Zusammenfassung
Der chinesische Neologismus Shanzhai beschreibt die Fälschung von Produkten bekannter Marken. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit etablierten Marken und der Umgestaltung des Originalprodukts bewegen sich die Shanzhai-Produkte in einer Grauzone zwischen Produktpiraterie und Innovation. In seinem 2011 erschienenen Essay Shanzha: Dekonstruktion auf Chinesisch (deutschsprachig), der 2023 ins Chinesische übersetzt wurde, analysiert Byung-Chul Han aus philosophischer und ästhetischer Perspektive das Shanzhai-Phänomen in China. In seinem Buch dekonstruiert Han das westliche Konzept des Originals, indem er die traditionelle chinesische Philosophie und Ästhetik als dekonstruktives Werkzeug einsetzt und dies mit zahlreichen Beispielen aus der chinesischen und westlichen Kunstgeschichte illustriert. Shanzhai wird nicht als bloße Nachahmung oder Fälschung betrachtet, sondern als eine besondere Form chinesischer Innovation mit flexiblen, inklusiven und dynamischen Zügen. Han bietet somit eine neue Perspektive auf Originalität und ermöglicht den LeserInnen ein tieferes Verständnis der Unterschiede zwischen chinesischen und westlichen Denkmustern.
Abstract
The Chinese neologism Shanzhai describes the fake products of well-known brands. Due to their similarity to established brands and the redesign of the original product, they operate in a gray area between product piracy and innovation. In his 2011 essay Shanzhai: Dekonstruktion auf Chinesisch (in German), which was translated into Chinese in 2023, Byung-Chul Han analyzes the Shanzhai phenomenon in China from a philosophical and aesthetic perspective. In his book, Han deconstructs the Western concept of the original by using traditional Chinese philosophy and aesthetics as a deconstructive tool, illustrating this with numerous examples from Chinese and Western art history. Shanzhai is not seen as a mere imitation or forgery, but as a special form of Chinese innovation with flexible, inclusive and dynamic features. Han thus offers a new perspective on originality and enables readers to gain a deeper understanding of the differences between Chinese and Western thought patterns.
1 Einleitung
Der Neologismus Shanzhai entstand im Jahr 2008 in China und beschreibt die Fälschung von Produkten bekannter Marken, insbesondere in den Bereichen IT und Mode (You 2012: 41). Shanzhai-Produkte zeichnen sich durch ihre Ähnlichkeiten zu etablierten Marken, die Umgestaltung des Originalprodukts und einen günstigen Preis aus. Daher bewegen sie sich in einer Grauzone zwischen Produktpiraterie und Innovation. Im Laufe der Zeit hat sich der Begriff Shanzhai über den wirtschaftlichen Kontext hinaus ausgeweitet und findet seither auch Anwendung im kulturellen Bereich. So entstanden zahlreiche Komposita wie Shanzhai-Kultur, Shanzhai-Geist und Shanzhai-Serien (You 2012: 43–44).
Etymologisch bezieht sich das Wort Shanzhai auf Bergdörfer oder auf eine Bergfestung mit Zäunen und anderen Verteidigungsanlagen, die von Rebellen gegen korrupte Herrscher besetzt werden können, wie es in dem berühmten chinesischen Roman Die Räuber von Liang-Shan-Moor (《水浒传》) erzählt wird (Han 2011: 79–80). Die semantischen Merkmale seiner ursprünglichen Bedeutung wie „unreguliert“, „illegal“, „marginal“ und „gegen Normen oder Traditionen verstoßend“ werden auf die Bedeutung des Neologismus übertragen (You 2012: 71). So wird die Shanzhai-Kultur als Graswurzel-Kultur betrachtet, die Widerstand durch kreative Nachahmung, Satire und Parodie gegen wirtschaftliche Macht und Mainstream-Kultur leistet.
Der renommierte Philosoph Byung-Chul Han ist bekannt für sein feines Gespür für soziale Phänomene. Er nimmt das Shanzhai-Phänomen in China unter die Lupe und legt in seinem erstmals 2011 erschienenen deutschsprachigen Buch Shan Zhai: Dekonstruktion auf Chinesisch das unterschiedliche chinesische und westliche Verständnis von Sein, Original und Subjektivität dar. In seinem Buch bietet Han eine neue Perspektive auf die Shanzhai-Produktion. Er betont, dass Shanzhai nicht als bloße Nachahmung oder Fälschung betrachtet werden sollte, sondern als eine besondere Art chinesischer Innovation mit flexiblen, inklusiven und dynamischen Zügen (Han 2011: 83–84). 2023 wurde das Buch von Dr. Cheng Wei ins Chinesische übersetzt und von CITIC Press veröffentlicht. Obwohl das Shanzhai-Phänomen in der heutigen chinesischen Gesellschaft kein heißes Thema mehr ist, bietet Byung-Chul Hans Buch den chinesischen LeserInnen immer noch eine wertvolle Perspektive auf Originalität und ermöglicht ihnen ein tieferes Verständnis der Unterschiede zwischen chinesischen und westlichen Denkmustern.
2 Hauptinhalte des Buches
Das Essay ist in fünf Kapitel gegliedert: 权 (Recht), 真迹 (Original), 闲章 (Siegel der Muße), 复制 (Kopie) und山寨 (Fake).
Im ersten Kapitel legt Han die unterschiedliche Haltung zu „Sein“ und „Wesen“ in China und im Westen dar. Das Nichts im Buddhismus bezieht sich nach Hans Meinung auf die Negativität der Ent-Schöpfung und des Ab-Wesens, die das Sein entleert und entsubstantialisiert (Han 2011: 8–9). Im Gegensatz dazu bleibt im westlichen Denken das Wesen trotz aller Veränderungen und Wandlungen beharrlich und stabil. Diesem Gedankengang folgend erläutert Han das Zeitverständnis von Chinesen und Westlern. Das westliche Zeitbewusstsein ist laut Han von Diskontinuität und Ereignissen geprägt, während die Chinesen die Zeit in einem Prozess mit unablässigen Wandlungen sehen. Aus diesem unterschiedlichen Zeitverständnis leitet Han gegensätzliche Auffassungen von Original zwischen Chinesen und Westlern ab. Nach westlichem Verständnis ereignet sich die Schöpfung zu einem einmaligen Zeitpunkt im tiefsten Inneren eines Genius und bedeutet daher einen absoluten Neuanfang, wie das „Adyton“ – ein abgegrenzter, unzugänglicher Innenraum im altgriechischen Tempel – anschaulich darstellt. Demgegenüber findet sich im chinesischen Denken kein „Adyton“, sondern eine Tendenz zur Offenheit und Orientierung an den „veränderlichen Konstellationen der Dinge (pragmata)“ (Han 2011: 12), wie sie sich in den buddhistischen Tempeln zeigt, die durch ihre Durchlässigkeit und Offenheit gekennzeichnet sind. Diese Flexibilität und Offenheit spiegelt sich auch im chinesischen Rechtsverständnis wider. Han verdeutlicht dies anhand der Etymologie des Wortes „权“ (Recht), das ursprünglich ein bewegliches Gewicht auf einer Laufgewichtswaage bezeichnet. Daraus folgert Han, dass der Rechtsbegriff in China situativ und relativ sei (Han 2011: 15).
Gestützt auf Freuds Gedächtnistheorie diskutiert Han im zweiten Kapitel den Begriff Original. Nach Freud sind Erinnerungsbilder keine unveränderte Repräsentation der erlebten Szenen, sondern Spuren, die sich kreuzen und überlagern. „真迹“ bedeutet im Chinesischen „echte Spur“ und sei wie Freuds Erinnerungsspur einem Prozess der Umschrift und der Neuordnung unterworfen (Han 2011: 18). Anschließend verdeutlicht Han mithilfe von Beispielen chinesischer und westlicher Künstler, wie Dong Yuan, Chang Dai Chien und Han van Meegeren, die unterschiedliche Einstellung zu originalen Kunstwerken und ihren Kopien in China und im Westen. Han weist darauf hin, dass das Erscheinungsbild eines chinesischen Meisterwerks einem ständigen Wandel unterliegt, da Liebhaber und Sammler ihre Inschriften und Siegel in das Werk einfügen – ähnlich wie Gedächtnisspuren im psychischen Apparat. Auf diese Weise entleert sich das Werk zu einem generativen, kommunikativen Ort von Einschreibungen (Han 2011: 21). In der chinesischen Kunstpraxis wird das Kopieren als eine effektive Lernmethode und Lobpreisung des Meisters betrachtet. Die Fälschung eines Meisterwerks wird demnach als bedeutender Erfolg angesehen, da sie die künstlerische Meisterschaft des Fälschers unter Beweis stellt. Diese positive Einstellung zum Kopieren unterscheidet sich erheblich von der westlichen, die in Platons Mimesis-Verbot zum Ausdruck kommt: Jede Abbildung, welche die ursprüngliche Identität und Reinheit des Originals zerstört, ist mit einem „Seinsmangel“ behaftet (Han 2011: 20). Diese unterschiedlichen Auffassungen von Original und Kopie werden durch ein interessantes interkulturelles Beispiel veranschaulicht. 1956 veranstaltete das Museum Cernuschi in Paris eine Ausstellung über Meisterwerke chinesischer Künstler. Bald stellte sich heraus, dass die ausgestellten Kunstwerke vom berühmten chinesischen Maler Chang Dai Chien „gefälscht“ worden waren. Daher hielt ihn die westliche Welt für einen Betrüger. Für den Maler selbst stellten die Gemälde jedoch keine Fälschungen dar, sondern vielmehr eine kreative Rekonstruktion verlorener Werke.
Im dritten Kapitel fokussiert sich Han auf die Funktion der Siegel in der Malerei und erörtert das unterschiedliche Verständnis von Subjektivität der chinesischen und der westlichen Künstler. Als Beispiel dient das Bild von Wang Fu aus der Ming-Dynastie, das eine schöne Berglandschaft mit einem Pavillon zeigt, in dem Freunde voneinander Abschied nehmen. Der leere obere Teil des Bildes ist mit Gedichten und Siegelabdrücken seiner Freunde gefüllt. Dadurch wird deutlich, dass der chinesische Maler mit seinem Siegel nicht seine autoritative Präsenz als Schöpfer des Werks darstellen will. Vielmehr eröffnet er einen kommunikativen Raum zum Austausch und zur Interpretation. So stellt Han fest, dass die chinesische Malerei aufgrund ihrer A-Perspektivität und Entsubjektivierung blicklos ist (Han 2011: 59). Ein kontrastives Beispiel liefert das Bild Arnolfini-Dopppelporträt von Van Eyck, in dem der Maler seine Autorschaft durch die selbstbewusste Platzierung der Signatur „Johannes de Eyck fuit hic“ (Johannes de Eyck war hier) demonstriert. Sein Abbild im konvexen Spiegel an der Wand verstärkt zusätzlich seine Anwesenheit und seine Rolle als Zeuge der Bildrealität. Dieses Beispiel verdeutlicht die Betonung des individuellen Genius und dessen Schöpfungsakt als Ausdruck eines einzigartigen und unverwechselbaren Subjekts in der westlichen Kunst. So schreibt Han den westlichen Siegeln eine exklusive und exekutive Wirkung zu, während er die chinesischen Siegel als inklusiv und kommunikativ betrachtet (Han 2011: 55).
Im vierten Kapitel leitet Han die Diskussion um den Begriff Kopie am Beispiel eines interkulturellen Konflikts ein, der aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen vom Konzept der Kopie entstanden ist. Als 2007 bekannt wurde, dass die aus China importierten Terrakotta-Krieger Repliken waren, fühlte sich das Hamburger Museum für Völkerkunde betrogen und entschied sich, die Ausstellung zu schließen. Während die deutsche Seite den Vorfall als bewusste Fälschung bewertete, wurde er von der chinesischen Seite anders wahrgenommen: Sie empfand die Situation als Beleidigung, da sie keine trügerische Absicht verfolgt hatte und die Kopien aufgrund ihrer exakten Reproduktion als dem Original gleichwertig betrachtete. Dieses Verständnis von Kopie wird auf den fernöstlichen Raum ausgedehnt. Als Beispiel führt Han den 1300 Jahre alten Ise-Schrein in Japan an, der alle zwanzig Jahre neu erbaut wird. An dieser Stelle stellt Han die Frage: Was ist hier das Original und was die Kopie? Die Grenze zwischen Original und Kopie scheint fließend zu sein: „die Kopie ist originaler als das Original oder die Kopie ist dem Original näher als das Original, denn je älter das Gebäude wird, desto mehr entfernt es sich ja von seinem ursprünglichen Zustand“ (Han 2011: 64). Diese fernöstliche Vorstellung von Original und Kopie basiert auf buddhistischem Denken, das die Wiederholung und die Reproduktion betont, wie der ewige Kreislauf des Lebens zeigt. Im Gegensatz dazu spielen Einzigartigkeit, Originalität und Endgültigkeit im westlichen Denken eine wichtige Rolle. So behauptet Han: „Nicht die Kreation, sondern die Iteration, nicht die Revolution, sondern die Rekurrenz, nicht Urbilder, sondern Module bestimmten die chinesische Technik des Hervorbringens“ (Han 2011: 71).
Aufbauend auf den vorherigen vier Kapiteln, die das situative, prozesshafte und inklusive chinesische Denken darlegen, rundet Han das ganze Buch mit dem kurzen Kapitel Shanzhai ab. Er weist auf die innovativen Eigenschaften der Shanzhai-Produkte hin, die sich schnell und flexibel an Situationen und Bedürfnisse anpassen und einfallsreiche Kombinationen hervorbringen. Zudem macht Han auf den subversiven Charakter der Shanzhai-Kultur aufmerksam, die auf spielerische und humorvolle Weise gegen die Wirtschaftsmacht und das Meinungsmonopol gerichtet ist.
3 Leseerfahrung
Das Essay Shanzhai: Dekonstruktion auf Chinesisch ist in einer klaren und zugänglichen Sprache verfasst. Die philosophischen und ästhetischen Auseinandersetzungen werden durch vielfältige Beispiele und Abbildungen unterstützt, was das Werk insgesamt leserfreundlich und nachvollziehbar macht. Der Übersetzer Cheng Wei setzt vorwiegend auf eine direkte Übersetzung, um den Zieltext strukturell und semantisch möglichst nah am Ausgangstext zu halten und die Botschaft des Ausgangstextes präzise an die Leserschaft zu vermitteln. Diese Übersetzungsstrategie ermöglicht es den LeserInnen, den Sprachstil des Ausgangstextes unmittelbar nachzuvollziehen und die philosophischen Gedanken des Autors eigenständig zu erschließen. An manchen Stellen passt der Übersetzer die Satzstruktur an – etwa durch das Voranstellen von Zeit- oder Ortsangaben sowie Attributen –, um den Lesegewohnheiten des chinesischen Publikums gerecht zu werden. Besonders hervorzuheben ist die kontextsensitive Übersetzung von Cheng, beispielsweise beim Begriff „Original“, der je nach Kontext differenziert als „原始“, „原件“, „原作“ oder „原创“ übersetzt wird. Bei vielen philosophischen Begriffen und spezifischen Ausdrücken des Autors werden die ursprünglichen Wörter aus dem Ausgangstext in Klammern hinzugefügt. Die LeserInnen können so die semantischen Nuancen eigenständig erkunden und bei Bedarf weiter recherchieren. Darüber hinaus liefert der Übersetzer wertvolle Erläuterungen zum historischen Kontext und zur Etymologie bestimmter Begriffe, wie beispielsweise „Grand Tour“ und „Schöpfen“. Insgesamt zeigt die chinesische Übersetzung das tiefgreifende Verständnis des Übersetzers für den Ausgangstext. Somit leistet seine Übersetzung nicht nur einen bedeutenden Beitrag zur interkulturellen Kommunikation zwischen China und dem Westen, sondern fördert auch den Dialog zwischen westlichen und chinesischen Lesarten von Originalität.
Was den Inhalt des Buches betrifft, so zeichnet es sich durch eine innovative Perspektive auf das Original aus. Han dekonstruiert das westliche Konzept des Originals mithilfe der traditionellen chinesischen Philosophie und Ästhetik. Diese Dekonstruktion verlangt von den LeserInnen im Westen wie in China stets einen Perspektivwechsel, da in dem Buch das Fremde immer mit dem Eigenen in Beziehung gesetzt und miteinander verglichen wird. Dieser interkulturelle Dialog zwischen Fremdem und Eigenem, der sich durch das ganze Buch zieht und durch zahlreiche Beispiele von Kunstwerken und Künstlern veranschaulicht wird, ermöglicht es den LeserInnen, ihre kognitiven Blindzonen zu erkennen – jene Aspekte ihrer eigenen Kultur, die ihnen aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit oft verborgen bleiben. Gleichzeitig regt der kulturelle Vergleich die LeserInnen dazu an, ihre eigenen Werte, Normen und Denkmuster zu hinterfragen. Insbesondere für westliche LeserInnen mag die in der chinesischen Kunstgeschichte verankerte positive Bewertung des Kopierens eine Herausforderung an ihre Vorstellungen von Originalität darstellen. Dabei ist es Han gelungen, wie er selbst in einem Interview sein Ziel erklärt, mit der östlichen Philosophie die allzu fest verschraubten Verhältnisse des westlichen Denkens zu lockern oder in ihre Bestandteile zu zerlegen[1].
Neben den genannten positiven Aspekten sind auch einige Punkte zu erwähnen, die kritisch betrachtet werden können. In Hans Buch werden westliche und chinesische Denkmuster einander gegenübergestellt. Denkmuster sollten jedoch nicht als einseitige oder eindimensionale Denkweise verstanden werden; sie beinhalten vielmehr komplexe und teilweise widersprüchliche Aspekte, die kulturell verankert sind und sich gleichzeitig im Wandel befinden. Dies gilt insbesondere für China, dessen Gesellschaft sich nach wie vor in einem dynamischen Transformationsprozess befindet. Von der Selbststärkungsbewegung nach dem Zweiten Opiumkrieg bis zur Reform und Öffnung 1978 strebte China stets danach, vom Westen zu lernen und seine eigene Kultur zu bereichern. Diese Offenheit setzt sich heutzutage fort, da vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung eine in sich geschlossene Kultur undenkbar ist. Betrachtet man den aktuellen öffentlichen Diskurs in China, so fällt sofort auf, dass autonomer Innovation und Originalität im Sinne des westlichen Verständnisses, wie es Han in seinem Buch erklärt, ein höherer Stellenwert beigemessen wird als der auf Nachahmung basierenden Innovation oder dem Shanzhai-Geist, sei es in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften oder in der Wirtschaft und in der Bildung. Auch im chinesischen wissenschaftlichen Diskurs wird das Shanzhai-Phänomen kontrovers diskutiert und aus kultureller und ökonomischer Perspektive getrennt bewertet. Während die Shanzhai-Kultur als antiautoritäre, anti-elitäre und durch das Internet geförderte Graswurzel-Kultur positiv angesehen wird, gelten Shanzhai-Produkte als umstritten. Zweifelsohne haben sie einen innovativen Charakter, aber die Nachahmung wird nur als Ausgangspunkt oder als ein Zwischenschritt auf dem Weg zur echten und endgültigen Innovation betrachtet; andererseits werden sie wegen der Verletzung des geistigen Eigentums oder Urheberrechts scharf kritisiert (Bai et al. 2009). Die im Buch vertretene These, dass sich das chinesische Verständnis von Originalität und Kopieren grundlegend vom westlichen unterscheidet, erscheint daher zu verkürzt.
Zudem scheint Shanzhai in Hans Buch ein spezifisch chinesisches Phänomen zu sein, das „den genuin chinesischen Geist“ verkörpert. Diese Annahme lässt sich jedoch kritisch hinterfragen, denn in der europäischen Geschichte sind vergleichbare Prozesse zu beobachten, nämlich die Chinoiserie im 17. und 18. Jahrhundert. Damals waren chinesische Produkte wie Porzellan, Lackwaren, Tee und Seide in Europa äußerst begehrt. Aufgrund der hohen Preise und der begrenzten Verfügbarkeit originaler chinesischer Waren gab es bereits im 17. Jahrhundert Imitate und Ersatzprodukte: Fayence und Steingut neben dem Prozellan, Erdbeerblätter neben dem Tee (Menne 2023). Diese Imitate integrieren europäische Elemente und chinesische Elemente und weisen einen hybriden Stil mit oft verspielten, teils absurden Motiven oder Szenen auf. Dieser Stil findet sich auch in der Malerei, der Innenraumgestaltung und der Architektur wieder. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gelang es Europa schließlich, durch technologische Entwicklungen in den Bereichen Porzellan- und Lackherstellung sowie durch die systematische Seidenraupenzucht, Produkte in vergleichbarer Qualität herzustellen und ein eigenständiges Dekor zu entwickeln, wodurch die chinesische Herkunft zunehmend in Vergessenheit geriet (Menne 2023). Die europäische Chinamode des 17. und 18. Jahrhunderts zeigt, dass das Shanzhai-Phänomen keineswegs auf China beschränkt ist. Stattdessen handelt es sich um einen Innovationsprozess, der mit Nachahmung beginnt und in eigenständiger Innovation mündet, wobei die Machtverhältnisse zwischen Fremdem und Eigenem eine bedeutende Rolle spielen. Die damalige Chinamode geht nämlich auf die Bewunderung für Chinas technologische Überlegenheit und seine erleuchtete Herrschaft zurück (Börsch-Supan 1974: 21). Die künstlerische Beschäftigung mit China diente den gebildeten Europäern als Projektionsfläche ihrer Vorstellung von einem „von aufgeklärten Gelehrtenbeamten regierten Utopia“ (Pohl 2008: 83) sowie als Werkzeug zur Kritik an den eigenen gesellschaftlichen Missständen. Mit der Industrialisierung und der Etablierung europäischer Produktionstechniken verblasste diese Bewunderung jedoch. China wurde im 18. Jahrhundert zunehmend als rückständig wahrgenommen, sodass die chinesische Kultur nicht mehr als höherwertig oder gleichwertig angesehen wurde. Beim Shanzhai-Phänomen in China verläuft dieser Prozess umgekehrt: Produkte aus westlich entwickelten Ländern dienen als Vorlage, anhand derer die Shanzhai-Produkte technologische und ästhetische Elemente übernehmen. Doch mit dem technologischen Aufholprozess chinesischer Unternehmen verlieren die Shanzhai-Produkte allmählich an Bedeutung, während eigenständige nationale Marken an Beliebtheit gewinnen. Es lassen sich daher signifikante Parallelen zwischen den europäischen und chinesischen Fällen feststellen. Zunächst wirkt das Fremde als Innovationsimpuls, und der schöpferische Prozess beginnt mit Nachahmung und Umgestaltung des Originals. So ist Schöpfung in beiden Fällen „kein plötzliches Ereignis, sondern ein langsamer Prozess, der eine lange und intensive Auseinandersetzung mit dem Gewesenen erfordert, um aus diesem zu schöpfen“ (Han 2011: 27). Zweitens zeichnen sich die „gefälschten“ Produkte durch einen hybriden ästhetischen Stil mit spielerischem und subversivem Charakter aus. Drittens wird der Schöpfungsprozess in beiden Fällen von einem anfänglichen „Fieber“ für fremde Produkte und Kulturen begleitet, gefolgt von einer „Entfieberung“, was die sich wandelnden Machtverhältnisse zwischen China und dem Westen widerspiegelt.
4 Schlusswort
Byung-Chul Han widmet sich in seinem Essay Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch dem chinesischen Shanzhai-Phänomen. Anhand von Beispielen in der chinesischen und der westlichen Philosophie, der Ästhetik und der Kunsttraditionen zeigt er die unterschiedlichen westlichen und chinesischen Vorstellungen von Sein, Original und Subjektivität auf. Sein Buch eröffnet einen innovativen Blick auf die Konzepte Original und Kopie. Shanzhai wird als eine genuine chinesische Art der Innovation gewürdigt, deren Subversivität, Flexibilität und Prozesshaftigkeit als positiv hervorgehoben werden. Im didaktischen Kontext könnte das Buch als nützliches Material dienen. Es bietet eine Vielzahl interkultureller Fallbeispiele und die dargestellten Kunstwerke eignen sich hervorragend für einen Kulturvergleich. Dabei wird deutlich, dass interkulturelle Missverständnisse, Stereotype oder Vorurteile häufig auf unterschiedlichen Denkweisen basieren. Allerdings werden die westliche und die chinesische Denkweise in ein gegensätzliches Verhältnis gesetzt und etwas vereinfacht dargestellt, wodurch die Offenheit, Dynamik und Komplexität beider Kulturen etwas zu kurz kommt. Auch das Shanzhai-Phänomen sollte nicht als rein chinesisches Phänomen betrachtet werden. Trotz dieser Einschränkungen leistet Hans Buch einen wertvollen Beitrag zur interkulturellen Verständigung. Es regt die LeserInnen dazu an, die in der eigenen Kultur verankerten festen Vorstellungen von Sein, Original und Subjektivität zu hinterfragen und die eigene Perspektive zu erweitern.
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