaktionen, die einfach passieren, bevor wir irgendeine Chance zur kritischen Reflexion unseres Handelns haben, sichern nicht selten unser Überleben. Sogar unser moralisches Repertoire hängt oft an emotionalen Bauchgefühlen und nicht an langen Überlegungen über richtiges Handeln. Wenn wir beispielsweise ein Ultimatum-Spiel mit sehr großem Zeitdruck für die Teilnehmer durchführen, dann hat das eine Auswirkung. Dann erhalten wir viel stärker egalitäre Ergebnisse als bei einem Spiel, in dem die Teilnehmer viel Bedenkzeit haben. Je mehr überlegt werden kann, desto mehr geht das Handeln in die Richtung eines strikt an seinem Eigennutz orientierten, klassischen Homo oeconomicus. Die Vorstellung, dass das moralische Handeln immer reflektiertes Handeln ist, scheint mir daher nicht zutreffend.

PWP: Gilt das nur für moralisches Handeln, oder generell für die Qualität von Entscheidungen?

Brennan: Wir sind Wissenschaftler, also sind wir in dieser Hinsicht einfach besser trainiert als die meisten Menschen, die andere Berufe ausüben: Das distanzierte, reflektierte, logische Denken, das ist unsere Spezialisierung. Daher ist es einfach in unserem Interesse, zu behaupten und darauf zu bestehen, dass diese Art der Rechtfertigung des Handelns mit einer besonderen Autorität ausgestattet ist. Aber meine Meinung ist, dass die Realität doch etwas komplizierter ist. Und wir haben noch viel zu lernen. Ich erwarte, dass das Zusammenspiel von Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaften und auch Philosophie uns noch einige Überraschungen bescheren wird. Das ist jetzt noch alles sehr spekulativ, aber vielleicht müssen wir einige unserer intellektuellen Vorurteile bald korrigieren.

PWP: Und wenn wir es von einem rein ökonomischen Standpunkt betrachten, dann kann es natürlich auch sein, dass langfristige Ziele, die wir für uns selbst formulieren, oft erst einmal vor allem expressiv sind – eben nicht gründlich reflektiert, sondern zum Beispiel ohne die wahren Kosten der Zielerreichung zu kennen, die uns dann erst im Laufe der Zeit klar werden.

Brennan: Das ist ein interessanter Punkt. Aber ich denke, es kommt nicht so sehr darauf an, welche langfristigen Ziele rational sind oder nicht. Wir tun ja beides, wir handeln oft sehr instinktiv, ohne nachzudenken, und manchmal reflektieren wir unser Handeln sehr gründlich. Weil wir begrenzte kognitive Kapazitäten haben, müssen wir eine sinnvolle Balance zwischen beidem finden. Das tun wir auch, indem wir uns eigene Verhaltensregeln zulegen, auch Routinen und Gewohnheiten. Es ist rational, sich solche wiederkehrenden Verhaltensmuster bei sich selbst anzuschauen und sie zu korrigieren, wenn sie den eigenen Intentionen zuwider laufen. Das ist es doch, was uns Menschen von Tieren unterscheidet: Wir können uns Gedanken darüber machen, welche Verhaltensmuster wir uns selbst lieber abtrainieren oder welche wir verstärken wollen. Ich habe kein generelles Rezept dafür, wie man das machen sollte. Aber wenn man ein ökonomisches Modell der optimalen Nutzung kognitiver Ressourcen aufschreiben würde, dann käme bestimmt eine derartige Lösung dabei heraus.

PWP: Kommen wir noch einmal zur politischen Ökonomik zurück, zu Public Choice. Die meisten der fundamentalen theoretischen Fragestellungen, die es da gibt, scheinen inzwischen sehr ausführlich und gründlich durchdebattiert zu sein. Wenn man sich die Programme der einschlägigen Konferenzen anschaut, dann dominieren auch hier inzwischen – wie in vielen anderen Bereichen der Ökonomik auch – die cleveren empirischen Identifikationsstrategien. Aber auch dieses Feld wird einmal abgegrast sein. Was sind also die großen Fragen, die in der politischen Ökonomik noch offen sind? Gibt es noch welche?

Brennan: Zunächst: Ich bleibe davon überzeugt, dass eine Rational-Choice-Theorie der richtige Ansatz zur Analyse der Politik ist. Es stimmt zwar, dass die meisten niedrig hängenden Früchte auf diesem Gebiet bereits gepflückt sind. Viele wichtige, aber auch naheliegende Ergebnisse wurden bereits in der Anfangsphase des Forschungsgebietes produziert. Was die Zukunft betrifft, kann es freilich zu sehr spannenden Entwicklungen auf Gebieten kommen, von denen wir heute noch gar nicht ahnen, dass sie an Bedeutung gewinnen werden. Das liegt in der Natur der Sache. Konkret glaube ich aber, dass die Analyse und Prognose von politischen Präferenzen eine wichtige Frage ist, bei der sich noch einiges tun wird. Eine Herausforderung bleibt die ganze Frage der expressiven Präferenzen, zu denen es kommt, wenn Individuen hinter dem „Schleier der politischen Bedeutungslosigkeit“ – also ohne eine nennenswerte Chance, mit ihrer Stimmabgabe wahlentscheidend zu sein – politische Präferenzen bilden, ohne zu berücksichtigen, was geschähe, wenn eine Mehrheit ihre Präferenzen teilte. Wir wissen einfach noch nicht so viel darüber, wie sich politische Präferenzen bilden und wie sie sich verändern. Aber es gibt einige Ansätze. Zum Beispiel dürften psychologische Einflüsse in der Politik, mit ihren spezifischen Anreizen für den einzelnen Bürger, durchaus groß sein, wahrscheinlich auch die Beeinflussbarkeit durch politische Werbung und den „Spin“ in den öffentlichen Debatten. Das macht die Politik viel komplizierter und unberechenbarer als das Verhalten auf Märkten. Aber auch interessanter.

PWP: Man kann also Doktoranden auch weiterhin eine Spezialisierung auf die politische Ökonomik empfehlen?

Brennan: Bruno Frey hat einmal gesagt, Public Choice sei heute langweilig geworden und es gebe interessantere Arbeit zu leisten. In einer Hinsicht stimmt das: Große Pioniere des Fachs wie James M. Buchanan, Gordon Tullock, Mancur Olson und Anthony Downs gibt es heute wohl nicht mehr. Aber ich finde, es bleibt trotzdem interessant und intellektuell herausfordernd, gerade auch an der Schnittstelle zwischen politischer Philosophie und Public Choice. Es gibt noch viel mehr zu tun als nur kleine, von den Altvorderen übrig gelassene Fragen abzuarbeiten. Ehrlich gesagt würde ich einen Doktoranden sogar eher ermuntern, sich mit Public Choice zu beschäftigen als mit reiner Ökonomik. Einige der aktuellen Trends in der Ökonomik kommen mir etwas langweilig vor, um ehrlich zu sein.

PWP: Meinen Sie damit das, was manche Leute etwas despektierlich „Cutenomics“ nennen und das sich im Anschluss an das Buch „Freakonomics“ entwickelt hat? Clevere empirische Forschungsstrategien, wofür auch immer man gerade Daten findet, und wenn es Baseballspiele sind?

Brennan: So etwas interessiert mich einfach nicht. Es ist eben „cute“, bloß pfiffig. Und ich glaube nicht, dass es intellektuell besonders zufriedenstellend ist, wenn man seine Karriere auf Dinge aufbaut, die bloß pfiffig sind. Außerdem haben wir eine gewisse Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Es spricht ja nichts gegen Arbeit, die auch Spaß macht, aber die Gefahr besteht, dass irgendwann der Fokus nicht mehr auf interessanten und wichtigen Fragen liegt. Sondern darauf, dass jeder versucht, mit solchen Spielereien zu zeigen, wie schlau er ist. Wenn das zum Selbstzweck wird, droht die nötige intellektuelle Ernsthaftigkeit verloren zu gehen. Echte Intellektuelle wie Hayek und Buchanan waren Gegenbeispiele. Sie waren in ihrer Arbeit von einer tiefen moralischen Ernsthaftigkeit angetrieben, die ich in vielen dieser Dinge, die vor allem Schlaumeiereien sind, einfach nicht mehr erkenne.

PWP: Sie haben im Juni in Freiburg die Hayek-Medaille erhalten. Angenommen, dieses Interview würde von jemandem gelesen, der gerade dabei ist, sich auf quantitative Methoden zu spezialisieren – können Sie erklären, warum man die rein verbaltheoretischen Werke Hayeks heute noch mit Gewinn lesen kann, oder sogar soll?

Brennan: Nun, ich denke, dass es sehr gute Gründe gibt, auch heute noch Hayek zu lesen. Lassen Sie mich aber zunächst allgemein etwas über Ideengeschichte sagen. Ich denke, dass es heute viele Ökonomen gibt, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, und zwar auch im Hinblick auf ihr Verständnis vom Fortschritt in ihrer Disziplin. Man geht davon aus, dass alles, was in der Vergangenheit an wirklich relevantem Wissen produziert worden ist, sich auch tatsächlich in den Mainstream integriert wiederfindet. Diese Ökonomen gehen also davon aus, dass alles Wichtige, das Hayek geschrieben hat, sich auch in den Standardlehrbüchern findet. Und wenn es dort nicht anzutreffen ist, dann hat es den objektiven Auswahlprozess nicht überstanden und ist auch nicht wichtig. Meiner Meinung nach ist diese Position schlicht falsch, ob sie sich nun auf Hayek, Adam Smith, John Maynard Keynes oder andere bezieht. Viele wichtige Dinge, die in der Vergangenheit in der Ökonomik geschrieben wurden, sind inzwischen vergessen. Das passiert, weil es in der Ökonomik nicht mehr üblich ist, Ideen zurückzuverfolgen und wichtige Beiträge zu lesen, wenn sie schon etwas älter sind. Es gibt also in unserem Fach viel verschüttetes Wissen, das nicht Bestandteil des Kanons in den Lehrbüchern und im Mainstream ist.

PWP: Und was bedeutet dies konkret für Hayek?

Brennan: In der Realität ist Wissen stets begrenzt und unsere Wahrnehmung beeinflusst das Handeln von Menschen in der Gesellschaft. Diese Erkenntnis spielt eine große Rolle bei Hayek, aber nicht so sehr im heutigen Mainstream der Ökonomik. Es geht hier um Aspekte der gesellschaftlichen Realität, die von der modernen Ökonomik weitgehend verdrängt worden sind. Hayek hingegen war ein Intellektueller mit weit gestreuten Interessen, der sich nie nur auf enge und rein ökonomische Fragestellungen beschränkt hat. Er hat alle möglichen gesellschaftlichen Phänomene als wissenschaftliche Herausforderung begriffen, die eine Erklärung verlangen. Aber das galt nicht nur für ihn. Wenn man sich wirklich herausragende Ökonomen ansieht, beispielsweise die Liste der Nobelpreisträger, dann fällt auf, dass sehr viele von ihnen breitere Interessen haben, die über rein wirtschaftliche Fragen hinausgehen. Nehmen Sie Ökonomen wie Gary Becker, der die Ökonomik als sozialwissenschaftliche Methode verstand, wie James M. Buchanan, der die Ökonomik auf politische und verfassungstheoretische Probleme angewendet hat, oder wie auch Amartya Sen mit seinem Brückenschlag zwischen Ökonomik und Philosophie. Sie sind Beispiele für Ökonomen, die sich einer engen Eingrenzung von Ökonomik verweigert haben und sogar oft auch an fakultätsübergreifenden Einrichtungen gearbeitet haben. Wenn ich also jungen Ökonomen heute einen Rat geben sollte, dann zunächst einmal diesen: Ökonomik ist mehr als das, was in den vergangenen fünf Jahren im American Economic Review erschienen ist. Das sollte man nicht vergessen, und man sollte die Vergangenheit nie aus den Augen verlieren.

Mit Geoffrey Brennan sprach Jan Schnellenbach, zur Zeit des Interviews noch geschäftsführender Forschungsreferent am Walter Eucken Institut in Freiburg, seit Oktober 2014 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomik an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Die Mitschrift des Interviews hat Franziska Dinter vom Walter Eucken Institut besorgt. Fotos von Julia Wolfinger.

Zur Person

Über enge disziplinäre Grenzen hinweg

Geoffrey Brennan

H. Geoffrey Brennan, geboren 1944, erhielt seine akademische Ausbildung im heimischen Australien. Sein Studium der Volkswirtschaftslehre schloss er 1966 mit dem Bachelorgrad an der Australian National University ab. Hier begann er im Folgenden auch zu forschen und zu lehren. Im Jahr 1976 wurde er mit einer Dissertation über öffentliche Güter und die Einkommensverteilung promoviert. Daneben engagierte sich Brennan schon früh in der Politikberatung, unter anderem von 1973 bis 1974 im Australian Taxation Review Committee.

Nur zwei Jahre nach dem Abschluss seiner Dissertation zog es Brennan 1978 in die Vereinigten Staaten, wo er als Professor für Volkswirtschaftslehre am Center for the Study of Public Choice forschte, das der spätere Nobelpreisträger James M. Buchanan 1957 gegründet hatte und das damals am Virginia Polytechnic Institute in Blacksburg, Virginia angesiedelt war. Den Umzug des Centers an die George Mason University in Fairfax, Virginia machte Brennan zwar noch mit, doch Ende 1983 zog es ihn zurück in seine Heimat, wo er einen Lehrstuhl an seiner Alma Mater annahm, der Australian National University. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren führten ihn jedoch regelmäßig ans andere Ende der Welt, unter anderem an die University of North Carolina in Chapel Hill, North Carolina und an das ehrwürdige All Souls College im englischen Oxford. Seit dem Jahr 2006 hat Brennan neben seinem australischen Lehrstuhl permanente Gastprofessuren an der Duke University in Durham, North Carolina und an der University of North Carolina inne.

Es ist nur auf den ersten Blick überraschend, dass der Ökonom Brennan als Gastprofessor an diese international herausragenden Fakultäten für Philosophie und Politikwissenschaft gerufen wurde und dass er auch an seiner Heimatuniversität seit 1998 als Lehrstuhlinhaber in der Social and Political Theory Group an der Research School of Social Sciences arbeitet. Die Arbeit über enge disziplinäre Grenzen hinweg, an Fragen, die ökonomische, politische und philosophische Aspekte haben, steht schon immer im Mittelpunkt von Brennans Interessen – und zwar so weit, dass die englische Wikipedia ihn inzwischen gar als „australischen Philosophen“ führt.

Am Center for the Study of Public Choice kam es früh zur Zusammenarbeit mit James M. Buchanan. Dieser war

damals damit beschäftigt, seinen 1962 gemeinsam mit Gordon Tullock formulierten Ansatz einer ökonomischen Theorie von Verfassungsregeln zu einem umfassenden Forschungsprogramm auszuarbeiten. Die Zusammenarbeit war überaus fruchtbar. „Es reicht, dass wir uns eine halbe Stunde zusammensetzen, damit eine Fülle von neuen Ideen entsteht. Wenn ich ihn einen halben Tag sehe, bekomme ich mehr geistige Stimulation von ihm als von den meisten anderen Leuten in einem ganzen Leben“, sagte Buchanan über Brennan[1]. Ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Brennan und Buchanan auf diesem Gebiet ist das 1980 bei Cambridge University Press erschienene Buch „The Power to Tax“, das zu einem finanzwissenschaftlichen Klassiker wurde. Die Ergebnisse stellen die wohlfahrtsökonomische Theorie der optimalen Besteuerung auf den Kopf: Aus verfassungsökonomischer Sicht, wo der Schutz des Bürgers vor der Übermacht des Staates im Vordergrund steht, erscheint es nicht mehr sinnvoll, die Steuerbemessungsgrundlagen möglichst breit zu definieren und die Steuertarife so zu gestalten, dass kein Ausweichen möglich ist – sondern das genaue Gegenteil ist gefragt.

Die Interessen Brennans waren aber nicht nur auf solche finanzwissenschaftlichen Probleme beschränkt. In einem 1985 ebenfalls gemeinsam mit Buchanan verfassten Buch geht es allgemein um „The Reason of Rules“, ein im Englischen zweideutiger Titel, der nicht nur die Begründung, sondern auch die Vernunft von Regeln beinhaltet. Anschließend wandte sich Brennan unter anderem in einem 1993 mit dem Philosophen Loren Lomasky veröffentlichten Werk der Frage zu, wie die Präferenzen der Wähler theoretisch erklärt werden können. In einem nächsten Schritt weitete sich das Interesse in Richtung der allgemeiner gehaltenen Frage, was eigentlich menschliches Handeln motiviert und was daraus für die Funktionsweise von Märkten und anderen gesellschaftlichen Mechanismen folgt. Antworten geben Geoffrey Brennan und Philippe Pettit in ihrem 2004 veröffentlichten Buch „The Economy of Esteem“.

Privat ist der immer gut gelaunte, humorvolle Brennan ein engagiertes Mitglied der anglikanischen Kirche, einige Jahre diente er als Mitglied der Diözesansynode. Wie bei vielen Wissenschaftlern sind bei ihm die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Beruflichen fließend – und so lag es nahe, dass er sich auch mit der ökonomischen Theorie der Religion beschäftigte, einschließlich einer politisch-ökonomischen Analyse der Kirchenbürokratie. In den Genuss einer weiteren privaten Leidenschaft Brennans kommen Fachkollegen auf Konferenzen mit großer Verlässlichkeit: des Gesangs. Der charismatische langjährige Chorsänger und Solist verfügt über einen vollen, warmen Bariton und gibt in geselliger Runde gern eine Probe seines musikalischen Könnens – und animiert die Anwesenden auch schon einmal zum fröhlichen Kanonsingen.

In den angesehensten Zeitschriften der Profession sind Aufsätze von ihm erschienen, in Econometrica, dem Economic Journal, dem Quarterly Journal of Economics und der American Economic Review. Brennan hat sich aber in seinen Forschungsinteressen nie strategisch nach möglichen Publikationsaussichten gerichtet – wenn ein Problem ihn interessiert und fesselt, dann forscht er darüber, auch wenn am Ende nur eine Veröffentlichung in einem Nischenjournal dabei herauskommen mag. Vor allem widmet er den großen und grundsätzlichen, das Funktionieren demokratischer Gemeinwesen betreffenden Forschungsfragen seine Aufmerksamkeit. Dort geht es um Begründungen und Grenzen des Wohlfahrtsstaates, um eine angemessene politische Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen, und auch um die moralische Verpflichtung von Individuen auf Märkten und in der Politik.

Bei aller interdisziplinären Breite seiner Publikationstätigkeit ist Brennan bis heute immer Ökonom geblieben. Er gehört zu den überzeugenden Verteidigern des ökonomischen Verhaltensmodells und hält den Rational-Choice-Ansatz weiterhin für einen unverzichtbaren Kern ökonomischer und darüber hinaus auch allgemein sozialwissenschaftlicher Analyse. Gleichzeitig war Brennan aber nie das, was manche Vertreter unserer Nachbardisziplinen argwöhnisch einen ökonomischen Imperialisten nennen würden. Anstatt ökonomisches Denken einfach anderen Fakultäten überstülpen zu wollen, ist Interdisziplinarität für Brennan keine Einbahnstraße. Er fragt stets, wie – um den Kern des ökonomischen Verhaltensmodells herum – die Erkenntnisse und Forschungsansätze aus anderen Disziplinen die ökonomische Analyse reichhaltiger und relevanter machen könnten. (J.S.)

Online erschienen: 2014-11-27
Erschienen im Druck: 2014-12-1

© 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston

Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2014-0027/html
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