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Neuerscheinungen zu Nietzsches Musikästhetik und Musikphilosophie

  • Uwe Rauschelbach EMAIL logo
Published/Copyright: December 6, 2023

Abstract

New Publications on Nietzsche’s Musical Aesthetics and Philosophy of Music. The significance of music in Nietzsche’s aesthetic writings is undisputed. However, the question of the role that music played in Nietzsche’s thought and writing process still yields divergent answers which are not free of speculative interpretations. New publications on Nietzsche’s aesthetics of music cover a wide range of themes: from the significance that the syllabic rhythms of Greek antiquity held for Nietzsche to the relationship between sounds and language in poetic texts, for example, and the processes to which Nietzsche applied himself as a composer of music. This makes it very clear that music is not simply a complementary element to express what cannot be said in language, nor is it a form of relief from the tragic perception of life.

  1. Aysegul Durakoglu / Michael Steinmann / Yunus Tuncel (Hg.), Nietzsche and Music. Philosophical Thoughts and Musical Experiments. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2022, 530 S., ISBN 978-1527583719.

  2. Enrico Müller (Hg.), Nietzsche als musikalischer Denker – Dionysos-Dithyramben, in: Nietzscheforschung 29. Berlin / Boston: De Gruyter 2022, S. 3–322, ISSN 1869-5604.

  3. Babette Babich, Nietzsches Antike. Beiträge zur Altphilologie und Musik. Baden-Baden: Academia 2020, 399 S., ISBN 978-3896659200.

  4. Bruno Dal Bon, La gioia sovrana. Nietzsche e la musica come filosofia. Mailand: Mimesis 2020, 160 S., ISBN 978-8857561080.

1. Die Mitherausgeberin des Bandes Nietzsche and Music. Philosophical Thoughts and Musical Experiments Aysegul Durakoglu ist Musikerin, Yunus Tuncel ist Philosoph. Beide Disziplinen sind – neben der Literaturwissenschaft – durch die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes repräsentiert. Es handelt sich um ein Kompendium mit Studien und Essays, die um Nietzsches philosophisches und literarisches Interesse an der Musik kreisen. Gründlichkeit und Tiefe halten dabei mit der Vielzahl an Perspektiven und Ansätzen rund um das populäre wie offenbar noch immer unergründliche Thema nicht immer Schritt.

James Melo untersucht den Einfluss Schopenhauers auf Nietzsches Musikverständnis. Demnach genießt die Musik den Vorzug vor der Wortsprache als Ausdruck eines umfassenden Weltwillens. Musik erscheint hier mit einem metaphysischen Pathos versehen, dessen sich Nietzsche spätestens nach seiner ersten veröffentlichten Schrift Die Geburt der Tragödie (1872) entledigt. Zwar büßt die Musik damit ihre Stellung ein, die sie noch in der Romantik besaß; doch infolge der Unterscheidung zur Wortsprache kommt ihr bei Nietzsche eine besondere Form des Ausdrucks zu, wie Melo nachweist. Demnach steht die Musik nicht im Dienst eines Textes – was Nietzsche an Wagners musikalischen Dramen kritisiert –, sondern überwindet ihn, wie Nietzsche etwa am Chorsatz der 9. Symphonie Beethovens demonstriert. Allerdings bleibt die literarische Musikästhetik, die Nietzsche formal wie inhaltlich in seinem Werk entwickelt, in James Melos Beitrag ausgeblendet.

Unterdessen fragt Michael Steinmann ausgehend von der kritischen Vorrede zur Geburt der Tragödie („Sie hätte singen sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 3)), wo und auf welche Weise sich Musik in einem Text äußern kann. Dabei setzt der Autor den Begriff „Musik“ von vornherein in Anführungszeichen, seien Schriftsprache und musikalisches Werk doch kategorial voneinander zu unterscheiden. Gleichwohl könne sich Musikalisches im Spiel der Formen oder des Rhythmus eines Textes zeigen. Doch Steinmann geht weiter: Musik sei bei Nietzsche in erster Linie ein philosophischer Gegenstand. Musik sei als mediale Ebene zu sehen, die in nicht-präpositionaler oder nicht-diskursiver Weise ein Naturverhältnis ausdrückt. Das Spiel von Harmonie und Rhythmus bilde die Dynamik des Lebens als solches ab. Dieser emphatische Musikbegriff mag noch für Die Geburt der Tragödie zutreffen, nicht aber in der Folgezeit, da Nietzsches Welt in voneinander getrennte perspektivische Standpunkte zerfällt und das „Musikalische“ in der Sprache als reflexiver Widerschein einer radikalen Sprachkritik erscheint.

Dass Musik als Zeichensystem keine repräsentative Funktion besitzt, die aus Tönen Signifikanten macht, stellt Yunus Tuncel klar, ohne dass er der Frage weiter nachgeht, welche Folgen dies für das „Musikalische“ in Nietzsches Sprache hat. Nietzsches Hinwendung zur „Musik des Südens“ in Verbindung mit einer Art „Ent-Germanisierung“ untersucht Martine Prange, die dabei vor allem den Einfluss Goethes – in diesem Fall dessen Singspiel Scherz, List und Rache (1785) – auf Nietzsche beleuchtet. In einem weiteren Beitrag untersucht Prange die schwierige Verbindung, die Nietzsche im Frühwerk zwischen der antiken Tragödie und Wagners musikalischen Dramen herzustellen versucht. Parallelen in der Nutzung der Leitmotivtechnik bei Wagner und Nietzsche sieht Daniel H. Foster, der beiden Künstlern die Orientierung an der griechischen Antike zugrunde legt. Wichtiger erscheint aber Fosters Demonstration des defizitären Interpretierens antiker Tragödien; defizitär deshalb, da es Details unbeachtet lasse, um zu allgemeinen Schlüssen zu gelangen und mit vorgefassten Meinungen und Vorwissen befrachtet sei.

Einen Blick auf Nietzsches Lebensthema, die Auseinandersetzung mit Richard Wagner, wirft auch Stefan Lorenz Sorgner. Er weist entscheidende Differenzen in den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Oper als Gesamtkunstwerk nach. So trägt Nietzsches Auffassung von der Ästhetik als eines sinnlich zu erfassenden Phänomens zur Ausbildung einer pluralen Sichtweise und zur Abkehr von der Totalität zugunsten eines offenen Kunstwerks bei (wie es etwa Theodor W. Adorno in der Ästhetischen Theorie beschrieben hat). Neben Wagner ist es vor allem Beethoven, der Nietzsches musikästhetische Positionen geformt hat. Diesem Umstand widmet sich Babette Babich in ihrem Beitrag, ohne den besonderen Umstand zu vertiefen, dass Nietzsche mit Blick auf Beethoven von „Musik über Musik“ (MA II, WS 152) gesprochen hat. Auch Nietzsches Kompositionen werden in diesem Band betrachtet. Während Tali Makell am Beispiel von Nietzsches Manfred-Trilogie (1872) demonstriert, dass Nietzsche als Komponist über den Status eines Autodidakten und Improvisators nicht hinaus gelangt sei, übersieht die gängige Kritik an Nietzsches musikalischen Werken nach Auffassung von Aysegul Durakoglu deren Faktur als in Tönen gesetzte Philosophie, was sich etwa am „sense of disorientation“ (341) zeige. Dementsprechend plädiert Durakoglu dafür, die philosophischen Implikationen in Nietzsches Kompositionen zu würdigen, anstatt es bei den üblichen Hinweisen auf kompositorische Defizite Nietzsches zu belassen, sei es Nietzsche doch auch in seinen musikalischen Werken um die Dekonstruktion traditioneller Verfahren gegangen. Nietzsches Stücke seien einzigartig in der Art und Weise, wie sie seine philosophischen Gedanken reflektierten. Auch Benjamin Moritz vertritt die Auffassung, Nietzsches Abweichungen von klassischen Kompositionsprinzipien – etwa am Beispiel der Mazurken – seien weniger der Unkenntnis geschuldet als rhetorische Absicht, in diesem Fall in parodistischer Tendenz. Die Abweichung von Gewohntem und von Konventionen wird als intendierte Irritation verstanden, die den Hörer verunsichern soll. Wird hier auch eine Rehabilitierung Nietzsches als Komponist versucht, die ihm zu Lebzeiten nicht vergönnt war, so lassen seine Tonstücke doch die Handschrift eines mit Kompositionstechniken vertrauten Musikers vermissen, was auch ihre philosophische Relevanz einschränkt.

Eine Linie von Nietzsche zu Arnold Schönberg ziehen Jamie Parr und Venessa Ercole, dies aber nicht in kompositorischer Hinsicht. Stattdessen lasse sich Schönbergs Komposition Verklärte Nacht (1899) als Illustration von Nietzsches Auffassung einer im permanenten Wandel begriffenen und sich dem Streben nach Erkenntnis entziehenden Wirklichkeit sehen. Cornelis Witthoefft kommt das Verdienst zu, vor voreiligen Schlüssen in Bezug auf Nietzsche zu warnen. Und das gleich mehrfach. Beispielsweise was die Identifizierung eines literarischen mit einem biografischen Subjekt betrifft, aber auch mit Blick auf sein Konzept einer „Zukunftsmusik“, die weitgehend dem allgemeinen Urteil seiner Zeit entsprach. Wichtige Richtigstellungen liefert Witthoefft auch in Bezug auf Nietzsches „Weihnachtsoratorium“ (1861), das wahrscheinlich gar nicht weihnachtlich konnotiert und schon gar nicht an Johann Sebastian Bach orientiert war.

Graham Parkes nimmt Nietzsches musikrelevante Selbstaussagen wörtlich, etwa jene, bei Also sprach Zarathustra (1883–85) handele es sich um eine Symphonie. So bemüht er sich, dies anhand des strukturellen Aufbaus dieses Buches nachzuweisen, freilich ohne zu klären, welche neuen hermeneutischen Erkenntnisse sich ergäben, sollte seine These zutreffen. Ähnlich wie Parkes argumentiert auch Gaila Pander, die den Zarathustra ebenso als symphonisches Konstrukt begreift, ohne die textlogischen Hinweise zu würdigen, die gerade jede gattungsmäßige Kohärenz infrage stellen. Und auch ohne die Frage zu überprüfen, welche Bedeutungen mit dem Begriff des Symphonischen zur Zeit Nietzsches verknüpft waren. Davon abgesehen, ist der Befund, Nietzsches schriftstellerische Musikalität manifestiere sich in strukturanalogen Merkmalen, eher als dürftig anzusehen. Problematisch wirkt auch Daniel Conways Verfahren, das lyrische Ich in Nietzsches Nachgesang Aus hohen Bergen zu Jenseits von Gut und Böse (1886) mit dem biografischen Subjekt Nietzsches zu identifizieren, habe sich Nietzsche in einem Brief doch selbst als „Einsiedler“ bezeichnet. Auch als voreilig zurückzuweisen ist Conways These, bei dem „Zaubrer“ in der vorletzten Strophe handele es sich um Wagner (den Nietzsche in seinen Schriften freilich mehrfach als „Zauberer“ bezeichnet hat). Conway räumt selbst ein, dass er diese Art von Interpretation für spekulativ hält – um unverständlicherweise dennoch daran festzuhalten, dass der Ich-Sprecher im Nachgesang der „Einsiedler von Sils Maria“ (406) sei. Einflüsse Nietzsches auf russische Künstler und Intellektuelle zeichnet Rebecca A. Mitchell nach, etwa am Beispiel des russischen Komponisten Aleksandr Scriabin. Einen Schritt weiter gehen David Kilpatrick und Ben Abelson, die Spuren des Dionysischen in der Musik von Rockgruppen wie The Doors, Led Zeppelin, Black Sabbath oder Marilyn Manson untersuchen.

2. Band 29 der Nietzscheforschung – Nietzsche als musikalischer Denker – Dionysos-Dithyramben – vereinigt im ersten Teil Abhandlungen über die Rolle der Musik in Nietzsches Schreiben und Denken sowie im zweiten Teil Beiträge einer Nietzsche-Werkstatt in Schulpforta über Nietzsches Dionysos-Dithyramben (1889). Der dritte Teil enthält Beiträge zu verschiedenen zeitgenössischen Themen, während Teil vier einigen Rezensionen von Nietzsche-relevanten Neuerscheinungen gewidmet ist. Schwerpunkt ist die Bedeutung der Musik, der Nietzsche in unterschiedlichen Belangen zuspricht. So charakterisiert Susanna Zellini die Beziehung von Wortsprache und musikalischer Klangsprache als ein „Wechselverhältnis von verschiedenen Darstellungsformen“ (11). Jene „zeichentheoretische Auffassung von Musik“ hat Konsequenzen, erscheint die Form doch als „Zentrum der philosophischen Reflexion“. Sprache und Musik bleiben als „zwei unterschiedliche Ausdrucksgrade“ aufeinander bezogen. Es folgt ein Abschnitt, in dem sich die Autorin gründlich mit Nietzsches Hinwendung zur griechischen Metrik auseinandersetzt. Es wird deutlich: Nietzsches Musikverständnis beruht auf einem fundierten Wissen um die antike Sprachmusik, aus dem sich die Autonomie der Form entwickelt. Als autonome Zeichensysteme haben Wortsprache und Musik eines gemein: In ihnen regiert die Form über den Inhalt. Werner Stegmaier unterstellt Nietzsches Texten vor diesem Hintergrund eine „musikalische Form“ (28), die das Reden in Begriffen ad absurdum führe. Stegmaier beschreibt Aufbau und Stil des Kapitels Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde der Götzen-Dämmerung (1889) mit Begriffen aus der Musik. Er spricht dabei zwar von „gewagten Analogien“, erhält seine Argumentation aber aufrecht, um die zersetzende Kraft der literarisch-musikalischen Form gegenüber dem „argumentativen Rahmen“ (54) eines Textes zu dokumentieren. Die Frage bleibt, ob es sich nicht vielmehr umgekehrt verhält: Die Form ist bei Nietzsche nicht Zweck an sich, sie wird notwendigerweise selbst zum Gegenstand, weil die argumentativ-begriffliche Ebene nicht trägt. Und es bleibt dann ebenso fraglich, was an dieser Form, außer einigen Anspielungen und Analogien, tatsächlich „musikalisch“ ist.

Ausgehend von den „physiologischen Gegebenheiten des Menschen“ als „Grundverständnis der Nietzscherezeption“ (60) stellt Friederike Felicitas Günther in ihrem Beitrag Bezüge zur digitalen Aufnahmetechnik her. In beiden Fällen werde das „ästhetische Rezeptionsvermögen“ (65) herausgefordert, nämlich sich aus Bruchstücken und Details ein Klangbild zu erschaffen. Jenes Verfahren der Interpolation sei für Nietzsches Wahrnehmungskonzept „physiologisch unumgänglich“ (66), wie Günther ausführt. So sei es aus Nietzsches Sicht „zum Überleben schlicht notwendig […], Eindrücke aus der Außenwelt auszuwählen und in einen brauchbaren Zusammenhang zu bringen.“ Worin der hermeneutische Nutzen solcher Bezüge, wie sie die Autorin für Nietzsches Apperzeptionsmodell mit der Digitaltechnik herausarbeitet, bestehen soll, wird nicht weiter ausgeführt.

Natürlich spielt in Nietzsches Musikästhetik auch der Tanz eine Rolle, wie Katharina Grätz anhand des Zarathustra nachweist. Bedeutsam erscheint hierbei die dialektische Funktion der Tanzmetapher: So werde der Tanz zusehends als „Kippfigur“ (80) entwickelt, mit der die sendungsbewusste Rolle des Zarathustra infrage gestellt wird. Dies hat auch Auswirkungen auf die Form des Textes als solcher, wie die Autorin deutlich macht: „Die scheinbar so klare leitmotivische Anlage des Zarathustra wird derart im Text selbst unterlaufen“ (84). Es folgt ein Beitrag des Autors dieser Rezension, in dem bezüglich Nietzsches Musikästhetik eine Linie von Beethoven über Wagner bis Gustav Mahler und Arnold Schönberg gezogen wird, bevor Renate Reschke anhand eines Nietzsche-Porträts des Künstlers Jens Flämig von 1987 den dionysischen Aspekt in Nietzsches Musikverständnis in den Mittelpunkt rückt.

Im zweiten Teil folgen die Beiträge zu einer Nietzsche-Werkstatt in Schulpforta, denen ein Buch von Christoph König über Nietzsches Zarathustra und die Dionysos-Dithyramben zugrunde lag.[1] König selbst ist dabei mit einem Kapitel aus seinem Buch vertreten, in dem er Nietzsches siebten Dithyrambus Klage der Ariadne auslegt und damit eine von Wolfgang Groddeck abweichende Lesart anbietet.[2] So wird das Gedicht als Ausdruck einer Denkform begriffen, das die „Reflexion als ästhetische Erfahrung“ (211) präsentiert und sich damit selbst zum Inhalt macht. Dieser Aspekt wird in weiteren Beiträgen ausgefaltet, etwa auch in dem von Jann D. Benschneider, der im Vorgang der Resemantisierung eine Abkehr von der philosophischen Interpretation der Werke Nietzsches sieht zugunsten einer Selbstreferentialität von Sprache. Der Autor setzt sich von Groddecks Interpretation des letzten Dithyrambus Von der Armut des Reichsten ab.[3] Seine Kritik, Groddeck interpretiere „Wahrheit“ als philosophischen Begriff (226), geht aber in einer Hinsicht fehl, denn die von Groddeck als „Musik“ identifizierte „Wahrheit“ negiert ein philosophisches Verständnis des Wahrheitsbegriffs. Wenn also von Philosophie im Gedicht die Rede ist, dann allenfalls in der reflexiven Negation, die Groddeck als „musikalisch“ konnotiert sieht, lässt sich die Musik doch als nicht-philosophisches, weil nicht-begriffliches Zeichensystem nicht vor den Karren universeller Bedeutungsformeln spannen.

Weitere Beiträge in Teil drei dieses Bandes sind von detektivischem Spürsinn getragen (so geht Catarina Caetano da Rosa der Frage nach, welche rezeptionsgeschichtliche Folge die von einem Buchbinder gewählte Makulatur für den Buchdeckel eines Probedrucks von Nietzsches Dionysos-Dithyramben haben könnten) und untersuchen Nietzsches Relevanz für die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Kunst. Dabei unterstreicht Barbara Straka: „Nietzsche war, ist und bleibt ein Thema für die Kunst“ (290).

3. Die Beiträge im Band Nietzsches Antike. Beiträge zur Altphilologie und Musik beruhen auf Vorträgen der in New York lehrenden Philosophin Babette Babich. Sie erneuert darin ihre Beobachtung, dass Nietzsche bezüglich der quantitierenden Rhythmik „einen bedeutsamen Beitrag zu unserem allgemeinen Wissen über die Aussprache des Altgriechischen geleistet“ (25) habe. Gleichwohl werde Nietzsche seinen negativen Ruf, den er sich in Philologenkreisen mit der Geburt der Tragödie eingehandelt habe, nicht los. So seien die Wissenschaftler bis heute „weit davon entfernt, Nietzsche als Altphilologen ernst zu nehmen, und betrachten ihn lieber als gescheiterten Philologen“ (29). Demgegenüber stellt Babich fest: „Nietzsche hat uns als Altphilologe eine Menge zu sagen, doch was er zu sagen hat, ist äußerst kompliziert.“ Dies findet man in den Texten und Vorträgen der Autorin, die sich abermals um eine Rehabilitierung des Philologen Friedrich Nietzsche bemüht, durchaus bestätigt. Denn die quantitierende Rhythmik im Altgriechischen ist mit unserem Sprachverständnis kaum oder gar nicht nachvollziehbar. Theoretische Beschreibungen helfen da auch wenig; gleichwohl hat Nietzsches „Entdeckung der Musik der Worte in der altgriechischen Dichtung“ (59) seine literarisch-musikästhetischen Auffassungen unzweifelhaft geprägt. So zitiert Babich Nietzsche selbst, der es für „das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik“ gehalten habe, dass die Alten „die Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit dem Musiker“ (GT 5, KSA 1.43) überall als natürlich voraussetzten (66). Ferner geht Babich auf die Bedeutung ein, die antike Dichter wie Archilochos, Empedokles oder Lukian auf Nietzsche, etwa auch auf seine zentrale literarische Figur des Zarathustra, ausgeübt haben. Auch die kosmologische Theorie Epikurs hat ihre Spuren bei Nietzsche hinterlassen, wie die Autorin nachweist. Nietzsches Denken sei epikureisch etwa in der Hinsicht, dass das wissenschaftliche Paradigma im grundsätzlichen Zweifel bestehe. Gründlich arbeitet sie Nietzsches Beiträge zur Rolle der Wissenschaft heraus; so gehe Nietzsches kritisches Denken weiter als die Aufklärung, indem es sich in aller Konsequenz auch gegen sich selbst richte. Dieser Stachel sitzt tief, und er lässt auch die Kunst nicht als Trostpflaster zu, schon gar nicht in Form einer „Lebenskunst“, wie Babich insinuiert, als sei die „Kunst des Lebens“ in Verbindung mit der Wissenschaft als „tiefste Errungenschaft“ Nietzsches zu würdigen (284). Eher trifft das Bild vom „Seiltänzer ohne Netz“ zu, das Babich zeichnet (287). Bezüglich der ästhetischen Auffassungen Nietzsches betont sie unterdessen mit Recht die erhebliche Bedeutung Beethovens und zieht eine Linie bis Schönbergs „‚Emanzipation der Dissonanz‘“ (235). Nietzsches Antike, so der Titel des vorliegenden Bandes, beschränkt sich damit nicht auf Bezüge zum Altgriechischen; doch ohne die tiefe Kenntnis der Antike lässt sich Nietzsches Denken und Schreiben nicht wirklich ergründen. Mag dies inzwischen auch ein Allgemeinplatz sein, so ist der Sachverhalt doch von bleibender Aktualität.

4. Das Buch La gioia sovrana. Nietzsche e la musica come filosofia hat ein Praktiker und Liebhaber geschrieben. Einer, der die Musik aus nächster Nähe kennt und erlebt: Bruno Dal Bon ist Mailänder Orchesterleiter und Operndirigent. Sein Blick auf Nietzsche ist weniger von dem Interesse geleitet, dessen ästhetische Reflexionen bezüglich der Bedeutung der Musik unter den Künsten zu ergründen. Infolgedessen befasst sich der Autor mit dem kompositorischen Werk Nietzsches, dem er, bei aller Orientierung an dem Romantiker Robert Schumann, eine gewisse Kühnheit, Experimentierlust und Improvisationsgabe attestiert. Dass Nietzsche als Komponist gestümpert habe, wie ihm professionelle Zeitgenossen bescheinigt haben, folgert Dal Bon nicht. Stattdessen würdigt er Nietzsches Kompositionsversuche wohlwollend, ebenso dessen Beiträge über die Entwicklung der griechisch-antiken quantitierenden Metrik zur akzentuierenden. Von da ausgehend betrachtet der Autor die Bedeutung, die Nietzsche dem Rhythmus und dem Tanz zuschreibt, sowie dessen Ablehnung von Wagners Musik. Diesbezügliche Ambivalenzen und Differenzen macht Dal Bon bereits in den frühen Schriften Nietzsches aus. Der narkotische Reiz, den Wagners Oper Tristan und Isolde (1865) auf Nietzsche einst ausgeübt hat, wird von diesem denn auch mit einer Mischung aus Faszination und Selbstkritik bedacht. Seine Beziehung zu Wagner sei im Grunde genommen von Beginn an von „tiefem Unbehagen“ (67) begleitet gewesen, meint Dal Bon, was sich an Nietzsches frühen Schriften in der Tat nachweisen lässt, wenn auch nicht immer in dezidierter Deutlichkeit und stattdessen häufig verschlüsselt.

Aber schon in der Geburt der Tragödie, die Nietzsche als Hommage an Wagner verstand und in der er seine ästhetischen Positionen bezüglich der kategorischen Unterschiedlichkeit von Wort und Musik zugrunde legt, lassen sich Diskrepanzen zu Wagners in dessen musikalischen Dramen realisierter Ästhetik erkennen, die konstitutiven Charakter haben und auf miteinander unvereinbare Standpunkte zulaufen – beispielsweise in der kritischen Betrachtung des Rezitativs in der Oper, das Nietzsche als unnatürlichen „Halbgesang“ (GT 19, KSA 1.121) zurückweist. Jene „Stilvermischung“ (KSA 1.126) wird für sakrosankt erklärt, da sie „die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet“. Noch wird in der Geburt der Tragödie die „deutsche Musik“ (GT 19, KSA 1.127), wird Richard Wagner dagegen für das „Erwachen des dionysischen Geistes“ in Anspruch genommen. Eine Position, die Nietzsche später radikal in ihr Gegenteil wendet. Der Grund liegt in der aus seiner Sicht kritikwürdigen Unterordnung der Musik unter den Gedanken, unter das Wort. Nietzsches Entdeckung der „südlichen“ Musik, die er als Antidot zur schweren „nördlichen“ – speziell Wagners – Musik schätzt, führt ihn unter anderem zur Musik italienischer und französischer Komponisten.

Wie sehr Nietzsche dem Genre der Operette zugeneigt war, macht Bruno Dal Bon deutlich, indem er vor allem Briefe Nietzsches auswertet. Die Tiefgründigkeit dieser Musik sucht Nietzsche just in deren Oberflächlichkeit; so wie Nietzsche die Auffassung vertrat, dass die vermeintliche Oberflächlichkeit der griechischen Antike in Wahrheit ein Ausweis von Tiefgründigkeit war.[4] Den Geist der Leichtigkeit, der Ironie, der Satire und der Parodie, den Nietzsche an der südlichen Musik schätzt, überträgt sich auf sein Denken und Schreiben. Vor allem an Nietzsches Bevorzugung der Operette lässt sich mit Bruno Dal Bon zeigen, was Nietzsche meinte, wenn er die Musik als Entlastung von der Tragödie des Lebens bezeichnete.

Den unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Sinnperspektiven, die an Nietzsche herangetragen werden, scheinen auch mit Blick auf die Bedeutung der Musik, die sich in seinen Texten niederschlägt, keine Grenzen gesetzt. Dabei kristallisieren sich mindestens vier Schwerpunkte heraus, wie sich auch an den hier vorgestellten Publikationen zeigt:

  1. Nietzsches Bezugnahmen auf die quantitierende Rhythmik der griechischen Antike als Ausgangspunkt für seine Untersuchungen über das dialektische Verhältnis von Sprache und Musik.

  2. Ein Interpretationsansatz, der von einer literarischen Analogisierung musikalischer Phänomene ausgeht, wie sie in Nietzsches Texten realisiert sei.

  3. Die Auffassung, dass Nietzsches auf die Musik bezogene Positionen in erster Linie ästhetisch-philosophisch zu deuten seien.

  4. Verbindungen, die zwischen Nietzsches kompositorischem Musikwerk und seinen literarischen Werken hergestellt werden.

Vor diesem komplexen Hintergrund erscheint es ratsam, jeden dieser Aspekte nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern als Kriterien, die erst in der Gesamtschau wenigstens ein skizzenhaftes Bild davon ergeben können, welchen ästhetischen Rang Nietzsche der Musik als Verfasser literarischer Texte zuweist und welche Auswirkungen dies wiederum auf das Verständnis dieser Texte hat. Der Umstand, dass sich Nietzsche hierüber in einem ausschließlich literarischen Kontext äußert, den er gegen andere ästhetische – auch musikalische – Milieus absichert, lässt es allerdings geboten erscheinen, das literarische und das musikkompositorische Werk grundsätzlich als zwei voneinander getrennte Kategorien zu betrachten. Wenn diese auch nicht ohne wechselseitige Bezüge sind, so ist doch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Nietzsches literarische Musikästhetik als das betrachtet werden will, was sie ist: eine Darstellung dessen, was sprachlich möglich ist – und auf welche Weise diese Möglichkeiten an ihre Grenzen stoßen.

Literaturverzeichnis

Groddeck, Wolfram: „Die Wahrheit im Dithyrambus. Zu Nietzsches Dionysos-Dithyramben“, in: Christian Benne / Claus Zittel (Hg.), Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, 317–33010.1007/978-3-476-05596-5_22Search in Google Scholar

Groddeck, Wolfram: Friedrich Nietzsche. „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, Berlin 1991Search in Google Scholar

König, Christoph: Zweite Autorschaft. Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und „Dionysos-Dithyramben“, Göttingen 202110.5771/9783835346048Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-12-06
Erschienen im Druck: 2024-09-25

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 14.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nietzstu-2023-0031/html
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