Koloniale Vergangenheit der Stadt Hagen
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Harald Sippel
Reviewed Publication:
Fechner Fabian / Schneider Barbara (Hrsg.): Koloniale Vergangenheit der Stadt Hagen; Hagen (Fern-Universität in Hagen) 3. Aufl. 2020, 144 S.
Der Sammelband enthält eine Reihe von kurzen Beiträgen, die aus dem Seminar „Hagen (post)kolonial – eine Spurensuche“ des „Lehrgebiets Geschichte Europas in der Welt“ an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der Fern-Universität Hagen hervorgingen und überwiegend von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Lehrveranstaltung verfasst wurden. Thematisch greift das Werk nicht nur auf die deutsche koloniale Vergangenheit zurück, sondern es geht darüber hinaus und bezieht sich auch auf Phänomene der europäischen Expansion nach Übersee und deren Rückwirkung auf die lokale Ebene am Beispiel der Stadt Hagen. Da zudem die postkoloniale Ära Berücksichtigung findet, sahen sich die Herausgeber des Bandes dazu veranlasst, den Begriff „koloniale Vergangenheiten der Stadt Hagen“ zu verwenden, womit der Forschungsgegenstand bereits im Titel überzeugend wiedergegeben wird.
Keineswegs ist es so, dass in Deutschland die Untersuchung kolonialer Vergangenheiten nur für politisch und außenwirtschaftlich starke Metropolen, wie beispielsweise Berlin, Bremen und Hamburg bedeutsam ist, sondern dies muss auch für die Provinz und für Orte gelten, welche im kolonialen Kontext gemeinhin nicht im Blickfeld von Politik und Geschichtswissenschaft stehen. Dabei ist dies eigentlich nicht so verwunderlich eingedenk der Tatsache, dass die meisten Protagonisten zumindest der deutschen Kolonialherrschaft, also Soldaten, Verwaltungsbedienstete, Siedler und Missionare, aus dem ländlichen und eher kleinstädtischen Umfeld kamen. Es ist daher sehr lobenswert, wenn sich gleichermaßen global- und lokalhistorisch interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Mühe unterziehen, koloniale Bezüge ihres Gemeinwesens zu untersuchen, wie es in dem hier besprochenen Werk in beispielhafter Weise erfolgt ist.
Zum Sammelband haben 25 Autorinnen und Autoren mit insgesamt 34 Texten beigetragen, welche sich thematisch mit den Komplexen „Koloniale Spuren im Stadtbild und Öffentlichkeit“, „Weltkunst in Hagen“, „Krieg und Gewalt im kolonialen Kontext“, „Forscher und Wissenschaftler aus Hagen“, „Auswanderung und Exil“, „Kolonialismus in Hagener Vereinen und Verbänden“, „Kolonialrevisionismus in Hagen“ und „Hagenerinnen und Hagener in Missionsdiensten“ befassen. Sämtliche Beiträge sind von historischem Interesse und haben ihre Berechtigung als Mosaiksteine, die sich zu einem kolonialen und postkolonialen lokalhistorischen Bild zusammenfügen und die Geschichte Hagens auch zu diesen Aspekten nahebringen.
Etliche Beiträge weisen Bezüge zur juristischen Zeitgeschichte auf. Dies gilt für allem für biographische Texte, die sich einzelner Hagener Persönlichkeiten, ihren kolonialen Konzepten und ihrem kolonial(staatsrechtlich)en Wirken annehmen, wie beispielsweise die Abhandlungen von Pascal Hirschberg zu dem liberalen Reichstagsabgeordneten und Kolonialismuskritiker Eugen Richter, von Pia Bosch zu dem Ethnologen und Diplomaten bei den Vereinten Nationen Heinrich Wieschhoff, der gemeinsam mit UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld während einer Friedensmission im Kongo bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückte, von Patrizia Gallistru-März zu dem Hindu-Experten Theodor Springmann jun. und seinen kolonialtheoretischen Überlegungen sowie von Carmen Gasser zu dem Montanwissenschaftler und Politikberater Eduard Harkort, der, in Ungnade gefallen, unangenehme Bekanntschaft mit dem mexikanischen Gefängniswesen machen musste und über diese ihn prägende Erfahrung schriftliche Aufzeichnungen hinterließ. Für die juristische Zeitgeschichte sind zudem die Beiträge von Belang, die sich mit dem kolonialen und postkolonialen zivilgesellschaftlichen Engagement der Hagener Bevölkerung und den Umgang der öffentlichen Verwaltung damit befassen, wie etwa die Abhandlungen von Leonie Türpe über den aufgrund von Bedenken des Preußischen Landes-Kriegerverbandes von der Hagener Polizeiverwaltung bereits in der Gründungsphase verhinderten „Vereins ehemaliger Kolonial- und Schutztruppen Hagen und Umgegend“, von Claudia Spoden über den Hagener „Bund für Siedlung in Brasilien“, von Andreas Donay über das Wirken der „Deutschen Kolonialgesellschaft“ in Hagen, von Kirstin ter Jung über das koloniale Engagement Hagener Frauen, von Mike Glüsing über den „Hagener Flottenverein“ und von Sabine Riemer-Koeritz über die Arbeit des „Alldeutschen Verbands“ in Hagen.
Auf verwaltungsrechtliche Aspekte im Zusammenhang mit Straßenrück- und -umbenennungen auf Anordnung der britischen Militärverwaltung in Hagen nach dem Zweiten Weltkrieg geht der Beitrag von Petra Seitz ein. Davon waren auch die während der Zeit des Dritten Reichs nach Personen mit Kolonialbezug benannten Straßen betroffen, und so erhielt die nach dem aufgrund seiner Kolonialabenteuer in Deutsch-Ostafrika bereits zu seinen Lebzeiten umstrittenen Historiker Carl (Karl) Peters (1856–1918) benamste „Karl-Peters-Straße“ im Jahre 1947 wieder ihre frühere Bezeichnung „Gartenstraße“ zurück, während aus der nach dem Kolonialsoldaten Paul von Lettow-Vorbeck (1870–1964) benannten „Lettow-Vorbeck-Straße“, die ehedem „Breite Straße“ geheißen hatte, auf Anregung des örtlichen Vertreters der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Stadtvertretung die „Karl-Marx-Straße“ wurde, eine Straßenbezeichnung, die es in Hagen zuvor nicht gegeben hatte. Auf diese Weise blieben dort spätere Diskussionen zur Umbenennung von Straßen und Wegen mit Namen mit kolonialem Hintergrund, wie sie in anderen deutschen Gemeinwesen teils erbittert geführt wurden, erspart.
Besondere Erwähnung verdienen im Weiteren die Beiträge von Nina Lawryniuk und Ute Kemmerling zum Folkwang-Verlag und zum seit 1922 in Essen ansässigen weltbekannten Museum Folkwang, das zwei Jahrzehnte zuvor in Hagen eröffnet wurde und in den Folgejahren eine bedeutende Sammlung afrikanischer und ozeanischer Kunstobjekte aufgebaut hatte. Erhellend ist die Untersuchung von Fabian Fechner zu dem Ethnologen Burkhart Ludwig Waldecker, der 1937 die südlichste Quelle des Nils im heutigen Burundi entdeckte und damit eine bereits im Altertum aufgeworfene und seither bestehende Frage nach „Caput Nili“, dem Ursprung des Nils, abschließend beantwortete. Es erstaunt, dass der Name dieses Entdeckers aus Hagen weitgehend unbekannt ist, eingedenk der jahrhundertelangen Bemühungen zahlreicher internationaler Wissenschaftler und Abenteurer, die eigentliche Quelle des Nils zu verorten.
Der von Fabian Fechner und Barbara Schneider herausgegebene Sammelband ist bereits in dritter Auflage erschienen, und vielleicht reicht das Interesse des Publikums in Hagen und anderswo für eine wünschenswerte vierte Auflage. Sollte eine solche zustande kommen, könnten noch bestehende kleinere Unstimmigkeiten beseitigt werden, wie beispielsweise die im lesenswerten Beitrag von Stefan Omlor unterschiedlich angegebenen Lebensdaten (S. 67/69) des Jesuiten und Japanologen Helmut Erlinghagen, der während eines längeren Arbeits- und Studienaufenthaltes in Japan den 1945 erfolgten entsetzlichen Atombombenabwurf von Hiroshima erlebte und – wenngleich fortan lungengeschädigt – glücklicherweise auch überlebte.
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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