Bildsamkeit, Vervollkommnung und Optimierung
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Markus Dederich
and Jörg ZirfasMarkus Dederich , Dr. phil., Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte sind u.a. grundlagentheoretische und ethische Fragen im Kontext von Behinderung, wissenschaftstheoretische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik, Theorien der Behinderung und Disability Studies, Inklusions- und Exklusionsforschung, Vulnerabilität.Jörg Zirfas , Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie, Kulturelle Bildung, Kritische Lebenskunst und Vulnerabilität.
Abstract
Historisch erscheint die Umstellung der Semantik von Vollkommenheit als Optimum menschlicher Entwicklung auf Perfektionierung bzw. Vervollkommnung im 16. und 17. Jahrhundert bedeutsam. Infolgedessen wurde die Vervollkommnung von der (absoluten) Vollkommenheit gelöst bzw. die Vollkommenheit selbst als entwicklungsfähig bzw. steigerbar angesehen. Wenn in den aktuellen Debatten weder von einer Vollkommenheit des Menschen noch von seiner Vollendung die Rede ist, ist das auch ein Indiz dafür, dass ein integrales Ziel menschlichen Lebens nicht mehr vorstellbar erscheint. Genau dieser Verlust macht die Figur der Optimierung attraktiv, bietet diese doch eine irgendwie geartete Orientierung. Zwei pädagogische Grundbegriffe sind mit dieser Orientierung verbunden: Bildsamkeit und Vervollkommnung. Bildsamkeit kann ganz allgemein als eine dem Menschen zugeschriebene Fähigkeit verstanden werden, Fähigkeiten auszubilden und zu entwickeln, zu lernen und sich mit pädagogischer Unterstützung und im Austausch mit der natürlichen, sozialen und kulturellen Welt zu bilden. Auf der anderen Seite verweist der Begriff der Vervollkommnungsfähigkeit darauf, dass das Konzept der Bildsamkeit mit einem Telos versehen werden muss, auf das diese hin entwickelt werden soll. Unter den Bedingungen der Moderne geraten Bildsamkeit und Vervollkommnung in den Sog eines entgrenzten Optimierungsmodells, das in seinen extremen Spielarten über den Menschen hinausweist.
About the authors
Markus Dederich, Dr. phil., Professor für Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte sind u.a. grundlagentheoretische und ethische Fragen im Kontext von Behinderung, wissenschaftstheoretische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik, Theorien der Behinderung und Disability Studies, Inklusions- und Exklusionsforschung, Vulnerabilität.
Jörg Zirfas, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie, Kulturelle Bildung, Kritische Lebenskunst und Vulnerabilität.
Literatur
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- Die Bedeutung der Grenze für die Heil- und Sonderpädagogik
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- Limits of the Naturalization of Learning
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- Be- und Entgrenzungen des Körpers in den Social Media
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