Abstract
Nietzsche’s Hermeneutics of Loneliness. Transformations in the Labyrinth of Truth. This article delves into Nietzsche’s intricate exploration of solitude and its multifaceted manifestations in Thus Spoke Zarathustra. By distinguishing between various instances of solitude experienced by Zarathustra, including his initial journey, recurring returns, and dreamt solitude, the study unveils the creative nature of his solitude. Unlike the ascetic pursuit of transcendent truth, Nietzsche reevaluates solitude, highlighting its eternal ambiguity and challenging the notion of a fixed self or ultimate truth attainable through isolation. The hermeneutics of solitude in Nietzsche’s philosophy illustrates how perspectives and self-interpretation intertwine, shaping one’s experience within the labyrinth of truth. The article further examines the intimate relationship between solitude and perspective, emphasizing that genuine solitude emerges only through communication. Through a comprehensive analysis of shame as a mirror-motif of solitude, this study underscores the inherent connection among these concepts, rooted in the dynamics of human communication and self-revelation. It concludes that one’s position toward truth is fundamentally linked to one’s role as an interpreter and something interpreted, offering insights into the complexities of human existence and self-understanding.
D’un écrivain et de son œuvre, on peut au moins savoir ceci: l’un et l’autre marchent ensemble dans le labyrinthe le plus parfait qu’on puisse imaginer, une longue route circulaire, où leur destination se confond avec leur origine: la solitude.[1]
Im Schatten Nietzsches zu stehen, ist das Schicksal aller Hermeneutik, denn seine Schriften thematisieren und interpretieren den für die Moderne typischen Bruch in der Hermeneutik.[2] Hermeneutik legt nicht mehr nur einen Text oder einen Gegenstand aus, sondern jede Interpretation ist gleichzeitig auch eine Selbstinterpretation und -subjektivation und die damit einhergehende Transformation der Perspektivität der Wirklichkeit.[3] Nietzsche kartographiert dieses, wie er es nennt, „Labyrinth der modernen Seele“ (WA, Vorwort). Dieses Labyrinth führt durch verschiedene Einsamkeiten und legt jene Formen der Subjektivation des Selbst offen, welche dieses als das bestimmen, was es je durch seine gegebene Perspektivität ist. Das Thema der Interpretation und Perspektivität soll an dieser Stelle vor allem anhand des Motivs der Einsamkeiten Zarathustras verfolgt werden, mit ständigem Seitenblick auf jene Schriften Nietzsches, die diese Einsamkeiten und sich selbst interpretieren, reinterpretieren und neuinterpretieren.[4]
Nietzsche bestimmt seine Leser: „Wohlan! Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser, meine vorherbestimmten Leser“ (AC, Vorwort).[5] Die Bestimmung der Leser ist eine Form der Subjektivierung: Indem der Zugang zum Text thematisiert wird, wird gleichsam der Leser als ein bestimmtes Subjekt konturiert. Es handelt sich um eine Lese(r)anweisung, mit der Nietzsche offenlegt, wie er sich als Leser seiner Texte versteht: „Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; den Muth zum Verbotenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten“ (AC, Vorwort).
Durch das Labyrinth leitet die Einsamkeit, da sich hier eine spezifische Problematik der Hermeneutik enthüllt, mit der sich Nietzsche beschäftigt. Die Interpretation erlebt eine Form des Alleinseins, die sich nicht feststellen lässt: Die Interpretationshandlung ist auf sich gestellt. Ohne einen festen Referenzpunkt oder ein Maß der Wahrheit zu haben, ist die Fragwürdigkeit – jene Vorliebe für Fragen – der einzige Ariadnefaden durch das Labyrinth. Was damit dem Leser jedoch aufgegeben ist, ist ein Verstehen, für das es keinen Maßstab geben kann. Die Frage, das Rätsel, welches sich beim Durchschreiten des Labyrinths vollzieht, das Schicksal, mit dem Nietzsche streitet, ist, ob die Einsamkeit – jene „Erfahrung aus sieben Einsamkeiten“ (AC, Vorwort) – noch unterscheidbar ist von der Verlassenheit der Welt von jedwedem festen Fundament. Es ist die Einsamkeit, in der der Mensch Hoheit und Sicherheit über die Interpretation und damit über sich selbst sucht und die Verlassenheit von jedwedem Garanten dieser Sicherheit gleichsam erfährt. So existiert ein enges Band zwischen Einsamkeit und Hermeneutik, welches das Werk Nietzsches und insbesondere Also sprach Zarathustra (1883–85) durchwebt: Der Anker jeder Sicherheit, welcher einst in das Subjekt gelegt wurde,[6] wird in der Einsamkeit, wo er am isolierbarsten und somit am sichersten schien, in Frage gestellt. Damit erscheint anhand des Motivs der Einsamkeit gerade die grundlegende Funktion der Hermeneutik bei Nietzsche: Sie legt das Selbst aus und sie interpretiert die diskursiven Zusammenhänge, in welche das Selbst eingeschrieben ist.
I Die Einsamkeiten Zarathustras
Paradigmatisch stellt sich die Einsamkeit in Also sprach Zarathustra dar. Der Untergang Zarathustras beginnt in der Einsamkeit, und im Verlauf des Buches kehrt er immer wieder in die Einsamkeit zurück. Dabei ist es programmatisch, dass die Einsamkeit nicht greifbar ist, weil sich die Perspektive, unter der sie in den Blick kommt, bei jedem Durchgang verändert. Es gibt keine feststellbare Einsamkeit, sondern ihr Wesen ist die Metamorphose. Zwar wiederholt Nietzsche das Motiv der „letzten“ oder der „siebten“ Einsamkeit – beides Motive einer vollendeten Einsamkeit –, doch führt kein Weg Zarathustras in diese hinein, und keine Mitteilung vermag es, diese preiszugeben.
Dabei gilt es, zwischen Zarathustras Wegen in der Einsamkeit als deren narrativer Entfaltung und den erzählten Mitteilungen über die Einsamkeit zu unterscheiden. Zarathustra beginnt seinen Weg in der Einsamkeit (Za I, Zarathustra’s Vorrede) und kehrt mehrfach in die Einsamkeit zurück (Za II, Das Kind mit dem Spiegel; Die stillste Stunde; Za III, Der Wanderer). Zarathustra betont wiederholt die Besonderheit der Einkehr in die „letzte“ Einsamkeit, ebenso wie die Heimkehr in die Einsamkeit überhaupt (Za III, Die Heimkehr). Doch sind die Wege, bzw. das Motiv der Rückkehr in die Einsamkeit, nicht die einzigen Erwähnungen der Einsamkeit im Zarathustra. Zarathustra kann vom „Frost der Einsamkeit“ (Za I, Vom Baum am Berge, KSA 4.52) berichten, die Empfehlung des Weges in die Einsamkeit einem Freund gegenüber aussprechen (Za I, Von den Fliegen des Marktes) oder die Sehnsucht nach der Einsamkeit, die selbst als Phänomen der Einsamkeit zu verstehen ist, im Nachtlied besingen (Za II, Das Nachtlied). Auf der Ebene der Selbstinterpretation bringt dabei ein Nachlass-Notat das Nachtlied in einen direkten Bezug zu den sieben Einsamkeiten: Die Rolle des Gesangs als ein auszudeutender Akt der Selbst-Kommunikation wird in der später verworfenen Notiz angedeutet, die eventuell den vierten Teil des Zarathustra als Gedichtsammlung eingeleitet hätte: „Dies sind die Lieder Zarathustras, welche er sich selber zusang, daß er seine letzte Einsamkeit ertrüge“ (Nachlass 1884/85, 29[8], KSA 11.339).
Diese letzte Einsamkeit, ob man sie nun mit der siebten Einsamkeit identifiziert oder nicht, scheint im Zarathustra unerreichbar zu sein.[7] Einsamkeit wird weder „durch Kommunikation […] oder durch Schaffen des Übermenschen“ überwunden, wie Claus Zittel bemerkt.[8] Die Einsamkeiten, die entfaltet werden, beschreiben vielmehr einen Weg voller Kehren, der ständig aufs Neue gegangen werden muss: Entweder handelt es sich um die Heimkehr in die Einsamkeit oder die Rückkehr zu den Menschen. Diese Bewegungen werden entweder narrativ entfaltet oder besprochen. Der beschriebene oder besprochene Weg ist dabei jeweils ein Weg der Mitteilung – einer Mitteilung zwar, aber keiner, die sich im propositionalen Gehalt von Sätzen erschöpfen ließe. Die Metamorphosen der Einsamkeit werden durch die Wege der Mitteilung entfaltet. Dies deutet bereits das grundsätzliche Verhältnis von Einsamkeit und Hermeneutik im Zarathustra an. Denn insofern die Hermeneutik eine Hermeneutik des Selbst und/in der Selbst-Mitteilung ist, wird durch die Mitteilung der Weg im Zwischen dieser Distanz nachgezeichnet.
Zeichnet man die Metamorphosen auf dem Weg durch das Labyrinth der Einsamkeiten nach, ergibt sich folglich kein kohärentes Bild der Einsamkeit, sondern es stehen sich verschiedene Wertungen durchaus widersprüchlich gegenüber. Grundsätzlich ist die Einsamkeit eine bestimmte Untermannigfaltigkeit des Alleinseins, die von Nietzsche explizit von zwei anderen Formen des Alleinseins unterschieden wird: der Verlassenheit (vgl. Za III, Die Heimkehr) und der Vereinsamung (vgl. Za I, Vom Wege des Schaffenden). Während mit der Verlassenheit der privative Modus des Alleinseins als Abwesenheit von anderen beschrieben wird, die den Alleinseienden hemmt, spiegelt sich in der Vereinsamung die bestimmende Macht der Gesellschaft, die den Vereinsamten ebenfalls nicht in die, der Einsamkeit eigene, Produktivität entlässt, sondern auf eine gewisse Weise feststellt, zu einem Positum macht. Die „wahre“ Einsamkeit bei Nietzsche ist immer eine schaffende Einsamkeit.[9] Sie stellt eine Distanz zur Welt her und wird weder von der Welt beherrscht (Vereinsamung) noch von dieser vergessen (Verlassenheit). Was sie zur „wahren“ Einsamkeit macht, ist diese sich schaffende Distanz, durch die die Unbeständigkeit jedweder Wahrheit aufgedeckt und damit der Beständigkeit aller Werte entsagt wird. Sie ist damit schaffend im gleichen Sinne, wie sie entsichernd ist. Sie gibt einen Einblick in den grundsätzlichen Charakter der Welt – und der Wahrheit – als wandelbare.
II Ausgewählte Stationen auf dem Weg durch die Einsamkeit
Der Weg durch dieses Labyrinth der Einsamkeit soll im Folgenden anhand einiger Stationen auf Zarathustras Reise verfolgt werden. Dramaturgisch imposant eröffnet Nietzsche seinen Zarathustra mit der ersten Einsamkeit und bereitet so die Szene der Interpretation. Wie in der Vorrede des Antichrist (1888/1895) wird damit auch der Leser mitinszeniert. Die Einsamkeit wird bestimmt durch den Kontrast eines Perspektivenwechsels – aus der Heimat und weg vom See der Heimat auf den Berg der Einsamkeit: „Als Zarathustra dreissig Jahre als war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde“ (Za I, Zarathustra’s Vorrede 1).
Dieser Auftakt beinhaltet alles, was man einem prototypischen Dichterphilosophen zur Zeit Nietzsches zuschrieb und von ihm erwartete – eine Gestalt, in der sich Nietzsche gerne selbst stilisierte, mit der Muse Einsamkeit an seiner Seite: der Individualismus und die Rückgezogenheit, in der Künstler und Philosophen nicht „auf ein „Publikum“, auf Beifall der Massen“ (PHG 8, KSA 1.833)[10] angewiesen sind. In Ecce homo (1888) interpretiert Nietzsche die Eröffnung des Zarathustra. Die Perspektive, durch die Nietzsche hier sein eigenes Werk auslegt, unterstreicht diese scheinbare Nähe zum Geniegedanken:[11] „[I]ch habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft … Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit“ (EH, Warum ich so weise bin 8).
In der „Rückkehr zu mir“ spricht der Geist Schopenhauers, demzufolge das Selbstsein die Einsamkeit braucht.[12] Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch an dieser Stelle gerade der fundamentale Unterschied zwischen Nietzsche und seinem Lehrer. Denn anders als bei Schopenhauer gibt es bei der Rückkehr, von der Nietzsche spricht, kein Ziel, wohin man zurückkehren könnte. Das Selbst ist ihm keine Gegebenheit, sondern nur als Frage geben. Der Berg Zarathustras markiert diese Ferne und diese Fremde der „Rückkehr“ zu „mir“: „Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! […] Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und erlebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein“ (EH, Vorwort 3).
Nicht das Feststellbare, sondern die Fragwürdigkeit scheint in der Einsamkeit auf. Damit ist der Zusammenhang von Einsamkeit und Hermeneutik berührt: Die Einsamkeit stellt etwas in Frage, und was sie in Frage stellt, ist nichts Geringeres als die Wahrheit. So gibt es eine intime Beziehung zwischen Einsamkeit und Wahrheit. Die Differenz, die Nietzsche dabei in seine Wiederholung des Motivs der Einsamkeit einzeichnet, zeigt sich insbesondere an der Abgrenzung vom asketischen Ideal, das in der klassischen Bestimmung des Genius gegenwärtig ist und in der Wahrheitssuche der Wissenschaft fortwirkt.[13] Diese Einsamkeit hat ihren Ursprung in der Mystik, in der die innere – jedoch nicht notwendig die äußere – Einsamkeit die Voraussetzung für das Einfließen Gottes in die Seele zur unificatio darstellt (purgatio – illuminatio – unio). Dabei ist die Einsamkeit immer beides: Zustand der Leere und gleichzeitig Zustand der größten (Er-)Füllung. Die Erfüllung ist der Anteil an der Wahrheit, die sich allein in der unio einstellt. Wie der Asket in die Wüste, die Einöde oder auf eine Säule zieht, um – von der profanen Alltagserfahrung befreit – eine ungetrübte Erfahrung Gottes zu erlangen, sucht auch das Genie die Einsamkeit, um das zu sein, was es in Wahrheit ist. Dies dehnt sich etwa bei Wilhelm von Humboldt auf die Bedingung der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung aus: Nur in der Einsamkeit macht sich der Wissenschaftler frei von allen Autoritäten und den Zwecksetzungen, die der Wahrheit im Wege stehen.[14]
Dem Asketen, dem Genie und dem Wissenschaftler liegt für Nietzsche eine aus dem asketischen Ideal entspringende „Überschätzung der Wahrheit“ (GM III 25, KSA 5.402) zugrunde. Das asketische Ideal – selbst im Singular – hat eine Mannigfaltigkeit von Gestalten, in der es auftritt. Diese haben für Nietzsche alle eine Verneinung des irdischen Lebens gemein.[15] Ob die Einsamkeit damit zur Voraussetzung gemacht wird, die durch den Blick Gottes verbürgte Wahrheit zu erfahren, das wahre Selbstsein zu erreichen, oder ob sie die Erkenntnisbedingung der wissenschaftlichen Wahrheit ist, immer liegt die Vorstellung zugrunde, dass – wenn die Hüllen und Verhüllungen einmal abgeworfen sind – sich die nackte Wahrheit, gewissermaßen als Residuum einer Reduktion, zeigt.[16] Die Identifikation der Rückkehr in die Einsamkeit der Erkenntnis ist von der Existenz eines Einheitspunktes geleitet, welcher die verschiedenen Perspektiven zusammenbindet, doch gerade jene Einheit ist es, die Nietzsche als einen Fehlschluss anprangert. Dort, wo ein Einheitspunkt das Selbst zusammenhalten sollte, offenbart sich vielmehr: Nichts.
Wenn Nietzsche den Blick nicht auf das Enthüllte, sondern auf die fallengelassenen Hüllen lenkt, macht er darauf aufmerksam, dass selbst diese vermeintlich nackte Wahrheit sich nicht ihren Konstitutionsbedingungen entziehen kann. In Jenseits von Gut und Böse (1886) beschreibt Nietzsche diesen Versuch, die Unabhängigkeit von Autoritäten und die Freiheit in der Einsamkeit zu erhaschen. Wer dies versucht, „[b]egiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird“ (JGB 29).[17]
Das Labyrinth der Wahrheit ersetzt die platonische Höhle und ist beheimatet von jenem Höhlen-Minotaurus, der den Einsamen auffrisst.[18] Sein Gebiss ist aus dem Gewissen gemacht, das die Einverseelung des asketischen Ideals inkarniert und die Postulierung einer Wahrheit jenseits der Welt in die Hüllen der Moral einkleidet (vgl. GM II 1). Die Kleidung und die Moral, mit der die Europäer ihre Nacktheit verhüllen, sind Ausdruck der Angst davor, nicht die zu sein, die sie sein könnten. In der Form der Einsamkeit erscheint das Alleinsein deswegen als Schuld: „„Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung ist Schuld“: also spricht die Heerde […]. Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn du sagen wirst „ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch“, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein“ (Za I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4.80).
Gegenüber Schopenhauer lässt sich damit Nietzsches Abgrenzung vom Geniegedanken nachzeichnen, indem er versucht, die schöpferische Einsamkeit von ihrer Verhaftung im asketischen Ideal zu befreien.[19] In der Wahrheit zu stehen, bedeutet weder am Blick Gottes auf die Welt teilzuhaben noch, dass es in der Einsamkeit ein Selbstsein als Garant für die Wahrheit gäbe. Dort, wo die „letzte“, die „siebte“ Einsamkeit stehen sollte, findet sich keine beständige Bleibe, sondern nur ein weiterer Weg. – In Bezug auf den Nietzsche-Interpreten Martin Heidegger kann man dies noch genauer profilieren, denn es bedeutet ferner, dass es auch nichts von der Art einer „Eigentlichkeit“ gibt. – Im Zarathustra ist die Einsamkeit stets von einer Ambivalenz begleitet, die sie nicht abzulegen vermag: Sie ist nichts an sich Positives und nichts an sich Privatives; es gilt sie zu ertragen, mit der Gefahr, von ihr in die Tiefe gezogen zu werden.[20]
Nietzsche nimmt der Einsamkeit jenes asketische Ideal, das einen Bezug zur Wahrheit herstellen sollte, und setzt an die Stelle der ewigen Wahrheit ihre immerwährende Fragwürdigkeit. Damit wird der Interpretation die letzte Autorität auf Richtigkeit und auf Wahrheit genommen. Die Einsamkeit ist so entgegen der idealistisch-romantischen Auffassung gerade nicht Ankerpunkt der Wahrheit, sondern der Angelpunkt der fortschreitenden Aufgabe der (Selbst-)Hermeneutik.
III Einsamkeit und Perspektivität
Was das Alleinsein der Einsamkeit auszeichnet, ist die Distanz, die die Mitteilung in sie einschreibt. Charakteristisch ist bereits zur Eröffnung des Zarathustra nicht die Entfernung aus der Heimat und damit von den Stimmen und geprägten Perspektiven der Alltäglichkeit, sondern ihre Verbindung zur Mitteilung. Es gibt keinen Grund, aus dem sich der Einsame mitteilen muss, vielmehr ist nur in der Mitteilung der Einsame einsam. Die Mitteilung ist das principium individuationis, welches die Einsamkeit enthüllt. Insofern dem Subjekt keine Subjektivität an sich zukommt, ist es strenggenommen auch nicht jenseits der Enthüllung. Einsamkeit entsteht erst durch die in der Kommunikation sich schaffende Distanz. Aus diesem Grund grenzt Nietzsche die Einsamkeit von den beiden anderen Formen des Alleinseins ab, von der Vereinsamung und von der Verlassenheit, ohne die Einsamkeit hierbei selbst eindeutig zu definieren. Sie ist nicht die Entfernung aus dem Vertrauten, sie ist nicht privativ, es gibt sie nur im Mitteilen, und nur im Mitteilen ist sie gebend und bestimmt sich nicht aus dem Genommenen. Aber sie ist auch nicht positiv in dem Sinne, dass sie etwas von sich geben würde. Sie setzt nichts, stellt nichts dar, sondern ist immer gesetzt und darum Ausdruck der Perspektivierung des Menschen als Mensch. Im Folgenden gilt es zu zeigen, wie das Verhältnis von Einsamkeit und Mitteilung im Zarathustra konturiert wird.
Obgleich Nietzsche an dieser Stelle den Geist des Genius nicht abzustreifen vermag, es vermutlich auch nicht will, wenn er wieder und wieder betont, dass hier etwas Schaffendes wirkt, das sich geben möchte, liegt die tiefere Einsicht – und dies in Kritik an Nietzsche mit Nietzsche – darin, dass es sich um eine medio-passive Erfahrung handelt. Diese Stimmen sprechen auch im Zarathustra – vor allem, wie sich im übernächsten Abschnitt zeigen wird, indem diese Stimmen durch Zarathustra sprechen. Es ist Zarathustras Untergang, dass er sich unter die Menschen begibt, um sich mitzuteilen und darin Mensch zu werden. Mitteilung und Einsamkeit stehen so in einem Verhältnis der wechselseitigen Selbst-Erschließung. Erst in der Mitteilung zeigt sich die Fragwürdigkeit des Selbst und lässt dadurch die Einsamkeit als Raum der Entzogenheit des Selbst aufscheinen. Die wiederholte Rückkehr Zarathustras in die Einsamkeit verweist darauf, dass auch dort kein „eigentliches Selbst“ zu finden ist. Dies bedeutet auch, dass Nietzsche keinen transzendentalen Rückschluss auf ein Selbst in einer erreichbaren „letzten“ Einsamkeit zulässt. Das Selbst gibt sich nur im Modus der Mitteilung als etwas konstitutiv Entzogenes. Es ist ein Dividuum, und es gibt kein ihm zugrundeliegendes Dividendum, welches das Individuum im Wesen ausmachte.[21] Zarathustra beginnt darum nicht in einem festen Selbstsein, das er in der Einsamkeit erlangt hat, sondern gibt sich erstmals in der Mitteilung: „Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden“ (Za I, Zarathustra’s Vorrede 1).
So wird das Selbst, das in der Einsamkeit nicht gewonnen werden konnte, in der Mitteilung auf die Probe gestellt. Anders als die Einsamkeit der Wüste und Einöde, der der Asket ausgesetzt ist, besteht die Probe und Bewährung nicht im Aushalten der Einsamkeit, sondern in der Mitteilung. Diese Wendung, die für die Einsamkeit Zarathustras charakteristisch ist, bedeutet darum gerade eine Liebe und Treue zur Erde, wie sie Zarathustra benennt und predigt (vgl. Za I, Von den schenkenden Tugenden 2),[22] nicht aber eine Treue zu sich selbst. Diesen Punkt kann man exemplarisch gegen die Interpretation Heideggers zu Felde führen, der den Ort der Probe somit am verkehrten Ende ansetzt, wenn er schreibt: „Die einsamste Einsamkeit aushalten […] heißt, die Kraft besitzen […] sich selber treu zu bleiben.“[23] Zwar lässt sich auch die Frage nach dem Selbst, dem „Ich“ bei Heidegger – insbesondere im Gewissenskapitel von Sein und Zeit (1927) –, als konstitutive Infragestellung begreifen, jedoch ohne dieselbe Radikalität der Entsicherung in der Mitteilung zu denken.[24] Der Ruf des Gewissens mag zwar eine Selbstmitteilung (der Strukturganzheit der Existenzialien) sein, aber das Solioquium des Daseins bleibt – anders als durch das konstitutive Scheitern bei Nietzsche – durch eine quasi-transzendentale Sicherheit der Feststellung des Infragesgestelltseins geprägt. Das Problem der Deutung Heideggers ist, dass das Selbst, dem der Einsame treu bleiben könnte, in der Einsamkeit selbst nicht erscheint, sondern es und die Einsamkeit erscheinen erst in der Selbst-Mitteilung. Dies bedeutet jedoch auch eine andere Wendung der praktischen Dimension der Hermeneutik als bei Gadamer, insofern der Fokus nicht darauf gelegt wird, dass jedes Verstehen auch ein Selbstverstehen ist, sondern dass jedes Mitteilen immer ein Selbstmitteilen ist.[25] Allein im Wechselspiel mit der Mitteilung entsteht die charakteristische Distanz der Einsamkeit – jene Distanz, die der wahrhaft Einsame heroisch auf sich nimmt –, durch die jene Perspektivierung hervortritt, die das Selbst Selbst sein lässt.[26] Das sich daraus ergebende, konstitutive Nicht-Verstehen zeigt sich demgemäß unmittelbar im Anschluss an die erste Rede Zarathustras, in der er den Übermenschen lehren wollte:[27]
Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. „Da stehen sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie, sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mensch für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen mit den Augen zu hören?“ (Za I, Zarathustra’s Vorrede 5, KSA 4.18)
Das Problem des Verstehens – und damit das Problem der Hermeneutik – scheint dabei nicht an den Ohren zu liegen, die die Lehre des Übermenschen wohl vernommen haben, sondern entscheidend für das Hören ist das Auge. Dieses Motiv wiederholt sich im Zarathustra mehrfach. Exemplarisch lässt sich dies in Von der Erlösung fassen, wo das Ohr als wandelnde Metapher des Mitteilungsproblems auftritt. „Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: „das ist ein Ohr! Ein Ohr so gross wie ein Mensch!““ (Za II, Von der Erlösung, KSA 4.178).
Einem Ohr ohne Augen fehlt die Perspektive. Das Riesenohr und das umstehende Volk nehmen die Worte Zarathustras auf, ohne dass sie diese verstehen könnten. In diesem Sinne ist das Riesenohr ein Esel, der der Lehre blind – ohne Augen also – hinterherläuft: I-A – I-A.[28] Denn Worte zu hören, ja sogar zu bejahen und nachzusprechen, bedeutet bekanntlich nicht, die Augen zu öffnen für die Perspektive, die sie verbergen. Zarathustra möchte Brücken bauen, doch eine unüberbrückbare Kluft bleibt bestehen, in der sich in der größten Nähe die Distanz der Einsamkeit erst gänzlich abzeichnet. In den vorbereitenden Notizen macht Nietzsche das im Zarathustra metaphorisch in ein Riesenohr gefasste Problem explizit:
Ein Einsamer sprach: „ich ging wohl zu den Menschen, aber ich langte niemals an!“ (Nachlass 1883, 12[1]198, KSA 10.400)
Die kleinste Kluft steht zwischen mir und dir: aber wer schlug schon je Brücken über die kleinsten Klüfte! (Nachlass 1883, 10[4], KSA 10.366)
Paradoxerweise ist damit die Einsamkeit letztlich ausschließlich durch die Bezogenheit denkbar. Dabei ist es charakteristisch, dass die Mitteilung gerade im Missverständnis endet – und so auch die Selbstmitteilung nicht im Verstehen mündet. Ausdrücklich wird die Verortung dieses konstitutiven Nicht-Verstehens, wenn in Zarathustras Traum die Einsamkeit stimmlos – es handelt sich schließlich um die stillste Stunde – zu ihm spricht: „Sprich dein Wort und zerbrich!“ (Za II, Die stillste Stunde, KSA 4.188). Im Aussprechen, in der Mitteilung wird der Sprechende zu einem Dividuum.[29] Der Weg in die Einsamkeit führt damit in die Frage nach dem Wer des Selbst – nach der Individualität – hinein: „Und ich [Zarathustra] antwortete: „Ach, ist es mein Wort? Wer bin ich?““ (Za II, Die stillste Stunde, KSA 4.188). Dieses Aufscheinen der Perspektive an der unüberbrückbaren Kluft vertieft Nietzsche anhand der Scham des Erkennenden, die hier geradezu als Spiegelmotiv[30] der Einsamkeit erscheint.
IV Die Scham als Spiegelmotiv der Einsamkeit
Wie die Einsamkeit tritt auch die Scham nur in der Beziehung und aufgrund der Selbstmitteilung auf.[31] In der Scham wird deutlich, woher die Distanz stammt, die die Einsamkeit auszeichnet. Die Einsamkeit möchte hin zum Menschen, doch die Scham trennt. Denn in der Scham zeigt sich, dass nicht die Sprache, die er zur Mitteilung aufwendet, das Spezifikum des Menschen ist. Wenn Nietzsche den Menschen definiert als das „Thier, das rothe Backen hat“ (Za II, Von den Mitleidigen, KSA 4.113), dann nicht, weil es die Scham als konstante Größe wäre, die das Wesen des Menschen ausmachte, sondern weil sich hier das Wandelbare und Unfestgestellte zeigt und darin die Bewegung und das Werden, das er sein kann und sein muss, weil er es immer schon ist. Dieses Motiv – dass die veränderlichen Verhüllungen und die mannigfaltigen Masken das sind, was die persona ins Leben rufen – hatte Nietzsche schon früh bei den Griechen beobachtet: „Die Metamorphosen sind das Spezifische“ (Nachlass 1872/73, 19[115], KSA 7.456).[32] Dieses Motiv wird in der Genealogie der Moral (1887) letztlich ausgeführt: Hier zeigt sich dieser Zusammenhang vor allem dann, wenn sich die Scham an den vermeintlich sicheren Grenzen entfacht, die durch die einverseelte Moral gegeben sind. Letztere ist selbst scheinbar zur „Lösung des Räthsels von Dasein geworden“, indem „dieses Dasein sich seitdem noch beliebige, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt“ (GM III 25, KSA 5.404). Wenn das Selbst erst in der Mitteilung aufscheint, die die Maske ist, welche der Sprecher trägt, und wenn das Wort seine Verkleidung ist, dann macht die Distanz aus, wer er ist. Die Scham bewahrt davor, hinter die Hüllen und Verkleidung vordringen zu wollen.[33] Dies ist die Tugend der Scham, verstanden als die von Nietzsche anvisierte Erkenntnishaltung, dass sie um den Interpretationscharakter der Erkenntnis weiß. Im Nicht-Verstehen tritt die Perspektive des Interpretierenden hervor, die damit erst das Selbst ausmacht, das spricht. Die Scham wahrt diesen perspektivischen Charakter, indem sie nicht versucht, eine letzte Brücke zu bauen und damit aufzudecken, dass es kein sicheres Selbst gab, das sprach, sondern dieses nur aufgrund der Hüllen und der Verhüllung der Interpretation aufgetreten war. Die Scham verleugnet damit nicht die Wirklichkeit, sondern wahrt die Perspektivität und was dadurch verborgen ist und sein will. „Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende: Scham, Scham, Scham – das ist die Geschichte des Menschen“ (Za II, Von den Mitleidigen, KSA 4.113).
Der „Erkennende“ ist dabei nicht als epistemologisch Bestimmter zu fassen, sondern als jener, der die Bestimmung seiner Mitmenschen durch die Scham erkannt hat. Die Geschichte des Menschen ist damit als die Geschichte der sozialen Formung, als eine soziale (und damit: politische) Geschichte gefasst. Das Regiment der Scham, das nach Nietzsche auch durch das Christentum, dem Kreuze in seiner Mitte gleich, aufgerichtet wurde, fällt darum der bekannten Kritik anheim: „Wahrlich, ich mag sie nicht die Barmherzigen […]: zu sehr gebricht es ihnen an Scham“ (Za II, Von den Mitleidigen, KSA 4.113). Doch sei diese Kritik an dieser Stelle zurückgestellt, um Raum zu machen für den Bezug auf die Erkenntnis des Menschen als Tier der Scham: „Gerne verhülle ich mein Haupt und fliehe, bevor ich noch erkannt bin: und also heisse ich euch thun, meine Freunde!“ Denn dass Flucht und Verhüllung Antwort auf die Bedrohung der Scham sind, liegt nicht jenseits der Scham, sondern ist vielmehr deren Ausdruck. Was die Scham aufdeckt, ist das Spiel der Verhüllung, in dem jeder zu jeder Zeit verstrickt ist. Die Bestimmung des Tieres mit seinen roten Backen ist letztlich zwar die Widerlegung der Wahrheit des sozial Gegebenen, aber auch der Beweis für die Gegebenheit der Wahrheit des Sozialen.[34] Die Verhüllung ist dabei der Schutz davor, nicht das Nichts hinter der Hülle zu entdecken. Und so mag die Suche nach dem Selbst vielleicht in die Einsamkeit führen, doch droht dabei aus dem Labyrinth ein Irrgarten zu werden, wenn man erwartet, auf etwas zu stoßen, was formell eine Entsprechung zu jedweder Substantialität des Selbst aufweist.[35]
In dieser Dialektik der Scham zeigt sich die bruchstückhafte Perspektivität, die den Blick Gottes ersetzt – und was für die Selbsterkenntnis gilt, das gilt auch für den Anspruch auf die nackte Wahrheit. Der hässlichste Mensch bringt dies im Zarathustra zum Ausdruck: Es ist die Scham Zarathustras, die ihn ehrt, denn sie möchte nicht alles sehen. Sie möchte vor allem nicht das sehen, wo es nichts zu sehen gibt. – Und es ist wohl kaum zufällig dieselbe Machtstrategie, die – von Nietzsche dem Christentum zugeschrieben – hier hervortritt, wenn es eine Christus-Gestalt ist, von deren schamlosen Mitleid der hässlichste Mensch erzählt: „er kroch in meine schmutzigsten Winkel. […] Er sah immer mich […]. Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen: dieser Gott musste sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt!““ (Za IV, Der hässlichste Mensch, KSA 4.331).[36] Auf humanere Weise achtet Zarathustra demgegenüber den hässlichsten Menschen – angesichts dessen Unaussprechlichkeit (KSA 4.328) –, indem er Scham empfindet: „Jedweder Andere hätte mir sein Almosen zugeworfen […]. Aber […] dazu bin ich zu reich, reich an Grossem, an Furchtbarem, am Hässlichsten, am Unaussprechlichsten! Deine Scham, oh Zarathustra, ehrte mich!“ Die Bitte um den Erhalt der Scham findet sich ähnlich auch in Die fröhliche Wissenschaft (1882–87): „„Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?“ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: „aber ich finde das unanständig“ […]! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat“ (FW, Vorrede 4).[37]
Dabei handelt es sich nun keineswegs um den frommen oder auch nur sittlichen Wunsch eines braven Kindes, sondern es bringt die Konsequenz zum Ausdruck, die den Menschen als Perspektiventier auszeichnet.[38] Er ist ganz sein Interpretiertsein: Wer er ist und was er sieht, hängt von seiner Perspektive ab. Er kann auch nicht hinter die Perspektivität zurück, um diese lückenlos zu beweisen; er blickt nicht beschreibend auf den Diskurs, sondern ist (als) selbst in den Diskurs eingeschrieben.[39]
V Vom Wandel der Wahrheit und der Wahrheit des Wandels
Die Betrachtung der Einsamkeit endet nicht darin, dass diese den Menschen hoffnungslos verloren im Labyrinth der Wahrheit zurücklässt. Indem die Wege Zarathustras diese Einsamkeit kartographieren, ist mehr ausgesagt als das heroische Ertragen der Fundaments- und Wahrheitslosigkeit der Welt. Die Hermeneutik der Einsamkeit ermöglicht es, das Spiel von Distanzen und Perspektiven selbst als wesentlich in den Blick zu nehmen.
In Also sprach Zarathustra wird die Einsamkeit zelebriert, mit Liedern besungen, als die neue Heimat ausgerufen, aber auch als das Gefängnis einer scheinbaren Sicherheit angeprangert. Die Einsamkeit ist dabei das Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses, durch den die Einsamkeit mit dem Selbst nur rückläufig entsteht. Diesem kommen dabei neue Worte, neue Rede und neue Deutungen zu. Wenn Zarathustra in seine „letzte Einsamkeit“, seine „Heimat Einsamkeit“ kehrt, enthüllt sich ihm diese besondere Beziehung von Wort und Sein: „Hier [in der Heimat Einsamkeit] springen mir alles Seins Worte zu und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden lernen. […] Aber da unten – da redet Alles, da wird Alles überhört. […] Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn“ (Za III, Die Heimkehr, KSA 4.232 f.).
In der Einsamkeit kommen neue Worte zu Zarathustra; er gewinnt durch den Blick in die Ferne eine andere Perspektive. Diese liegt aber nicht darin, neue Bedeutungen aus dem Nichts zu schaffen, sondern sie bedeutet vielmehr, die Stimmen Anderer ihrer Sicherheit zu enteignen. Zur Wahrheit gehört immer ihre Perspektive, auf die Nietzsche den Blick lenkt. So steckt in der Bewegung und Transformation selbst etwas Bedeutsames, das eine andere Wahrheit birgt als die der Korrespondenz oder die der Dialektik.[40] Es ist eine gewissermaßen „tragische“ Wahrheit, die selbst ihr Schicksal erleidet, zugrunde zu gehen.[41] Denn es geht nicht darum, sich eine fremde Stimme anzueignen, da jede Aufnahme bereits eine Transformation beinhaltet.
Dies wird im Zarathustra programmatisch umgesetzt: Ob es sich dabei nun um eine Abänderung von biblischen Sentenzen und bekannten Philosophemen im Munde Zarathustras handelt, die selbst immer einen Subtext der Umwertung im Zarathustra weben, oder ob es die ständige Metamorphose des sprechenden Zarathustra und des seinen Namen tragenden Textes ist, die in der immer wiederkehrenden Wiederholung der Worte „Also sprach Zarathustra“ zum Ausdruck kommen – immer ist es eine Transformation, die die Auf- und Übernahme einer fremden Stimme auszeichnet.[42]
Also sprach Zarathustra beginnt in der Einsamkeit. In der Einsamkeit verwandeln sich die Bedeutungen, die an der Perspektivität der Stimme haften: Wenn Nietzsche von der Rede, dem Schweigen und von neuen Wörtern spricht, so wird durch diese die Perspektive Zarathustras in der Einsamkeit transformiert. Die erste Rückkehr in die Einsamkeit erfolgt zu Beginn des zweiten Teils in Das Kind mit dem Spiegel, wo die Transformation, die in der Einsamkeit geschieht, folgendermaßen beschrieben wird: „Zu lange sehnte ich mich und schaute in die Ferne. Zu lange gehörte ich der Einsamkeit: so verlernte ich das Schweigen […]. Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir“ (Za II, Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4.106).
Zarathustra kehrt in die Einsamkeit zurück, um – mit dem Blick in die Ferne und Fremde – eine neue Rede zu gewinnen, die er sich nicht erfindet, sondern die zu ihm kommt. Damit gewinnt das Heroentum des Einsamen eine weitere Ambivalenz: Nicht nur findet er sich nur in der Dialektik von Einsamkeit und Beziehung, Distanz und unüberbrückbarer Kluft der Nähe, sondern auch das, was er als mögliche Mitteilung aus der Fremde erlangt, ist eine Gabe, die nicht ihm entspringt, sondern ihn anspringt.
Die Stimme kann nicht die Seite wechseln, zwischen ihr und ihrer Fremde besteht die kleinste Kluft. So erzählt Zarathustra auf hoher See das Rätsel vom „Gesicht des Einsamsten“: „das Räthsel, das ich sah – das Gesicht des Einsamsten“ (Za III, Vom Gesicht und Räthsel 1). Ein Rätsel, das das Grundproblem von Mitteilung und Einsamkeit aufgreift. Das „Gesicht des Einsamsten“ trägt bereits in sich die Dopplung, dass es sich um das Antlitz des Einsamsten handelt, das als Rätsel gesehen wird, als auch um dasjenige, was der Einsamste sieht. So bestimmt auch das Schweigen des Wesens, mit dem sich Zarathustra unterhält und das halb Zwerg, halb Maulwurf ist, den Komparativ der Einsamkeit: „Drauf schwieg der Zwerg; und das währte lange. Sein Schweigen aber drückte mich; und solchermaassen zu Zwein ist man wahrlich einsamer als zu Einem!“ Der Einsamste wird hingegen durch die Rätselfrage am Ende des sphinxschen Gleichnisses bestimmt: „wer ist, der einst noch kommen muss? Wer ist der Hirt […]? Wer ist der Mensch […]?“ (Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4.202). Anders als bei der Frage der Sphinx vor Theben ist die Antwort der Selbstauskunft des Befragten nicht „der Mensch“. Vielmehr mündet das Rätsel der Frage nach dem „Wer“ wiederum in der Frage nach dem Selbst.[43] Der Einsamste bleibt Rätsel; das Rätsel zu lösen oder auch nur lösen zu wollen, verriete das Rätsel des Selbst. So beschreibt Nietzsche auch in seiner Selbstrelecture in diesem Verhältnis das Rätsel als das wesentliche Element: „Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist! … Von allen solchen Räthseln hatte Niemand bisher die Lösung, ich zweifle, dass je Jemand auch hier nur Räthsel sah“ (EH, Za 8).
Nicht nur Perspektivität, sondern in der Perspektivität Rätsel und Fragwürdigkeit entdecken, ist der Faden der Ariadne im Labyrinth der Wahrheit. Denn auch die Metamorphose steht in einer Beziehung zur Wahrheit, indem sie die Verkleidungen wechselt, unter denen die Wahrheit sich in ihrer Nichtigkeit verborgen hält. In der Transformation erscheint der Unterschied, um eine Ähnlichkeit allererst bekunden zu können, und dies ist es, was der Schaffende in der Einsamkeit verschenkt: nicht neue Werte, sondern ewigen Wandel und Transformation, eine Umwertung.[44] Damit führt jedoch der Faden Ariadnes nicht aus dem Labyrinth der Perspektiven in die Wahrheit, sondern führt die Vorstellung, dass es so etwas wie Wahrheit und Sicherheit überhaupt gibt, führt die Wahrheit zurück in das Labyrinth, aus dem sie entstammte.[45] Das Rätsel als Rätsel zu sehen und nicht zum Rätselrater zu werden, der nach einer Lösung sucht, lenkt den Blick auf die Hüllen und Verkleidungen der Wahrheit.[46] Wenn damit die Perspektive und die Interpretation das Einzige sind, was man von der Welt wahrnehmen kann, kann man auch nicht mehr nach der nackten Wahrheit fragen, sondern nur auf ihre Hüllen blicken, wie auch Günter Figal festhält: „Die Welt zeigt sich ja nur in ihren Interpretationen. Interpretation ist Welterfahrung, wie das Lesen die Erfahrung eines Textes ist.“[47]
Damit ist keineswegs alle Wahrheit verloren. Die Interpretation von Texten entsteht im Dialog mit einem Text, und für diesen Dialog gilt, dass er immer unter dem Vorbehalt eines unabschließbaren Nicht-Verstehens geführt werden muss. Gerade darum gibt es Interpretationen, die sinnvoller und angemessener erscheinen, sei es für die Situation des Textes oder für die Situation, in die der Text spricht. Selbiges wird auch für die Interpretation der Wirklichkeit zu gelten haben: Die Beständigkeit der Wirklichkeit spannt sich und wird gespannt – und dies zeigen die Wege Zarathustras durch das Labyrinth der Einsamkeiten – zwischen, durch und über der kleinsten Kluft, die zwischen, durch und über die Bezogenheiten hinweg jene Einsamkeit hervorgehen lässt, in die man heimkehren kann, um sich in Beziehung zur Sinnhaftigkeit und Angemessenheit der gegebenen Wahrheit gesetzt zu finden. Auf diese Weise mag entweder heroisch die Haltlosigkeit des Wirklichen ergriffen werden oder – weniger heroisch als demütig – durch die Aufnahme der Perspektivität als Konstituente jedweder Interpretation die Wirklichkeit als ein in sich differenziertes und nuanciertes Spektrum erfahren werden, das gerade als Mannigfaltigkeit auf seine Sinnhaftigkeit und Angemessenheit befragt werden kann.[48]
Literaturverzeichnis
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