Startseite Majkiewicz, Anna; Mirecka, Agata; Ławnikowska-Koper, Joanna (Hgg.). Transkulturelle Durchdringungen in der Gegenwartsliteratur Mitteleuropas. Wiesbaden: Harrassowitz, 2021 (= Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Kulturwissenschaftliche und komparatistische Studien; 3). 176 pp.
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Majkiewicz, Anna; Mirecka, Agata; Ławnikowska-Koper, Joanna (Hgg.). Transkulturelle Durchdringungen in der Gegenwartsliteratur Mitteleuropas. Wiesbaden: Harrassowitz, 2021 (= Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Kulturwissenschaftliche und komparatistische Studien; 3). 176 pp.

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Veröffentlicht/Copyright: 19. Juni 2023
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Majkiewicz, Anna; Mirecka, Agata; Ławnikowska-Koper, Joanna (Hgg.). Transkulturelle Durchdringungen in der Gegenwartsliteratur Mitteleuropas. Wiesbaden: Harrassowitz, 2021 (= Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Kulturwissenschaftliche und komparatistische Studien; 3). 176 pp.


Der zu besprechende Sammelband gehört zu einem Publikationsvorhaben, mit dem im Jahre 2021 beim Verlag Harrassowitz eine neue Reihe begründet worden ist: „Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Kulturwissenschaftliche und komparatistische Studien“. Dieser Reihentitel lässt nicht erkennen, in welchem Umfang – neben den genannten Forschungshorizonten – mediale Vielfalt, Evolutionierung und Integration sowohl Merkmal vieler Textbeispiele als auch gemeinschaftlich verfolgtes Forschungsinteresse ist. Das Vorwort des zweiten Bandes gilt z. B. „Intermedialität als kultureller Praxis“.[1] Unter den Fallbeispielen sind Graphic Novel bzw. Comic (pp. 137–176). Im ersten Band ergänzen Bühnenwerke die in den Bänden 2 und 3 vorherrschende Erzählprosa.[2] Indem Digitalisierung thematisiert und zusätzlich das Hörspiel aufgenommen ist, bringt auch der Band 3 Medialität und mediale Diversifizierung in den Blick.

Von den drei Herausgeberinnen des zu besprechenden Bandes, der Germanistin, Komparatistin und Übersetzungsforscherin Anna Majkiewicz, der Germanistin, Theaterwissenschaftlerin und Fachdolmetscherin Agata Mirecka und der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Joanna Ławnikowska-Koper, sind die beiden Erstgenannten zugleich Reihenherausgeberinnen. An den Universitäten Tschenstochau (Częstochowa) bzw. Krakau wirkend und durch langjährige Forschungs- und Editionstätigkeit untereinander verbunden, zugleich – insbesondere mit den deutschsprachigen Ländern, auch darüber hinaus – international vernetzt, verfügen sie über besondere Voraussetzungen für breit angelegte, durchdachte Vorhaben der hier gegebenen Art.

So scheint es geboten, der Besprechung des dritten Bandes eine knappe Beschreibung der konzeptionell einheitlichen Anlage dieses Projekts voranzustellen. Während die in den Bandtiteln und im Reihentitel enthaltene Raumbeschreibung „Mitteleuropa“ („mitteleuropäisch“) durch ein Vorherrschen von Texten aus den deutschsprachigen Ländern sowie aus Polen begründet ist, wird durch die Herkunft und Lebensgeschichte vieler Autorinnen und Autoren (von vornherein gegebene Multikulturalität jüdischer Familien, Migrationsschicksale) sowie durch das – ggf. autobiographisch fundierte – Personal oftmals weit über Mitteleuropa hinausgehende Trans- und Multikulturalität eingebracht.

Die Beiträgerinnen und Beiträger waren, so ist anzunehmen, gehalten, den gewählten Untersuchungsgegenstand methodengestützt, straff und ergebnisorientiert, unter Vorstellung aussagehaltiger Beispiele, darzustellen. Die transparente Anlage der Bände unterstreicht die konzeptionelle Kohärenz des gesamten Projekts: Auf einleitende, internationalen Forschungsertrag bedenkende, thematisch-methodische Ausführungen zum zentralen Forschungsanliegen des jeweiligen Bandes folgen Einzelkapitel, in denen anhand von Fallbeispielen spezifische Aspekte, Erscheinungsweisen usf. des übergreifenden Fragenhorizonts eingekreist und veranschaulicht werden. Vorbildliche Quellennachweise und Literaturverzeichnisse bei jedem Einzelbeitrag, begleitet von einschlägiger weitergehender Literatur, geben in vielen Fällen Ausblick auf ergänzendes Textmaterial und weitere Forschung. Die jeden Band beschließenden relativ ausführlichen Angaben zu Autorinnen (sie sind in der Mehrzahl) und Autoren bieten nicht nur eindrucksvolle Skizzen individueller beruflicher Vielseitigkeit und Entfaltung. In ihrer Gesamtheit, gleichsam indirekt, lassen sie auch ein Bild von Forschung als internationalem Netzwerk entstehen.

„Transkulturelle Durchdringungen“ fokussierend, ist Band 3 nicht nur durch das Hörspiel, sondern auch durch rezeptionsgeschichtliche (rezeptionsästhetische) Fragestellungen, Kinder- und Jugendliteratur sowie übersetzerische Herausforderungen bei Nonsensversen und Wortspielen in gattungspoetischer wie auch thematisch-systematischer Hinsicht bemerkenswert breit angelegt. In fünf – einem ausführlicheren Vorwort (pp. VII-XIII) folgenden – Teilen werden zwölf teilweise einzelne Fallbeispiele, teilweise breiteres Quellenmaterial enthaltende Einzelforschungen vorgestellt.

Es könnte Absicht sein, dass die Bandherausgeberinnen in ihren Hinweisen zu „Transkulturalität und ihrer literarischen Umsetzung“, abweichend von einigen Einzelbeiträgen, (pp. 30–31, 38–39, 127–128 passim), nicht mit Wolfgang Welschs vielzitierten Ausführungen zum Fehlen „klarer Grenzen, Zuordnungen, Differenzierung in Eigen- und Fremdkultur“ (vgl. p. 127, Anm. 32) beginnen. Auf dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrung, d. h. dem Ende der kommunistischen Herrschaft als entscheidender Zäsur, sind diese Rahmenbedingungen zur Entstehung wie auch forscherischen Erschließung transkultureller Durchdringungen gesehen:

Die politische Öffnung der Grenzen 1990 – ebenfalls metaphorisch verstanden – hatte die Sanktionierung der aktiven Präsenz des Anderen zur Folge. Die Idee eines mononationalen Staates – eine Idee, die jahrzehntelang vom kommunistischen Regime aufrechterhalten wurde – wurde durch den Begriff der Vielstimmigkeit und Inter/Multi/Transkulturalität ersetzt. Nach ihrem eigenen (auch textuellen) Raum suchen nationale und ethnische Minderheiten, nomadische Gruppen, Flüchtlinge, Emigranten und Neuankömmlinge. Die Allgegenwärtigkeit von Differenz und Andersartigkeit zwingt dazu, die Frage nach der Identität, die in Bezug auf das Andere formuliert wird, neu zu stellen. (p. VII)

Diese Situationsbeschreibung lässt mitdenken, dass in der Lebenswelt Identitätskonstruktionen entlang national-kultureller Selbstbeschreibungen (Sprache, Religion, historischer Schlüsseldaten, figuraler ‚Ikonen‘ usw.) keineswegs überwunden sind: Daten, die manches von dem Inventar enthalten, das bei einer sorgfältigen Erschließung von Fällen kultureller Durchdringung mit bedacht sein müsste.

Die Herausgeberinnen beobachten „in den letzten Jahrzehnten“ zwei Verstehensweisen von Transkulturalität (die erstgenannte schließt teilweise an Welschs Aussage an):

Einerseits ist es immer noch ein Konzept, das einen bestimmten sozialen Umstand definiert, ein Ideal der Koexistenz vieler Kulturen innerhalb einer Kultur und somit ein Konzept der Durchdringung der Kulturen. Andererseits bezeichnet dieser Begriff ein konkretes gesellschaftspolitisches Projekt, das auf den bewussten Aufbau einer Mosaikgesellschaft abzielt. (pp. VII-VIII)

Summierend wird festgehalten:

Beide Arten des Verständnisses der Transkulturalität bringen unvorhergesehene Probleme und Fragen mit sich, erzwingen eine Veränderung der Denkweise, z. B. über das individuelle Subjekt, über die Idee der Gemeinschaft, und erlangen eine Modifikation der Kategorien der Eindeutigkeit und Transparenz der Beziehungen zu Anderen. Die Identitätsbildung im Verhältnis zur Fremdheit oder durch die „Absorption“ von Andersartigkeit hat auch ihre Konsequenzen: Sie zerstreut die Subjektivität, gibt ihr einen hybriden und nebulösen Charakter, verlangt aber andererseits Selbstreflexion und Einsicht in die Selbstwahrnehmung. (p. VIII)

In den Fallbeispielen, so die Herausgeberinnen, seien beide Verstehensweisen nachzuvollziehen (p. VIII).

Die terminologischen Koordinaten des gesamten Projekts aufnehmend, wird im Anschluss an die Kurzbeschreibungen der Einzelbeiträge der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (erinnert wird an Kunderas Essay „Die Tragödie Mitteleuropas“, p. XII) weithin diskutierte Begriff „Mitteleuropa“ im Kontext des Forschungsprojekts angesprochen. Im Namen der polnischen Wissenschaftler wird eine Haltung zum Ausdruck gebracht, die in dieser Besprechung wiederholt werden soll:

Die polnischen Wissenschaftler verlassen ihre Komfortzone und begeben sich in den Raum der Begegnung. Sie tun das mit dem Bewusstsein für das Erbe, das sich aus der mehrjährigen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis ergibt. Ihre Forschung kann für sie einen Mehrwert haben und zu einer Neudefinition der eigenen Identität verhelfen, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene. Und auch die Frage zulassen, auf welcher Ebene die Begegnung stattfindet und ob es sich um einen Austausch im Geiste der Partnerschaft und Freundschaft handelt und nicht eine neokoloniale Manifestation von Überlegenheit. (p. XIII)

Die Überschriften der fünf Teile des Bandes lassen das Bemühen erkennen, die jeweiligen Beispiele und Untersuchungsbefunde zur leitenden Fragestellung transkultureller Durchdringung ins Verhältnis zu setzen. Angesichts der Vielfalt des erschlossenen Textmaterials kann es manchmal nur um Annäherungen gehen. Ein besonderer Fall ist hier Teil I, der – etwas abweichend von den anderen Bänden – nicht mit einer Textstudie, sondern mit einem einführenden Essay des Krakauer Germanisten und Kulturwissenschaftlers Tobiasz Janikowski (p. 172) beginnt: „Zur Einführung. Zwischen Digitalisierung und Entfremdung. Das Phänomen der Fremdheit in Literatur und Forschung“ (so das Inhaltsverzeichnis, p. V) bzw. „Zwischen Digitalisierung und Entfremdung. Das Phänomen der Fremdheit in der gegenwärtigen germanistischen Forschung“ (pp. 3–11). Ohne dass dies explizit gemacht würde, ist der Bandtitel um einen Wirklichkeitshorizont erweitert, in dem nationale, regionale etc. Kulturspezifik gegenstandslos ist: die global funktionierende Digitalisierung mit ihren eigenen Herausforderungen für Individuen und Kollektive. Das weithin als „Migrationskrise“ wahrgenommene Jahr 2015 (p. 3) wird als Zäsur gesehen, mit der Migration in der literarischen Produktion wie auch in der germanistischen Forschung, einschließlich länderübergreifender Vorhaben, gesteigerte Intensität erlangt. Zwei lebensweltliche Kontexte des 21. Jahrhunderts in den Blick nehmend – der in der Binnen- und in der Außensicht Transkulturalität implizierenden Migration sowie der Digitalisierung – zeigt Janikowski vor allem Facetten und Wirkweisen von „Fremdheit“, des „Fremden“ auf. Vielleicht liegt es an der Dynamik von Forschungsvorhaben, dass der Anschluss an vorangehende Projekte mit verwandten Problemstellungen und beachtlichem Forschungsertrag (Janikowski weiß davon) – man denke an die Publikationen aus dem Umfeld des Sonderforschungsbereichs „Internationalität nationaler Literaturen“[3] – nicht mehr gesucht wird, gesucht werden kann.

Da summarische Darstellungen weder der dezidiert eigenen Anlage jedes der Teile II-V noch dem in elf Autorenartikeln erschlossenen Textmaterial gerecht werden könnten, werden die Beiträge einzeln betrachtet. Neben dem erwähnten Hörspiel sind die drei Autorenartikel des Teils II („Grenzerfahrungen über Grenzen hinweg“, pp. 13–56) durch das Genre Roman wie auch durch die – Migrationserlebnisse in mehreren Kontinenten miteinander teilenden – jüdischen (jüdisch-russischen, jüdisch-polnischen usw.) Schicksale der Autorinnen verbunden. Trauma-Erfahrungen sind dabei nicht immer mit Shoah-Erleben der Großelterngeneration verbunden. Die hinzugezogene Theorieliteratur, und das gilt für alle Beiträge, kann nicht überall lückenlos funktionieren.

In der ersten Fallstudie erschließt Małgorzata Dubrowska (Katholische Universität Lublin), Arbeiten von Monika Schmitz-Emans, Eva Hausbacher u. a. nutzend, narrative Strategien in Ramona Ambs Roman Die radioaktive Marmelade meiner Großmutter (2013) und in Olga Grjasnowas Gott ist nicht schüchtern (2017). Ambs Beispiel für „Kleine Literatur des Anvertrauens“ (Honigmann, pp. 15–16) kann möglicherweise als ein etwas problemüberfrachteter Text gelten. Sorgfältig, präzise und erkenntnisstiftend sind die narrativen Be- und Umschreibungen ermittelt, mit denen die Ich-Erzählerin Romy, die Enkelin schweigender traumatisierter Großeltern, das eigene Trauma eines fundamentalen Vakuums in ihrer Lebensgeschichte in den Griff zu bekommen sucht. Eingearbeitete Problemkonstellationen in der deutsch-türkischen „postmigrantischen Gesellschaft“ (p. 22) entziehen sich teilweise dem gewählten Theorieangebot.

Olga Grjasnowas präzise formulierender, kapitelweise die durch den Syrienkrieg gebrochenen Lebensläufe des in Frankreich ausgebildeten Arztes Hammoudi und der Anglistin und angehenden Schauspielerin Amal vorführender Roman kann als modellhafte Verwirklichung „transnationalen Schreibens“ (pp. 23–27) gelten. Außer dem multikulturellen Syrien sind der Libanon, die Türkei, Russland, Frankreich, Deutschland und andere Länder – in Verbindung mit gern erinnerten, mehr noch mit prekären Daseinserfahrungen – in den Blick gebracht. Als transnationaler Ort (mehr noch „Nicht-Ort“) – „sinnentleert, transistorisch und kaum von Beziehungen geprägt“ (p. 25) –, ist u. a. der Flughafen als einer der vielen Transiträume herausgestellt: ein besonders markanter Bedeutungsträger im Kontext der poetics of displacement (Hausbacher, pp. 15, 25). Dubrowskas dichte, auf wesentliche erkenntnisstiftende Details und Zusammenhänge fokussierte Darstellung kann nicht wiedergeben, mit welcher Sensibilität und Kompetenz die Protagonistin Amal (ihre anhaltende Traumatisierung rührt daher, dass der syrische Vater die Verbindung mit der in Russland lebenden kulturell-intellektuell anspruchsvollen Mutter unterbindet) mit sprachlichem, religiösen usw. Pluralismus umgeht.

Als Anglistin an einer Dissertation zur Darstellung von Trauma – vor allem der zweiten Holocaust-Generation – in der englischen und polnischen Literatur arbeitend, hat Paulina Kasińska (Tschenstochau) überzeugende Vergleichstexte, Romane, gewählt: Lisa Appignanesis Losing the Dead (2013) und Agata Tuszyńskas Family History of Fear (2016). Gemäß der globalen Welt des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern und Kontinenten aufgewachsen (Kanada/Nordamerika, Polen/Europa), stehen die Schriftstellerinnen vor der Herausforderung, um ihrer Selbstfindung und einer selbstbestimmten Existenz willen den Wahrheitsgehalt erkennbar einseitiger familiärer Narrative zu ergründen, blinde Flecken aufzudecken, Verhaltensweisen einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber der jüdischen Minderheit zu erfassen. Während die als Elżbieta Borensztejn in Łódź geborene Kanadierin von beiden jüdischen Elternteilen über ihre Herkunft informiert ist, muss Tuszyńska ihre „Hybridität“ zwischen einer zur Herkunft schweigenden jüdischen Mutter und einem wenig problembewussten polnischen Vater schrittweise ergründen. Ein breites Spektrum von Forschungsliteratur heranziehend, umsichtig und informationsdicht formuliert, bietet Kasińska eine Art Diskussionsfläche nicht nur zu Möglichkeiten und Beschränkungen einer Trauma-Bewältigung der zweiten Holocaust-Generation (Lucian Hölschers Vorstellung einer „Rekonfiguration des Erinnerungsfeldes“ werden gewisse Grenzen aufgezeigt, pp. 31, 38), sondern z. B. auch zu aktuellen lebensweltlichen Kontexten – etwa der polnischen „nationalen Erinnerung“ im Zeichen von Martyrium und Opferrolle (p. 39).

Anna Rutka (Lublin), Germanistik-Professorin mit einem die deutsche, österreichische und polnische Literatur betreffenden Forschungsprofil, untersucht zwei Werke der russisch-jüdisch-deutschen (in der heutigen politischen Konstellation: moldawisch-jüdisch-deutschen) Schriftstellerin, Hörspielautorin, Schauspielerin und Musikerin Marina Frenk: das Hörspiel Jenseits der Kastanien (2016) und den Roman ewig her und gar nicht wahr (2020, pp. 43–56). Bei der als Siebenjährige nach Deutschland gekommenen Frenk, einer Vertreterin der „Postmigrations-Generation“ (p. 43), sind die fokussierten Problemkreise „Migration“ und „Herkunft“, anders als nunmehr tradierte Migrationsdarstellungen (mit Grenzsetzungen, Integrationserfahrungen), durch Merkmale einer „postmigrantischen Perspektive“ (Erol Yildiz, 2015) gekennzeichnet, bei der „produktive Spaltungen, Mehrfachzugehörigkeiten und bewegte Biographien“ (p. 45) zu beobachten sind. Bei Frenk ist das – jede Innovation zulassende – multimodale Schaffen das Medium persönlicher Ausdruckssuche. Umsichtig und genau zeigt das Rutkas Erschließung des Hörspiels (mit Frenks Übersetzungen und Vertonungen von Celan-Gedichten). Die zunächst etwas locker gehaltene Darstellung kommt abschließend zu diesem Befund:

Die Multimedialität, Multiperspektivität und Mehrsprachigkeit als führende ästhetische Koordinaten der beiden Werke destabilisieren nationalstaatliche Deutungen und etablieren einen (neuen) ästhetischen Freiheits-Raum für transkulturelle Erinnerungshandlungen und Lebenswelten im 21. Jahrhundert. (p. 55)

Teil III enthält drei Beiträge zur „Plurikulturalität Mitteleuropas“ (pp. 57-102). Dieser Horizont mit seinem Bezug zum Bandtitel ist in den einzelnen Beiträgen recht unterschiedlich bedacht. Magdalena Bąk (Kattowitz), Polonistin und Komparatistin mit einem Schwerpunkt bei polnisch-portugiesischen Kulturbeziehungen, untersucht Andrzej Stasiuks essayistisch-tagebuchartige Reiseaufzeichnungen aus nachkommunistischer Zeit, Reisen durch die Randzonen Ungarns, der Ukraine, der Slowakei, Sloweniens usw.: „Central European Fado by Andrzej Stasiuk“ (pp. 59–70). Obwohl nur kurz erwähnt – bei einer Anfahrt des albanischen Pogradec hat der Ich-Erzähler im Radio die melancholisch-sehnsüchtige Melodie des portugiesischen Fado gehört (p. 62) –, trägt die ganze Textsammlung dieses Signalwort der portugiesischen Kultur. Bąk sieht, so ihre einleitende These, den Fado als eine Art Klammer für das Zeitverständnis in den Randzonen ostmitteleuropäischer, südosteuropäischer usw. Länder einerseits und Portugals andererseits: „Stasiuk creates an interesting analogy between Central Europe and Portugal to reveal Central European inhabitants’ inability to live in the present, an inclination to replace the future with constant reminders of the past.“ (p. 37)

Während für die Befindlichkeit der Bewohner in „Zentraleuropa“ nur wenige Beispiele gegeben sind (p. 63), ist der Vergleich mit Portugal weiter ausgeführt:

The elements used by Stasiuk to present Central European identity are like puzzle-pieces that can be arranged and rearranged in different parts of the book. All of them are at the same time essential elements of the Portuguese concept of saudade, which is in turn closely associated with fado songs. Both images refer to memories, sadness, missing someone, missing something. [...] Moreover, the painful feeling of emptiness that can be filled only with a dream that replaces reality is essential for Portuguese identity. (p. 65)

Neben dem Fado und der lexikalische Annäherungen fordernden kulturspezifischen Vokabel saudade (dt. Sehnsucht, Schmerz usw.) werden auch das zum Mythos gewordene untergegangene Königreich Sebastians und Pessoas Gedicht Ulisses als Belege portugiesischer Befindlichkeit herangezogen (pp. 65–66). Über die Gültigkeit und Aussagekraft einer solchen Beweiskette im 21. Jahrhundert ist nichts gesagt.

In einem etwas mäandrischen Gang der Argumentation, bei dem manche Aussagen ungenau bleiben, werden durchaus analoge Haltungen zurzeit (vor allem zur Gegenwart und Vergangenheit) aufgezeigt. Eine transparentere Darstellung hätte man sich z. B. bei den fundamentalen Unterschieden zwischen Kunderas – geographische sowie staatlich-politische Einheiten bedenkenden (pp. 62–63, 69) – Gedanken zu Europa (Ostmitteleuropa/Westeuropa) und der – Geographie und Kulturspezifik außer Acht lassenden – „zentraleuropäischen Mythologie“ („Central European Mythology“, p. 68) Stasiuks gewünscht.

Anna Janek (Tschenstochau), 2019 mit einer Dissertation zu Paweł Huelles literarischem Schaffen „in kerygmatischer Interpretation“ (p. 172) promoviert, setzt ihre Forschung zu den intertextuell, interkulturell und intermedial ergiebigen Texten des Danziger Autors fort: „Dialog als Chance zur interkulturellen Verständigung: Das Porträt der Greta Hoffmann in der Prosa von Paweł Huelle“ (pp. 71–86). Verschiedene Phasen historischer (erzählter) Zeit sowie Gestalten der Lebenswirklichkeit betreffend (p. 72, Anm. 1), geht es um den Roman Śpiewaj Ogrody (‚Sing Gärten‘, 2014) und die Erzählungen Der Tisch und Der Umzug in der Sammlung Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdańsk (1996, poln. 1991) – Prosawerke mit vielfältigen verständnisfördernden Verbindungen untereinander. In ihrem Abstract stellt Janek die Problemkonstellation, die durch „interkulturelle Verständigung“ teilweise aufgelöst wird und bei der sich die Protagonistin vom Objekt ihrer Mitwelt zum Subjekt des eigenen Daseins macht, so dar:

The article addresses the problem of the coexistence of Poles and Germans in post-war Gdańsk. On the basis of selected literary works by Paweł Huelle, an analysis of the behavior of individual characters towards Greta Hoffmann, a woman who, as a result of war turmoil, being German, decided to remain in Poland, in multicultural Gdańsk after the war. As a result of her decision, she became an object of mockery, persecution, a victim of stereotypical, imagological thinking. (p. 71)

Während Greta den Ich-Erzähler (zunächst ein Kind, Paweł) zu sich einlädt, ihn mit der ihr verbliebenen gegenständlichen Welt und ihrem Leben mit Musik, Malerei und Literatur vertraut macht, Polnisch lernt, eignet sich der Ich-Erzähler – neben der deutschen Sprache – die zweite (vergangene) Seite der bi- bzw. multikulturellen Stadt Danzig an. Die nur annäherungsweise mögliche Gewinnung des Porträts ist u. a. intermedial, durch Heranziehung von Malerei und Fotografie (pp. 71–73), verdeutlicht. Gretas für sich selbst gewonnene Einstellung zu ihrer Situation ist summierend so dargestellt:

Gretas Haltung ist voller Demut, trotz der Tatsache, dass sie selbst Polen und Juden verteidigt, die Politik des Führers verabscheut und unter den Nazis viel erlitten hat, erkennt sie an, dass die bloße Zugehörigkeit zum deutschen Volk für die Polen Grund genug ist, ihr ihre Abneigung zu zeigen. (pp. 77–78)

Der in einem recht subjektiven Verständnis von Hermeneutik (vgl. den konzeptionellen Ansatz der Dissertation) gebotene Forschungsertrag muss vom Leser zusammengestellt werden.

Julia Manowska-Cebula (Krakau), Doktorandin der Germanistik, präsentiert – kontrastiv angelegt, material- und detailreich – eine Fallstudie zur Abwesenheit von kultureller Durchdringung in Zeiten, bzw. unter dem Dach, des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaats: „Das Bild des Teschener Schlesiens in Die sieben Kinder des Pastors Kattenschlag von Edith Schmettan-Demel und in Czarna Julka (‚Schwarze Julka‘) von Gustaw Morcinek“ (pp. 87-102). Mit den Lebensdaten 1890–1964 bzw. 1891–1963 haben die deutsche Autorin des 1959 in München erschienenen Romans und der polnische Autor des 1967, postum, in Warschau edierten Werks die vielsprachige, multikulturelle Habsburgermonarchie, auch ihr Ende, erlebt, sind somit „Zeitzeugen der Transnationalität“ (pp. 88–89). Die Biographien beider Teschener Schlesier geben die Kontrastbefunde der autobiographischen Texte (Manowska-Cebula hält die Klassifikation als „Kinderliteratur“ für angebracht, p. 89) vor: Während Schmettan-Demel in einer bürgerlichen, protestantischen Familie des städtischen Zentrums Teschen aufgewachsen ist, stammt Morcinek aus einer polnischen, katholischen Bergmannsfamilie des Dorfs Karwin, identifiziert sich, abweichend von der Deutschen Schmettan-Demel, mit Polen (pp. 88–89). Im Unterschied zu der von einer auktorialen Erzählerin gebotenen Sicht eines protestantischen Pfarrhauses ist die Perspektive der polnisch-katholischen Arbeitswelt als Ich-Erzählung eines Kindes (Gustlik) gegeben. Die rasche Orientierung des Lesers dieses Beitrags in einem gleichsam vorgegebenen sprachlichen, religiösen, sozialen usw. Nebeneinander liegt offensichtlich sowohl an der Art des erschlossenen Materials als auch an Julia Manowska-Cebulas Darstellungsstrategie. Nach einer Einführung in Handlungsort und Protagonisten (pp. 89–91) werden die „zweierlei Wahrnehmungen“ „eines Landes“ gemäß fünf systematischen Fragestellungen der Reihe nach vorgeführt und anhand anschaulicher Beispiele verdeutlicht: Religiosität (pp. 92–95), Erziehung, einschließlich der Rolle von Lehrern und Bildungsinhalten (pp. 95–96), Sterben und Tod (pp. 96–98), Nationalgefühl und Identitätsbekundung (pp. 98-100). Dieser raum-zeitlich zurückgreifende Beitrag, in dem das Nebeneinander geradezu konträrer Daseinsformen fast ohne anhaltende Konflikte (es gibt einen nationalistisch agierenden polnischen Lehrer) geboten ist, mag ein Weiterdenken zu Konfliktpotential und Verwerfungen im 20. und 21. Jahrhundert anregen.

Mit dem Hinweis auf „Rezeptionsästhetische Begegnungen“ ist ein Forschungsakzent von Teil IV (pp. 103–154) herausgestellt. Indem drei von vier Beiträgen der Kinder- bzw. Kinder- und Jugendliteratur, d. h. einem an mehreren polnischen Universitäten vertretenen und in internationalen Netzwerken behandelten Arbeitsgebiet, gelten, kommt nochmals (mit Illustrationen, Comics) Intermedialität in den Blick.

Dorota Szczęśniak (Krakau), Germanistin mit einer Doppelpromotion in der Jagiellonen-Universität Krakau und der Ruhr-Universität Bochum, fügt der umfangreichen Forschung zu Thomas Bernhard, der „gerade im Land an der Weichsel sein treues Publikum“ gefunden hat (p. 105), eine Studie zur aktiven-kreativen Rezeption hinzu: „Inspiration, Dialog und Transformation: Zur literarischen Rezeption von Thomas Bernhard in Polen“ (pp. 105–116). Darauf hinweisend, dass Nachdrucke und Neuübersetzungen zu einer intensivierten Rezeption im 21. Jahrhundert geführt haben könnten, untersucht Dorota Szczęśniak unterschiedlich ausgeprägte Formen der Bernhard-Rezeption bei vier zeitgenössischen polnischen Autoren: Krzysztof Varga, Jacek Dehnel, Marcin Polak und Wojciech Kuczok (p. 105). Gut lesbar und transparent sind Hinweise zu den Kontexten der Rezeption gegeben: zu Krystian Lupas wegweisenden Theaterinszenierungen, den vorbildlichen Übersetzungen von Jacek St. Buras, Sławomir Błaut, Monika Muskała u. a. (p. 106). Sehr genau ist Bernhards zur Nachbildung inspirierender Personalstil mit der „spiralenförmig weiterbohrenden Schwadronade“, der „langatmigen Klage über den miesen Zustand der Welt“ (p. 107), der alle Künste einschließenden Intertextualität und dem international anschließbaren Themenrepertoire (pp. 107–108) in Erinnerung gebracht. In Vargas Trociny (‚Holzspäne‘) wird z. B. echoartige Zustimmung mit „hasserfüllten Monologen“ und „Entrüstung über [die] Zeit“ beobachtet (pp. 108–110). Eine besonders intensive, elaborierte Fortschreibung von Bernhards Personalästhetik und Themenkatalogen (mit Invektiven gegen die „katholische Propaganda“ polnischer Professoren) ist bei dem Philosophen und Schriftsteller Marcin Polak aufgezeigt (pp. 109–112). Durch das Nebeneinander gut ausgewählter ins Deutsche übersetzter Textproben im Haupttext und den polnischen Beispielen in Anmerkungen können zweisprachige Rezipienten die bemerkenswerte „Durchdrungenheit“ der polnischen Prosa mit Spuren von Bernhards singulärem Schaffen nachvollziehen. Aus den erkenntnisstiftenden Schlussfolgerungen der Studie sei ein Passus angeführt:

Mit dem Werk von Thomas Bernhard werden postmodernistische Spiele getrieben. Das „Alte“ wird mit dem „Neuen“ konfrontiert und selbst die Figur des Schriftstellers wird zum Objekt literarischer Texte. In diesen Fällen kann die Literatur von dem österreichischen Klassiker als eine Chiffre dienen. Von Bernhard wird eine Fülle von Themenkomplexen übernommen und danach adaptiert. In völlig neuen Zusammenhängen stehen solche Probleme zur Debatte wie Krankheit, Gewalt, Leiden sowie Vergangenheit und die eigene Heimat. (p. 115)

In einem gemeinsamen Beitrag stellen die auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisierten Krakauer Professorinnen Angela Bajorek und Małgorzata Chrobak das künstlerische Schaffen und das internationale, interkulturelle Engagement der Netzwerkerin Joanna Papuzińska (Papuzińska-Beksiak) vor: „Interkulturelle Interferenzen im Schaffen von Joanna Papuzińska“ (pp. 117–128). Dieser materialreiche Bericht über die Warschauer Professorin, Lyrikerin, Literaturkritikerin, Kinderbuchautorin und Initiatorin von polnischen sowie internationalen Publikationsvorhaben, Konferenzen u. a. m. zur Kinder- und Jugendliteratur ist insofern sehr verdienstvoll, als eine solche Überblicksdarstellung und Würdigung offensichtlich bislang fehlte. Der Beitrag ist klar aufgebaut. Auf knappe Hinweise zur Biographie Papuzińskas (die Mutter hatte 1944 die Rettung jüdischer Mitbürger mit ihrem Leben bezahlt, p. 118) sowie die autobiographische Kinderliteratur zur Kriegs- und Nachkriegsrealität in Warschau (p. 119) stellt das Autorinnenteam eine überwältigende Fülle „Interkultureller Initiativen“ Papuzińskas (pp. 119–124) dar. Erinnert wird an das „III. Forum der Kinderliteratur der Ostseeländer“ (1994), das Teilnehmer aus dem Baltikum, aus Russland und Schweden zusammenführte, die Gründung einer Wanderausstellung mit Kinderliteratur verschiedener Länder, eine deutsch-polnische wissenschaftliche Konferenz in Auschwitz, auf der „Sacrum“ und „Profanum“ als „Interpretationsschlüssel für Kinderliteratur“ erörtert wurden (pp. 122–123). Ein kurzer Abschnitt gilt den mit international geschätzter Buchgraphik versehenen Übersetzungen einzelner Texte Papuzińskas (p. 124–126). Der Beitragstitel „Interkulturelle Interferenzen“ ist hier jedoch nicht unmittelbar verständlich. Es geht ja nicht um gegenseitige Einflussnahme, Überschneidung o. ä., auch nicht um sprachliche Mischung (im linguistischen Sinne Störungen), die Erwachsene Kindern bei der Lektüre erklären müssten. Begegnung und Austausch fördernd, hat Papuzińska, auf dem Hintergrund eines Verständnis fördernden Umgangs mit der polnischen, nationalen Kultur (p. 119), für Kinder vieler Länder Möglichkeiten zu transkultureller Öffnung geschaffen.

Fachlich besonders breit orientiert, präsentiert Ewelina Kamińska-Ossowska in ihrem Beitrag – umsichtig und materialreich – eine mehr als 40 Jahre umfassende Forschung: „Annäherungen und Begegnungen: Zur Präsenz der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur in Polen“ (pp. 129–145). Diese umfangreichere Studie nimmt einen besonders langen Zeitraum, von den 1970er Jahren bis hin zum zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, in den Blick. Durch vielfältige, teilweise für den ganzen Ostblock kennzeichnende Ursachen begründet, sind die 1970er und 1980er Jahre eine Phase nur begrenzter Übernahme deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur (pp. 134–136). Eine entscheidende Zäsur sind die 1990er Jahre, in denen bedeutende polnische Verlage Übersetzungen herausbringen, Reihen gründen usw. In dieses Jahrzehnt gehört auch die Einführung der – u. a. durch den deutsch-australischen Schriftsteller Markus Zusak vertretenen – All-Age- bzw. Crossover-Literatur für mehrere Altersgruppen. Ein Novum zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind dann Übersetzungen von Texten zu Themenkreisen wie „Desorientierung in der Welt [...], Mangel an Autoritäten und moralischen Werten“ usw. (p. 140). Zu mehreren verallgemeinernd formulierten Befunden gehört dieser:

Nach 1990 beginnt eine fortschreitende Annäherung der beiden Kulturen. Was früher als fremd galt (z. B. Arbeitsmigration, Reisefreiheit, Patchworkfamilien, Mehrsprachigkeit, hybride Identitäten, diverse Probleme der Konsumgesellschaft), gehört jetzt zum polnischen Alltag und verlangt nach literarischer Verarbeitung. Die deutschsprachige KJL wird dabei als Teil der Weltliteratur und Globalkultur betrachtet. (p. 143)

Neben dem ergebnisorientierten Haupttext mit vielen Einzelbeispielen bietet die Studie einen kompetent zusammengestellten Apparat von 68 Anmerkungen, darunter Rezeptionszeugnissen aus Internetquellen. Leser dürften Informationen und Anregungen für die eigene Arbeit finden.

Alicja Fidowicz, promovierte Polonistin und Slavistin an der Jagiellonen-Universität Krakau, erweitert das Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur um die – als spezifisch gefährdet geltende – Altersgruppe der jungen Erwachsenen: „Contemporary Young Adult Literature in Poland and Slovenia: Spaces of Fear“ (pp. 147–154). Die vergleichend dargestellte lebensweltliche Befindlichkeit betrifft die Jahre nach 1989 bzw. 1991. Die zusammengetragenen Primärtexte und Übersetzungen, auch die Sekundärliteratur, stammen vor allem aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts (pp. 153–154), versprechen daher eine besonders aktuelle Bestandsaufnahme. In Anlehnung an Maria Nikolajevas vielbeachtete Publikation Power, Voice and Subjectivity (2010) ist die erkenntnisstiftende Funktion der „Spiegelung“ betont: „Young Adult Literature [...] appears to be the mirror image of contemporary culture with irrational elements of fear and anxiety“ (p. 148). Der eher locker gehaltene Beitrag gibt allerdings kein Beispiel dafür, wie ein „junger Erwachsener“ – sei es als Ich-Erzähler, sei es als erzählte Figur – im Umgang mit Ängsten, ökologischen Katastrophen, Identitätsproblemen usw. (pp. 149–151) literarisch gestaltet, somit für Leser zu identifizieren ist. Im Anschluss an Kurzcharakteristiken von Beispielen beider Literaturen – mit Marcin Szczygielski, Anna Onichimowska, Magdalena Kozłowska und Natalia Osińska für die polnische, Evald Flisar, Vladimir Stefanec, Jan Virk und Tatjana Kokalj für die slovenische Literatur – werden Befunde festgehalten wie diese:

It seems that both Polish and Slovenian authors are aware of the dense net of connections between global and local politics, their impact on private life, and daily problems. Osińska’s novels share awareness of domestic violence, in the form of emotional abuse (sometimes connected with homophobia and transphobia). (p. 151)

Dass, so abschließende Beobachtungen, junge Erwachsene die sie betreffenden Themen nur in begrenztem Umfang behandelt finden, liegt zum einen an einer eher konservativen Autorengeneration (Rücksichtnahme auf Verlage), zum anderen an einer geringen Zahl „aktiver Leser unter den Teenagern beider Länder“ (pp. 152–153).

Den Sammelband (Teil V) beschließt ein als Sonderfall gekennzeichnetes Forschungsvorhaben: „Sprachlich-kulturelle Peripherie der literarischen Übersetzung“. Bożena Rozwadowska, Professorin der Englischen Philologie und der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Breslau/Tschenstochau) und Anna Sawicka (Mag., Breslau), Anglistin mit einem Schwerpunkt bei englischsprachiger Nonsense-Literatur, stellen einen gemeinsam erarbeiteten Beitrag vor: „Looking for Sense in Translation of Nonsense Poetry and Wordplay“ (pp. 155–169). Es geht um die dezidiert sprachgestützte und mit sprachlichen Verfahren instrumentierte Wiedergabe von literarischen Kleinformen, bei denen kulturelle Spezifika und Kontexte gegenstandslos sind (pp. XI, 155 passim). Im Abstract geben die Autorinnen diese Begründung:

Nonsense and wordplay provide strong evidence for the uniqueness of human language as well as its aesthetic function and support the approaches to translation across cultures based on the supremacy of form over content. [...] We argue that the sense acquired by nonsense is dependent on the functional content-less items of a particular language. (p. 155)

Die englischen Beispiele – weitgehend Klassiker der englisch-polnischen Translationsgeschichte – sind: Jabberwocky von Lewis Caroll (pp. 157–160), eine Auswahl von Limericks (pp. 160–165) und die nicht als literarische Kleinform sui generis betrachteten fonets, übersetzte Gedichte, bei denen es nicht um eine Bewahrung von Bedeutung, sondern um eine Wiedergabe der Aussprache des Ausgangstextes geht (p. 169). In einer transparenten und leserfreundlichen Darstellung werden Rezipienten in ein Forschungsgebiet mitgenommen, das ihnen möglicherweise fremd ist. Bei den Übersetzungsbeispielen aus Stanisław Barańczaks Feder wird wieder einmal deutlich, in welchem Umfang Barańczak die polnische Zielkultur durch translatorischen Gewinn gefördert hat.

Der besprochene Sammelband ist eine Bereicherung für die international-interkulturell-intermedial ausgerichtete Forschungslandschaft. Insgesamt (einzelne Ausnahmen gibt es) gut lesbar, transparent und philologisch sorgfältig dargestellt, bieten die Beiträge beachtlichen Forschungsertrag, sind teilweise dazu geeignet, analoge Vorhaben an anderem Textmaterial anzuregen. Es beeindruckt, in welcher Breite sich hier eine sprachlich kompetente, interkulturell aufgeschlossene polnische Universitätslandschaft vorstellt: Außer den organisatorisch leitenden Hochschulen in Krakau und Tschenstochau sind in Band 3 durch einzelne Beiträge auch Lublin, Kattowitz, Stettin und Breslau vertreten. Mit den Bänden 1 und 2 der neuen Reihe ist das Spektrum nochmals erweitert.

Online erschienen: 2023-06-19
Erschienen im Druck: 2023-06-06

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Philologie Romane
  4. Pierre de Jean Olivi. Sur les lois de l’Ancien Testament. Quatre questions disputées, Traité sur les préceptes cérémoniels, Neuf points sur les préceptes judiciels, Mystère du parcours de la Loi et de la Synagogue. Présentation, édition et traduction par Elsa Marmursztejn. Paris : Les Belles Lettres, 2022 (= « Bibliothèque scolastique »). 634 pp.
  5. Anonyme (XVIIe siècle). Hypothèse de la nouvelle philosophie. Texte édité et présenté par Sylvain Matton, avec des études de Maria Teresa Bruno et de José Médina. Paris : SÉHA – Milan : Archè, 2022 (= « Anecdota », 15). 241 pp.
  6. Malebranche, Nicolas. Méditations chrétiennes et métaphysiques. Édition de Raffaele Carbone, Paris : Classiques Garnier, 2021 (= « Textes de philosophie », 18). 358 pp.
  7. Bossuet, Jacques-Bénigne. Maximes et Réflexions sur la Comédie avec les pièces de la querelle « Bossuet-Caffaro » suivi du Traité de la concupiscence ou Considérations sur ces paroles de saint Jean : N’aimez pas le monde, etc. par Monseigneur l’Évêque de Meaux. Textes établis, présentés et annotés par Patricia Touboul. Paris, Honoré Champion, 2020, 702 pages.
  8. Berger, Susanna ; Garber, Daniel (eds). Teaching Philosophy in Early Modern Europe. Text and Image. Cham : Springer, 2021 (= « Archimedes », 61). 314 pp.
  9. Champy, Flora. L’Antiquité politique de Jean-Jacques Rousseau. Entre exemples et modèles. Paris : Classiques Garnier, 2022 (= « L’Europe et ses lumières », 83). 632 pp.
  10. Wrobel, Claire. Roman noir, réforme et surveillance en Angleterre (1764–1842). Gothique et panoptique. Paris : Classiques Garnier, 2022 (= « Perspectives comparatistes », 113). 546 pp.
  11. Slavjanskaja Filologija
  12. Běťáková, Marta Eva; Blažek, Václav. Lexicon of Baltic Mythology. Translated by Hana Běťáková, Marta Eva Běťáková and Václav Blažek. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021 (= Empirie und Theorie der Sprachwissenschaft; 7). 290 pp.
  13. Baharova, Katina. Der Traum in der neueren russischen Lyrik. Elena Švarc, Ol´ga Sedakova und Gennadij Ajgi. Berlin: Peter Lang, 2021 (= Neuere Lyrik. Interkulturelle und interdisziplinäre Studien; 9). 238 pp.
  14. Lubrich, Oliver; Nehrlich, Thomas (Hgg.). Alexander von Humboldt: Die russischen Schriften. Berlin, Bern usw.: Peter Lang, 2021 (= Specimina philologiae Slavicae; 294), 427 pp.
  15. Sinner, Carsten; Bahr, Christian (Hgg.). Eigennamen und Übersetzung. Hamburg: baar, 2021 (= Beiträge zur Lexikographie und Namenforschung; 11). 233 pp.
  16. Majkiewicz, Anna; Mirecka, Agata; Ławnikowska-Koper, Joanna (Hgg.). Transkulturelle Durchdringungen in der Gegenwartsliteratur Mitteleuropas. Wiesbaden: Harrassowitz, 2021 (= Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Kulturwissenschaftliche und komparatistische Studien; 3). 176 pp.
  17. Novikova, Olena, Schweier, Ulrich (Hgg.). Dialog der Sprachen – Dialog der Kulturen. Die Ukraine aus globaler Sicht. ХІ. Internationale virtuelle Konferenz der Ukrainistik, München 29. Oktober – 01. November 2020. München: Georg Olms Verlag/LMU, 2021. 766 pp.
  18. Deutschmann, Peter; Herlt, Jens; Woldan, Alois (eds.). “Truth” and Fiction. Conspiracy Theories in Eastern European Culture and Literature. Bielefeld: transcript, 2020. 381 pp.
  19. Zabirko, Oleksandr. Literarische Formen der Geopolitik. Raum- und Ordnungsmodellierung in der russischen und ukrainischen Gegenwartsliteratur. Münster: WWU Münster, 2021 (= Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe XII; 32). 381 pp.
  20. Fuchsbauer, Jürgen; Stadler, Wolfgang; Zink, Andrea (Hgg.). Kulturen verbinden. Connecting Cultures. Сблͷжая культуры. Festband anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Slawistik an der Universität Innsbruck. Innsbruck: University Press, 2021. 512 pp.
  21. Gall, Alfred. Stanisław Lem. Leben in der Zukunft. Darmstadt: wbg Theiss, 2021. 284 pp.
  22. Friedrich, Alexander; Gall, Alfred; Gehring, Petra; Loew, Peter Oliver; Pörzgen, Yvonne (Hgg.). Kosmos Stanisław Lem. Zivilisationspoetik, Wissenschaftsanalytik und Kulturphilosophie. Wiesbaden: Harrasowitz, 2021. 368 pp.Rzeszotnik, Jacek Aleksander (Hg.).Ein Jahrhundert Lem (1921–2021). Wrocław und Dresden: Neisse Verlag, 2021. 239 pp.
  23. Baharova, Katina. Der Traum in der neueren russischen Lyrik. Elena Švarc, Ol´ga Sedakova und Gennadij Ajgi. Berlin: Peter Lang, 2021 (= Neuere Lyrik. Interkulturelle und interdisziplinäre Studien; 9). 238 pp.
  24. Lubrich, Oliver; Nehrlich, Thomas (Hgg.). Alexander von Humboldt: Die russischen Schriften. Berlin, Bern usw.: Peter Lang, 2021 (= Specimina philologiae Slavicae; 294), 427 pp.
  25. American and English Studies
  26. Even-Ezra, Ayelet. Lines of Thought. Branching Diagrams and the Medieval Mind. Chicago and London: The University of Chicago Press, 2022. 250 pp.
  27. Review Essay
  28. Tsukada, Yuichi. Shakespeare and the Politics of Nostalgia: Negotiating the Memory of Elizabeth I on the Jacobean Stage. The Arden Shakespeare; New York: Bloomsbury, 2019. 224 pp. ISBN 9781350175075
  29. Gowing, Laura. Ingenious Trade. Women and Work in Seventeenth-Century London. Cambridge: Cambridge University Press, 2022. pp. 284. ISBN 9781108486385
  30. Hague, Stephen G. and Karen Lipsedge (eds.). At Home in the Eighteenth Century: Interrogating Domestic Space. New York: Routledge, 2022. pp. 360
  31. Aho, Kevin. One Beat More. Existentialism and the Gift of Mortality. Polity: 2022. Pp. 176. ISBN 1509546901
  32. Clary-Lemon, Jennifer and David M. Grant (eds.). Decolonial Conversations in Posthuman and New Material Rhetorics. Ohio State University Press: 2022. Pp. 252. ISBN 978-0-8142-1492-3
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