Abstract
The article attempts to shed more light on the accession of Suinthila to the Visigothic throne after the mysterious deaths of king Sisebut and his son and short-time successor Recared II, and that one of Sisenand who succeeded in overthrowing Suinthila with the help of a Frankish army. The fight for the throne obviously seems to have been the result of the ambitions of two families of the high nobility called primates or optimates in the sources. Besides identifying individual members of these two families, a special focus lies on explaining the causes that enabled Suinthila – presumably a son of Chindasuinth – to win the throne and the reasons for the loss of it to Sisenand – presumably a brother of Sisebut. Finally, the reactions of the Fourth Council of Toledo ( 633 ) to the alarming political events are dealt with. Under the leadership of Isidore of Seville its canon 75 for the first time laid down several basic rules of a constitution for the Visigothic kingdom. Special attention is paid to the oath of fidelity ( sacramentum fidei ) which – as a summary of recent investigations shows – can no longer be regarded as rooted in Germanic traditions, and to the meaning of gens Gothorum which, besides rex and patria, was one of the three constituents the Visigothic Kingdom consisted of.
1. Der Tod Sisebuts und Recareds II.
Unter dem Namen Isidors von Sevilla sind zwei Versionen einer Geschichte der Wisigoten überliefert. Das Verhältnis der – in den sie überliefernden drei Handschriften als ‚Historia Gothorum‘ bezeichneten – kürzeren Fassung und der – in der Mehrzahl der neunzehn Handschriften ‚De origine Gothorum‘ betitelten – längeren Fassung zueinander und auch die Frage, ob Isidor überhaupt der Verfasser der kürzeren war, sind bis heute nicht eindeutig geklärt [1]. Das ist zweifellos ein misslicher Befund angesichts der Tatsache, dass nur diese beiden zeitgenössischen Quellen über den Tod des Königs Sisebut und seines Sohnes Recared [ sic! ] – wohl in der Mitte des Jahres 620 [2] – berichten. Die sog. kürzere Version teilt mit:
Hunc [ Sisebutum ] alii morbo, alii ueneno asserunt interferctum [3].
Die einen versichern, dass dieser [ Sisebut ] von einer Krankheit, die andern, dass er durch Gift getötet wurde.
In der sog. längeren Version heißt es:
Hunc alii proprio morbo, alii inmoderato medicamenti haustu asserunt interfectum. relicto Recaredo filio parvulo, qui post patris obitum princeps paucorum dierum morte interveniente habetur [4].
Die einen versichern, dass dieser von einer eigentümlichen Krankheit, die andern, dass er durch einen übermäßigen Schluck eines Medikamentes getötet worden sei. Er hinterließ den Sohn Recared, noch ein Knäblein, der nach dem Tod des Vaters König wurde, aber bereits nach wenigen Tagen starb.
Auf wen die Nachricht der kürzeren Version von der Vergiftung des Königs Sisebut im Jahr 620 zurückgeht, lässt sich bisher nicht beantworten. Ebenso wenig lassen sich die Motive erschließen, weshalb Isidor diese Nachricht, wenn er sie denn kannte oder sie gar selbst verfasst hatte, in der längeren Version durch eine andere Formulierung ersetzte, die allerdings mehrere Deutungen zulässt. Wer war verantwortlich für den „übermäßigen Schluck des Medikamentes“ – der Patient oder der behandelnde Arzt oder eine andere Person? Handelte es sich um einen medizinischen Kunstfehler oder die Verabreichung eines Medikamentes mit Tötungsabsicht ( die Dosis macht das Gift )? Angesichts dieser Quellenlage kann ein gewaltsames Ende Sisebuts [5] jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Man ist geradezu versucht, in der „eigentümlichen Krankheit“ ( proprius morbus ), an der Sisebut starb, den sprichwörtlichen morbus Gothorum [6] zu vermuten, d. h. Sisebuts gewaltsame Beseitigung infolge innenpolitischer Machtkämpfe. Darauf könnte auch der auffällige Tod des noch im Knabenalter stehenden Recareds II. kurz nach dem seines Vaters hindeuten. Dass Sisebuts Herrschaft keine ungeteilte Anerkennung fand, belegt der – zwar erfolglose – Aufstand, den sein Sohn Theudila aus nicht näher bekannten Gründen und zu einem unbekannten Zeitpunkt gegen seinen Vater unternommen hatte. Wer den Aufstand, den Isidor in seiner Gotengeschichte nicht erwähnt, aus welchen Gründen unterstützte – etwa die von Sisebut in die Defensive gedrängten Byzantiner oder auch die durch die Zwangsbekehrungsmaßnahmen Sisebuts unter äußersten Druck geratenen Juden [7] –, entzieht sich unserer Kenntnis. Theudila ist zum letzten Mal belegt durch den canon 17 des 6. Konzils von Toledo ( 638 ), in dem u. a. von einem detonsus die Rede ist, dem ausdrücklich untersagt wird, nach der Krone zu greifen und der mit Theudila zu identifizieren ist, den sein Vater Sisebut zur Strafe für seinen Aufstand zum Mönch hatte scheren lassen [8].
Darauf, dass der Übergang der Herrschaft von Sisebut zu Suinthila sich nicht so reibungslos vollzog, wie es der noch ausführlich zu behandelnde Bericht Isidors in seiner Gotengeschichte erscheinen lässt, ist aus der Mitteilung der sog. Fredegar-Chronik zu schließen, nach dem Tod Sisebuts sei bis zum Herrschaftsantritt Suinthilas fast ein Jahr vergangen [9]. Den wenige Tage darauf folgenden Tod des Sohnes und Nachfolgers Sisebuts, Recareds II., erwähnt – wie die kürzere Version der ‚Historia Gothorum‘ – auch die sog. Fredegar-Chronik nicht. Offenbar löste die hinsichtlich ihrer Ursachen ungeklärte plötzliche Thronvakanz eine Krise aus, die zu Verzögerungen bzw. Auseinandersetzungen bei der Regelung der Thronfolge führte.
Charakteristisch für die Verfassung des Wisigotenreiches [10] war das Schwanken zwischen dem traditionellen ‚Wahlrecht‘ und der dynastischen Herrscherfolge, wobei die Verfassungswirklichkeit normalerweise durch das dynastische Prinzip geprägt war und beim Übergang der Herrschaft vom Vater auf den Sohn das ‚Wahlrecht‘ nur formalen Charakter besaß. Sobald aber eine Dynastie scheiterte, weil sie nur einen minderjährigen, unerfahrenen oder gar keinen Thronerben hinterließ, kam dem ‚Wahlrecht‘ entscheidende Bedeutung zu. Im hispano-gallischen Gotenreich von Toledo war – nach dem Tod Liuvas II., des Sohnes Reccareds I. von einer Konkubine, infolge seiner gewaltsamen Absetzung – diese kritische Situation 620 erneut eingetreten [11].
Nun ist aus der Ermordung Liuvas II. nicht zwingend auf ein gewaltsames Ende auch Recareds II. zu schließen. Die plötzliche Thronfolge eines Kindes eröffnete allerdings den einflussreichen aristokratischen Kreisen am Königshof in Toledo die seltene Möglichkeit, sich mittels einer Regentschaft oder durch die Beseitigung Recareds II. und die ‚Wahl‘ eines ihnen genehmen Kandidaten zum neuen König ihren Einfluss zu sichern.
Wenn sich die Frage nach dem Ende Recareds II. auch einer abschließenden Klärung entzieht, so steht doch außer Frage, dass nach seinem Tode die Familie Sisebuts nicht ausgestorben war. Denn überlebt hatte ihn ja sein zum Mönch geschorener älterer Bruder Theudila. Außerdem finden sich trotz der äußerst dürftigen Quellenlage noch eine Reihe von Indizien, die es ermöglichen, außer Sisebut und seinen Söhnen Theudila und Recared weitere Mitglieder dieses zu den bedeutenden Primatengeschlechtern des Wisigotenreiches zählenden Familienverbandes zu ermitteln [12]. Ein erster Hinweis ergibt sich aus den Personennamen Sisebut, Sisenand und Visinand, die dem bei den germanischen gentes zur Bezeichnung der Familienzugehörigkeit gebräuchlichen Schema der Namenvariation folgen, wobei das jeweils gleichbleibende Glied eines Namens auf die Verwandtschaft der Namenträger verweist. Die auf Grund der Variation ihrer Namen zu vermutende Verwandtschaft Sisebuts und Sisenands wäre eine plausible Erklärung dafür, weshalb gerade Sisenand den dank fränkischer Unterstützung – noch zu behandelnden – erfolgreichen Aufstand gegen Suinthila anführte. Sisenand, der Sisebut um fünfzehn Jahre überlebte, regierte nur vier Jahre und elf Monate [13]. Vermutlich war er ein Bruder Sisebuts und stand bei seinem Herrschaftsantritt wohl bereits in fortgeschrittenerem Alter.
Für die Verwandtschaft Sisenands, der vor seiner Thronbesteigung wohl dux der Provinz Narbonensis war [14], und Visinands ist – neben der Variation ihrer Namen – der gescheiterte Versuch des letzteren, nach Sisenands Tod ( 12. 03. 636 ) den Thron des Vaters für sich zu erobern, als weiteres Indiz besonders beachtenswert [15].
Visinand war mit einer Schwester des Bischofs Fructuosus von Braga verheiratet, der über seinen Vater – „einen Herzog des spanischen Heeres“ – oder seine Mutter „einem sehr berühmten königlichen Geschlecht entstammte.“ [16] Die Mutter des Fructuosus könnte eine Tochter Reccareds I. gewesen sein. Aus seiner Ehe mit der auf dem 3. Toletanum bezeugten Ehefrau Baddo hatte er keinen Sohn, weshalb ihm sein von einer namentlich nicht bekannten Konkubine geborener Sohn Liuva II. auf dem Thron folgte. Liuva wurde nach dem Bruder seines Großvaters Leovigild, Liuva I., benannt. Aus der Ehe mit Baddo wie auch von der Mutter Liuvas II. ( oder möglichen weiteren Konkubinen ) könnte es aber eine Tochter gegeben haben, die der Vater des Fructuosus geheiratet hatte. Auffällig erschien bereits Roger Collins der Name des zweiten Sohnes des Königs Sisebut, Recareds II. [17], der seinem Vater auf dem Thron folgte. Die Benennung des Enkels nach dem Großvater war bei der unter den Germanen praktizierten Namengebung beliebt. Hatte etwa auch Sisebut wie möglicherweise der Vater des Fructuosus eine weitere Tochter Reccareds I. geheiratet? Da Visinand, der Sohn König Sisenands, mit einer Schwester des Fructuosus verheiratet war, dürfte seine Mutter wegen der kirchlichen Inzestverbote [18] nicht zur Verwandtschaft Reccareds I. gehört haben. Auf eine Verwandtschaft mit Sisebut, Sisenand und Visinand könnte ferner der Name Sisbert hindeuten, dessen Träger die Bewachung Hermenegilds nach seinem gescheiterten Aufstand gegen seinen Vater Leovigild übertragen worden war [19], und der deshalb in einem besonderen Verhältnis zu Leovigild und Reccared I. gestanden haben muss.
Fructuosus’ Vater war dux der Provinz Gallaecia. Sein Nachfolger wurde sein Schwiegersohn Visinand. Fructuosus’ Bruder Adulphus ist vielleicht mit dem gleichnamigen comes scanciarum et dux und vir inluster officii palatini identisch, der 653 am 8. Konzil von Toledo teilnahm. Über seinen zweiten Bruder, Bricio/Britio, war Fructuosus wohl auch verschwägert mit dem Bischof Braulio von Saragossa. Ein – nicht näher zu bestimmendes – verwandtschaftliches Verhältnis bestand auch mit den Bischöfen Sclua von Narbonne ( letzter Beleg 638 ) und Petrus von Béziers ( letzter Beleg 633 ), die der Generation Sisebuts und Sisenands angehörten [20].
Nicht ausschließen möchte man, dass Theudila nach dem Tod seines Vaters Sisebut und seines jüngeren Bruders, König Recareds II., deren Nachfolge anstrebte. Seine Kandidatur dürfte aber auf den Widerstand der Kirche gestoßen sein, die das Mönchsgelübde Theudilas für bindend hielt, auch wenn er es nur unter Zwang geleistet hatte. Auch bei den Gefolgsleuten seines Vaters dürfte seine Kandidatur kaum Unterstützung gefunden haben, mussten sie doch befürchten, unter einem König Theudila ihre Stellung an die wegen Beteiligung am Aufstand gegen seinen Vater Verurteilten zu verlieren. Die bestehende Macht- und Besitzverteilung konnte am besten dann erhalten bleiben, wenn der neue König selbst ein Mitglied der alten Führungsschicht, der fideles, des verstorbenen Sisebut war.
Die ‚Wahl‘ eines entsprechenden Kandidaten war aber nicht garantiert, setzte sie doch seine Unterstützung durch einen wesentlichen Teil der bedeutenden Aristokratenfamilien des Reiches und ihrer Gefolgschaften voraus, die mit den fideles regis, namentlich den Angehörigen der Hofaristokratie und ihren Interessen nur teilweise identisch waren. Die ‚Wahl‘ eines wisigotischen Königs erfolgte nämlich nicht durch die in einem Wahlgang durch Stimmabgabe erzielte numerische Mehrheit. Eine dafür erforderliche Bestimmung, wer zu den Wahlberechtigten zählte, existierte nicht. ‚Wahl‘ bedeutete vielmehr, einen möglichst breiten Konsens unter den Führungsschichten des Reiches in Adel und Klerus für einen Kandidaten zu erzielen. Ein solcher Konsens dürfte gegen den Widerstand des mächtigen Adelsverbands der Verwandten der beiden kurz nacheinander gestorbenen Könige wohl nur schwer zu erzielen gewesen sein. Die mehr als einjährige Thronvakanz nach dem Tod Sisebuts und Recareds II. deutet jedenfalls darauf hin, dass eine Einigung deshalb und/oder aus nicht überlieferten anderen Gründen offensichtlich nicht möglich war. Als Ausweg aus dieser aussichtslosen Situation blieb nur eine Königserhebung ohne ‚Wahl‘.
2. Herrschaftsantritt ( 621 ) und Regierung Suinthilas Bis 625
Gleich im Anschluss an die Nachricht vom Tod Sisebuts und Recareds II. fasst Isidor, ohne die länger andauernde Thronvakanz zu erwähnen, den Herrschaftsantritt und die Regierung Suinthilas bis zum Jahr 625, mit dem die sog. längere Version seiner Gotengeschichte endet, folgendermaßen zusammen:
( 62 ) Aera DCLVIIII, anno imperii Heraclii X gloriosissimus Suinthila gratia divina regni suscepit sceptra. iste sub rege Sisebuto ducis nanctus officium Romana castra perdomuit, Ruccones superavit, postquam vero apicem vestigii regalis conscendit, urbes residuas, quas in Hispaniis Romana manus agebat, proelio conserto obtinuit auctamque triumphi gloriam prae ceteris regibus felicitate mirabili reportavit, totius Spaniae intra oceani fretum monarchiam regni primus idem potitus, quo nulli retro principum est conlatum. auxit eo proelio virtutis eius titulum duorum patriciorum obtentus, quorum alterum prudentia suum fecit, alterum virtute sibi subiecit.
( 62 ) In der Aera 659, im 10. Regierungsjahr des Heraclius empfing der sehr ruhmreiche Suinthila durch die göttliche Gnade das Szepter. Als er unter dem König Sisebut zum dux aufgestiegen war, bezwang er die Lager der Römer vollständig und überwand die Ruccones. Nachdem er aber den Gipfel der königlichen Würde erklommen hatte, eroberte er in ununterbrochenem Kampf die restlichen in Spanien noch von den Römern gehaltenen Städte und brachte durch erstaunliches Glück einen ruhmreicheren Triumph zurück als alle übrigen Könige. Er erlangte als erster die Alleinherrschaft über ein ganz Spanien nördlich der Meerenge umfassendes Reich, das vorher noch keinem König übertragen worden war. In diesem Kampf mehrte die Gefangennahme zweier patricii,
von denen er den einen durch Klugheit auf seine Seite zog und den anderen durch seine Stärke unterwarf, den Ruhm seiner Tapferkeit.
( 63 ) Habuit quoque in initio regni expeditionem contra incursus Vasconum Tarraconensiam provinciam infestantium, ubi adeo montivagi populi terrore adventus eius perculsi sunt, ut confestim quasi debita iura noscentes remissis telis et expeditis ad precem manibus supplices ei colla submitterent, obsides darent, Ologicus civitatem Gothorum stipendiis suis et laboribus conderent, pollicentes eius regno dicionique parere et quicquid imperaretur efficiere.
( 63 ) Zu Beginn seiner Herrschaft unternahm er auch einen Feldzug gegen die Basken, die die Provinz Tarraconensis angriffen. Dort wurden die bergdurchschweifenden Völker durch den Schrecken seiner Ankunft sofort niedergeworfen, so dass sie – gleichsam als seien ihnen die rechtlichen Pflichten bekannt – sofort die Waffen niederlegten und mit zum Bitten befreiten Händen sich ihm kniefällig unterwarfen, Geiseln stellten, mit ihren Mitteln und mit ihrer Arbeit die Stadt der Goten Ologicus errichteten und versprachen, seiner Herrschaft und Befehlsgewalt zu gehorchen und alle seine Befehle auszuführen.
( 64 ) Praeter has militaris gloriae laudes plurimae in eo regiae maiestatis virtutes: fides, prudentia, industria, in iudiciis examinatio strenua, in regendo regno cura praecipua, circa omnes munificentia, largus erga indigentes et inopes, misericordia satis promptus, ita ut non solum princeps populorum, sed etiam pater pauperum vocari sit dignus.
( 64 ) Außer diesem lobenswerten militärischen Ruhm verfügte er über viele Tugenden einer königlichen Majestät: Treue, Klugheit, Fleiß, wirksame Kontrolle bei Urteilssprüchen, besondere Sorgfalt bei der Regierung des Reiches, Freigiebigkeit gegenüber allen. Durch reichlich gezeigtes Mitleid ist er freigiebig gegen Bedürftige und Mittellose, so dass er nicht nur würdig ist, König der Völker, sondern auch Vater der Armen genannt zu werden.
( 65 ) Huius filius Riccimirus in consortio regni adsumptus pari cum patre solio conlaetatur; in cuius infantia ita sacrae indolis splendor emicat, ut in eo et meritis et vultu paternarum virtutum effigies praenotetur. pro quo exorandus est caeli atque humani generis rector, ut sicut extat consensu patrio socius, ita post longaevum parentis imperium sit et regni successione ( lies: successioni ) dignissimus [21].
( 65 ) Sein Sohn Riccimir erfreut sich, nachdem er zum Mitregenten gemacht wurde, mit seinem Vater an demselben Thron. Bereits in seiner Kindheit strahlt der Glanz seines heiligen Charakters so sehr, dass in ihm sowohl durch Verdienste als durch das Aussehen das Bild der väterlichen Tugenden im Voraus gekennzeichnet wird. Für ihn ist der Lenker des Himmels und des Menschengeschlechtes anzuflehen, damit er, so wie er heute durch väterliche Zustimmung als Mitregent hervorragt, so auch nach einer langandauernden Herrschaft des Vaters am würdigsten sei für die Herrschaftsnachfolge.
Aus den Formulierungen zur Bezeichnung der Nachfolge Suinthilas in der Herrschaft – „Suinthila empfing das Szepter durch göttliche Gnade“ ( Suinthila gratia divina regni suscepit sceptra ) und „er erreichte den Gipfel der königlichen Würde“ ( apicem vestigii regalis conscendit ) – möchte man schließen, dass keine ‚Wahl‘ stattgefunden hatte [22]. Sie unterscheiden sich nämlich von den anderen Nachrichten über die Herrschaftsnachfolge in ‚De origine Gothorum‘, in denen Isidor zwischen Wahlakten, der Beteiligung nicht näher bekannter Personengruppen, dynastischen Gründen oder Gewaltanwendung bei der Herrschaftsnachfolge unterscheidet [23]. Isidors Formulierung spiegelt zwar die zeitgenössische Vorstellung von der letztlich durch die göttliche Vorsehung vorherbestimmten Herrschernachfolge [24]. Über die politischen Mittel, deren sie sich bediente, damit gerade Suinthila den Thron erlangte, verrät sie allerdings nichts. Die Suche nach ihnen muss sich angesichts der Quellenlage mit Hypothesen begnügen.
Suinthila gehörte zu den bedeutendsten und mächtigsten Amtsträgern, den duces der sechs Provinzen des Reiches, in denen sie bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts die oberste militärische Gewalt innehatten und erst danach auch für die Rechtsprechung und die Finanzen zuständig waren. Sie führten den Titel comes, d. h. Begleiter, der die besondere Nähe seines Trägers zum Herrscher zum Ausdruck brachte, und zählten zu den fideles regis. Ihm waren sie durch einen Eid zu bereitwilliger und treuer Gefolgschaft ( promptum ac fidele obsequium ) und zu rechtschaffenem Dienst ( sincerum servitium ) verpflichtet, wofür sie mit königlichen Geschenken und der Leihe von Fiskalgütern für die zu leistenden militärischen Dienste ausgestattet wurden. Daneben verfügten sie auch über ausgedehnten eigenen Grundbesitz und private Gefolgschaften [25].
Neben Suinthila ist aus der Regierungszeit Sisebuts noch der dux Richila – ebenfalls ohne Amtssprengel – belegt. Auch Sisenand, wohl Sisebuts Bruder und dux der Provinz Narbonensis, und der namentlich nicht bekannte Vater des Fructuosus, dux der Provinz Gallaecia und Schwiegervater Visinands, wohl Sisenands Sohn, dürften bereits unter Sisebut im Amt gewesen sein. Außer Richila, der einen Feldzug gegen die Asturer führte [26], glänzte vor allem Suinthila als militärischer Anführer durch seine Siege über die Ruccones im Norden und vor allem gegen die Byzantiner im Süden [27]. Seine militärischen Unternehmungen könnten darauf hindeuten, dass er dux der Provinz Carthaginiensis war [28], die an die byzantinische Exklave im Süden Spaniens grenzte und im Norden bis an die kantabrische Cordilliere reichte. In ihr lag auch die urbs regia Toledo mit dem Sitz des Metropolitanbischofs der Provinz.
Weitere Indizien für diese Ansicht lassen sich aus onomastisch-prosopographischen Überlegungen gewinnen, die hier nur angedeutet und bei Gelegenheit an anderer Stelle weiterverfolgt werden sollen. Auffällig ist, dass die Erstglieder der Personennamen Chint-ila und Suinth-ila zusammen den zweigliedrigen Namen Chinda-suinth ergeben. Chintila setzte sich im Kampf um die Nachfolge Sisenands durch, der Suinthila gestürzt hatte. Sisenands Sohn Visinand hatte ebenso um die Nachfolge seines Vaters gekämpft wie der zum Mönch geschorene Sohn Sisebuts, Theudila [29]. Ein besonderer Grund für Chintilas Kampf um die Thronfolge ergäbe sich, wenn er und Suinthila und auch dessen durch das 4. Toletanum bezeugter Bruder Geila Söhne Chindasuinths gewesen wären, dessen Geschlecht nach der Absetzung von Chintilas Sohn Tulga mit Chindasuinth selbst und dessen Sohn Reccesuinth dann insgesamt fünf Könige des hispano-gallischen Wisigotenreiches gestellt hätte. Den aus den Gliedern Recce- und -suinth zusammengesetzten Namen Reccesuinth darf man als ein Indiz für die kontrovers diskutierte Überlieferung werten, dass Recciberga die Gemahlin König Chindasuinths und nicht seines Sohnes Reccesuinth gewesen ist [30]. Auf Besitz der Familie Chindasuinths auf den campi Gotorum im Norden der Carthaginiensis ist wegen der dort wohl von Chindasuinth erbauten Kirche San Román de Hornija ( Valladolid ) und der von seinem Sohn Reccesuinth gestiftetenen Kirche San Juan de Baños ( Palencia ) zu schließen [31]. Vielleicht amtierte dort schon Chindasuinth als dux.
Dass Suinthila der Griff nach der Krone gelang, dürfte auch daran gelegen haben, dass er als herausgehobener und siegreicher Truppenführer über die nötigen militärischen und auch wirtschaftlichen Mittel verfügte, um in einer Situation, in der eine konsensuale Regelung der Thronfolge offenbar nicht möglich war, im Alleingang die Herrschaft erfolgreich für sich zu erobern. Wenn er dux der Provinz Carthaginiensis war, hätte er nach Eintritt der Thronvakanz zudem einen leichten Zugriff auf die in seinem Amtssprengel gelegene königliche Residenz, das palatium regis mit der Regierungszentrale ( officium palatinum und aula regia ) und den Königsschatz gehabt – weitere günstige Voraussetzungen für den Erfolg seines Unternehmens. Dieser könnte ferner dadurch begünstigt worden sein, dass man sich im Familienverband Sisebuts nicht auf einen Kandidaten für die Thronfolge hatte einigen können. Diese innerfamiliäre Auseinandersetzung dauerte offensichtlich auch nach Sisenands im Bund mit dem Frankenkönig Dagobert I. ( † 638/639 ) über Suinthila errungenen Sieg an, worauf noch näher einzugehen ist.
In der 625 abgeschlossenen sog. längeren Version seiner Gotengeschichte stellt Isidor Suinthila für die erste Hälfte seiner Regierungszeit ein glänzendes Zeugnis aus. Neben der endgültigen Vertreibung der Byzantiner aus Spanien und einem weiteren Sieg über die Basken rühmt Isidor den König wegen seiner herrscherlichen Tugenden, wobei er dessen wirksame Kontrolle der Rechtsprechung, seine besondere Sorgfalt bei den Regierungsgeschäften und seine Freigiebigkeit gegen jedermann hervorhebt. Schließlich verleiht er ihm den ungewöhnlichen Ehrentitel pater pauperum, der nach dem Verständnis Isidors von Sevilla alle anderen Titel überragte. Denn die an den Armen ausgeübte ausgleichende Gerechtigkeit war Ausdruck der Nächstenliebe, die für Isidor das Bindeglied aller Tugenden darstellte [32]. Welcher Kreis von pauperes – worunter die freien Armen, auch ehemals Wohlhabende, und nicht die servi und andere subditi ( Freigelassene, Kolonen, Pächter, Patroziniumspflichtige, für deren Unterhalt ihre jeweiligen Herren verantwortlich waren ) zu verstehen sind, und zu denen im Wisigotenreich der größte Teil der in der Landwirtschaft und anderen Erwerbszweigen beschäftigten freien Bevölkerung gehört haben dürfte – in den Genuss der Freigiebigkeit Suinthilas gelangte, lässt sich nicht eindeutig klären, ebenso wenig, ob bei ihrer Durchsetzung umfangreichere Schenkungen an die Kirche, die sich für die Armenfürsorge besonders verantwortlich fühlte, eine Rolle spielten. Neben ihren karitativen darf man aber die machtpolitischen Aspekte dieser königlichen Armenfürsorge nicht übersehen, etwa die Gewinnung neuer Gefolgsleute oder der besonderen Unterstützung des Königs durch die Kirche. Andererseits war diese Politik aber ohne größere Umschichtungen von Vermögen durch Umverteilungen und Konfiskationen nicht möglich, die den Unwillen der davon betroffenen, oft einflussreichen ehemaligen Besitzer hervorrufen mussten [33].
Durch seine militärischen und innenpolitischen Erfolge glaubte Suinthila seine Herrschaft aber offenbar so sehr gefestigt, dass er mit der Erhebung seines Sohnes Riccimir zum Mitherrscher ( consors regni ) den Versuch unternahm, eine Dynastie zu begründen, für die Isidor den Segen Gottes erflehte.
3. Der Sturz Suinthilas durch Sisenand 631
Aufgrund der Würdigung Isidors erscheint Suinthila geradezu als die Verkörperung eines idealen Herrschers. Umso mehr muss es daher verwundern, dass er bereits 631 gewaltsam vom Thron verjagt wurde [34]. Über den Sturz Suinthilas unterrichtet die kurz nach der Mitte des 7. Jahrhunderts im Frankenreich verfasste Chronik des sog. Fredegar [35]:
Eo anno quod partebus Spaniae vel eorum regibus contigerit, non pretermittam. Defuncto Sisebodo rige climentissimo, cui Sintela ante annum circiter successerat in regnum, cum esset Sintela nimium in suis inicus et cum omnibus regni suae primatibus odium incurreret, cum consilium cyteris Sisenandus quidam ex proceribus ad Dagobertum expetit, ut ei cum exercito auxiliaretur, qualiter Sintilanem degradaret ad regnum. Huius beneficiae repensionem missurium aureum nobelissimum ex tinsauris Gothorum, quem Tursemodus rex ab Agecio patricio acceperat, Dagobertum dare promisit, pensantem auri pondus quinnentus. Quo audito Dagobertus, ut erat cupedus, exercitum in ausilium Sisenandi de totum regnum Burgundiae bannire precepit. Cumque in Espania devolgatum fuisset, exercitum Francorum ausiliandum Sisenando adgregere, omnis Gotorum exercitus se dicione Sisenando subaegit. Abundancius et
Was in diesem Jahre Spanien und dessen Königen geschah, will ich nicht übergehen. Nach dem Tod des so milden Königs Sisebut war Suinthila ungefähr noch vor Jahresfrist in der Herrschaft gefolgt; als dieser sich aber seinen Leuten gegenüber sehr ungerecht zeigte und sich den Haß aller Großen seines Reiches zuzog, richtete Sisenand, einer von den Großen, auf Anraten der anderen an Dagobert die Bitte, ihm mit einem Heere beizustehen, um Suinthila so von der Herrschaft zu vertreiben. Für diese Hilfeleistung versprach er, Dagobert aus dem Schatz der Goten das weit gerühmte, fünfhundert Pfund Gold schwere Becken zu schenken, das der König Thorismund vom Patricius Aetius erhalten hatte. Als Dagobert dies hörte, gab er, habgierig wie er war, den Befehl, aus dem gesamten Reich Burgund ein Heer zur Unterstützung Sisenands aufzubieten. Sobald in Spanien bekannt wurde, daß ein Heer der Franken Sisenand zur Hilfe eile, unterwarf sich das gesamte Heer der
Venerandus cum exercito Tolosano tanto usque Cesaragustam civitatem cum Sisenando acesserunt; ibique omnes Goti de regnum Spaniae Sisenandum sublimant in regnum. Abundancius et Venerandus cum exercito Tolosano muneribus onorati revertunt ad propries sedibus. Dagobertus legacionem ad Sisenando rigi Amalgario duce et Venerando dirigit, ut missurium illum quem promiserat eidem dirigeret. Cumque a Sisenando rigi missurius ille legaturius fuisset tradetus, a Gotis per vim tolletur, nec eum exinde excobere permiserunt. Postea, discurrentes legatus, ducenta milia soledus missuriae huius praecium Dagobertus a Sisenandum accipiens, ipsumque pensavit [36].
Goten der Herrschaft Sisenands. Abundantius und Venerandus marschierten mit dem Heere, ( das sie in ) Toulouse ( gesammelt hatten, ) und mit Sisenand nur bis Zaragoza; dort erhoben alle Goten aus dem Reiche Spanien Sisenand auf den Thron. Abundantius und Venerandus kehrten mit dem tolosanischen Heere reichlich geehrt in ihre Heimat zurück. Dagobert schickte den dux Amalgar und Venerandus als Gesandtschaft an den König Sisenand mit dem Auftrag, er solle ihm das versprochene Becken übersenden. Als aber dieses Becken vom König Sisenand den Gesandten ausgehändigt worden war, raubten die Goten es unter Gewaltanwendung und verhinderten, es von dort wegzuführen. Nach einigen Unterhandlungen aber hielt sich Dagobert an dem Becken schadlos, indem er als Entschädigung für dieses Becken 200 000 Solidi von Sisenand erhielt.
Als Grund für den Aufstand nennt der sog. Fredegar, Suinthila habe sich gegenüber seinen Leuten ungerecht verhalten und sich den Hass aller Großen zugezogen. Diese Aussage steht in auffälligem Gegensatz zu dem ausgesprochen positiven Bild, das Isidor von Suinthila zeichnet. Allerdings nennt auch der canon 75 des von Isidor präsidierten 4. Konzils von Toledo als Grund für den Sturz Suinthilas dessen Ungerechtigkeit, deren Opfer die „Unglücklichen“ ( miseri ) gewesen seien, an deren Besitz Suinthila sich bereichert habe [37]. Ob dem Verfasser der sog. Fredegar-Chronik die Akten des 4. Toletanum bekannt waren, kann man vermuten [38], aber nicht belegen. Weitere Quellen für ihren Bericht lassen sich nicht ermitteln. Wenn wir aus der Gotengeschichte Isidors über Spannungen zwischen Suinthila und den Großen des Reiches nichts erfahren, dann könnte das daher rühren, dass Isidor sie – wie manch andere für die Geschichte der Wisigoten bedeutsamen Ereignisse, von denen hier nur der für unseren Kontext besonders relevante Usurpationsversuch Theudilas gegen seinen Vater Sisebut erwähnt sei – entweder verschwieg, oder dass es sie bis zum Jahr 625 nicht gegeben hat.
Unstrittig ist, dass die Thronbesteigung Suinthilas und vollends die Erhebung seines Sohnes Riccimir zum Mitregenten, die Hoffnungen der Angehörigen der Familie Sisebuts auf die Rückkehr eines der Ihren auf den Thron zunichte zu machen drohten. Die Bestimmung Riccimirs zum Thronfolger dürfte ferner bei all denjenigen Angehörigen des Adels auf Widerstand gestoßen sein, die nicht zu den vom König Begünstigten gehörten und die um den Verlust ihres tradierten Königswahlrechtes fürchteten. Wollte Suinthila die Macht behaupten, dann musste er um ein für sich günstiges Verhältnis zwischen der Zahl seiner Anhänger und Gegner bemüht sein. Da ihm zur Gewinnung weiterer Getreuer ( fideles regis ) weder aus seinem Privatvermögen noch aus dem Besitz des Fiskus unbegrenzte Mittel zur Verfügung standen, blieb ihm nur die Möglichkeit, sich durch die Konfiskation von Besitztümern seiner Gegner die benötigten Ressourcen zu verschaffen [39]. Dieses sowohl in der sog. Fredegar-Chronik wie im canon 75 gebrandmarkte „ungerechte Verhalten“ des Königs hatte zwar nicht „den Hass aller“, aber doch eines erheblichen Teiles der „Großen“ zur Folge.
Ein Nachhall dieser Vorgänge findet sich wohl noch in den ‚Sententiae‘, die Isidor am Ende seines Lebens verfasste. Dort führt er aus:
De rapinis alienis elemosinam facere non est officium miserationis, sed emolumentum sceleris; [ … ]
Von dem, was man anderen gestohlen hat, Almosen zu geben, ist kein Werk der Barmherzigkeit, sondern eine Steigerung des Verbrechens. [ … ]
Magnum scelus est rem pauperum praestare diuitibus, et de sumptibus inopum adquirere fauores potentum; arentis terrae aquam tollere, et flumina quae non indigent inrigare [40].
Es ist ein schweres Verbrechen, den Besitz der Armen den Reichen zu geben und sich die Gunst der Mächtigen mit dem Geld der Bedürftigen zu erwerben, dem trockenen Land das Wasser zu entziehen und die Flüsse, die es nicht nötig haben, zu berieseln.
Mit dem „Besitz der Armen“, die ja über zu enteignenden Besitz nicht verfügten, ist das Vermögen der Kirche gemeint, von dem ein Drittel für die Armenpflege bestimmt war [41]. Gegen die Enteignung von Kirchengut durch Suinthila regte sich verständlicherweise Widerstand unter den Bischöfen, an dem sich offenbar auch der Bischof Martianus von Astigi/Écija beteiligte. Er wurde nämlich von einer – nicht genau datierten [42] – Synode der Kirchenprovinz Baetica unter dem Vorsitz Isidors von Sevilla abgesetzt, weil er mit einer Sklavin Geschlechtsverkehr gehabt, Reden gegen den König gehalten und eine Wahrsagerin nach dem Todeszeitpunkt des Königs befragt habe, wobei es sich, wie sich nach dem Sturz Suinthilas herausstellte, um Falschaussagen handelte [43]. Auf königliche Einmischung könnte auch die Absetzung eines Bischofs von Córdoba zurückzuführen sein, dem ebenfalls ein Verstoß gegen den Zölibat vorgeworfen wurde. Auffällig ist nämlich, dass die Amtsenthebung nicht von der dafür zuständigen Provinzialsynode der Baetica unter Vorsitz ihres Metropoliten Isidor von Sevilla, sondern von einer Provinzialsynode der Carthaginiensis unter Vorsitz des Metropoliten Helladius von Toledo verfügt wurde. Auf eine – freiwillige oder erzwungene – Kooperation zwischen Suinthila und dem Bischof der urbs regia scheinen jedenfalls sein Rücktritt vom Bischofsamt und seine Rückkehr ins Kloster nach Suinthilas Sturz hinzudeuten [44].
Die Quellenlage erlaubt keine weiteren Konkretisierungen der Maßnahmen, mit denen Suinthila die Herrschaft seiner Familie zu festigen bemüht war. Offenbar hatte der König seine Gegner aber bereits so sehr geschwächt, dass sie sich einen erfolgreichen Aufstand gegen ihn nur mit fränkischer Hilfe zutrauten. Der fränkische Vorstoß auf spanisches Gebiet bis nach Saragossa erfolgte von Toulouse aus, der Hauptstadt des auf Teile Aquitaniens beschränkten Unterkönigreiches Chariberts II., dessen älterer Bruder Dagobert I. die Alleinherrschaft im Frankenreich anstrebte [45]. Das dürfte darauf hindeuten, dass Charibert II., über dessen Todesursache und -zeitpunkt ( 631/632 ) keine exakten Informationen vorliegen, zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschaltet worden war. Welche Absichten – neben Erlangung der vom sog. Fredegar genannten Zahlungen – Dagobert I. mit der Unterstützung des von Sisenand geführten Aufstandes verfolgte, ist nicht eindeutig erkennbar. Eine Stärkung des Frankenreiches durch eine Alleinherrschaft Dagoberts I. lag wohl nicht im Interesse des Wisigotenreiches und hätte Suinthila zu einer Unterstützung für Charibert II. veranlassen können, während die Hilfe Dagoberts I. für den Aufstand Sisenands ihr entgegengewirkt hätte. Angesichts der durch das fränkische Expeditionscorps bewirkten Übermacht der von Sisenand geführten Aufständischen verweigerten die Truppen Suinthilas den Kampf und liefen zum Gegner über. Zu den Überläufern gehörte auch Suinthilas Bruder Geila. Der König wurde mit seiner Familie gefangengenommen [46].
Um eine schnelle Konsolidierung der dramatisch veränderten innenpolitischen Lage zu erreichen, hatte Sisenand bereits für das Jahr 632 ein Reichskonzil nach Toledo einberufen. Schon hatten sich die Konzilsväter auf den Weg in die urbs regia gemacht, als Sisenand sich gezwungen sah, das geplante Konzil aufzuschieben, weil er zunächst einen gegen ihn gerichteten Aufstand niederschlagen musste. Der Anführer der Erhebung ist wahrscheinlich durch drei Münzen überliefert, die nach der Lesung der bisherigen Herausgeber auf der Vorderseite die Inschrift IUΔIILA REX bzw. IUDILA REX tragen [47].
Da die Quellen nichts weiter über den Aufstand berichten, können Spekulationen über die Person des Usurpators und seine Motive nur am Namen anknüpfen. An der von Pio Beltrán Villagrassa geäußerten Ansicht, bei Iudila könnte es sich um Suinthilas Bruder Geila gehandelt haben, hat bereits Ruth Pliego Vázquez zu Recht bemängelt, „la equivalencia filológica Geila, Gudila( ? ) = Idulia no es muy clara.“ [48] Wolfgang Haubrichs stellt den Namen Judila zu germanisch *eutha- = ‚Sproß‘, ‚proles‘, da das ‚iu‘ die ostgermanische Entwicklung der Schreibung des Diphthongs ‚eu‘ widerspiegele. Das Diminutiv Iudila ( gesprochen [ eudila ] ) sei semantisch als ‚Sprössling‘ zu beschreiben [49]. Nun verwundert es, dass sich beim Personennamen Iudila noch im beginnenden 7. Jahrhundert die ostgermanische Schreibweise für ‚eu‘ findet, bei den Namen Eutharich oder Eurich dagegen nicht. Handelt es sich bei dem ersten Buchstaben des auf den drei Münzen überlieferten Namens vielleicht gar nicht um ein ‚I‘?
Bereits an anderer Stelle haben wir darauf hingewiesen, dass mit dem decalvatus [50] und dem detonsus, deren Königserhebung canon 17 des 6. Konzils von Toledo verbietet, Visinand, der Sohn Sisenands, und Theudila, der Sohn Sisebuts, gemeint sind. Theudila, der nach seinem gescheiterten Aufstand gegen seinen Vater zum Mönch geschoren und hinter Klostermauern eingesperrt worden war, lebte also 638 noch. Nach Sisenands Tod 636 hatte er – wie auch Visinand – vergeblich versucht, König zu werden [51]. Es wäre nicht unwahrscheinlich, wenn er einen ähnlichen Versuch bereits nach dem Sturz Suinthilas unternommen hätte, um die Bestätigung Sisenands als König durch das bereits für 632 einberufene Reichskonzil zu verhindern. Der peinliche Umstand, dass ein Mitglied des Familienverbandes Sisenands eine Revolte gegen ihn angezettelt hatte, könnte auch erklären, weshalb der Name des Usurpators, der offenbar auch von Geila, dem Bruder des gestürzten Königs Suinthila unterstützt wurde, im canon 75 des 4. Toletanum nicht erwähnt wurde.
Liest man den Anfangsbuchstaben des auf den drei Münzen überlieferten Namens nicht als ‚I‘, sondern als ‚T‘, dann ergibt sich der Personenname Tudila, der als Variante für Teudila/Theudila auch in einem Toletaner Codex des 16. Jahrhunderts belegt ist, der ältesten Handschrift, in der das Schreiben Sisebuts an seinen Sohn Theudila überliefert ist. Diese geht über einen verschollenen Codex uetustissimus Ovetensis ( Ende 11./Anfang 12. Jahrhundert ) auf einen nicht erhaltenen Archetyp wohl aus der Mitte des 7. Jahrhunderts zurück [52]. Damit wäre ein Indiz dafür gewonnen, dass es sich bei dem auf den drei Münzen überlieferten rex um Sisebuts Sohn Theudila gehandelt hat. Diese hypothetischen Überlegungen können natürlich keinen Beweischarakter beanspruchen, vielleicht aber zu weiterer Diskussion anregen. Selbst wenn die Lesung Iudila Rex korrekt ist, fehlt für die verbreitete Ansicht, Iudila sei mit dem Usurpator gegen Sisenand zu identifizieren, ein eindeutiger Beweis.
Erst nach der Niederschlagung des Aufstandes trat am 5. Dezember 633 das 4. Konzil von Toledo zusammen, das sich – wie 74 seiner überlieferten canones ausweisen – mit einer umfassenden Reform der Kirche des Wisigotenreiches befasste und dessen letzter, der canon 75 – mit 1.265 Wörtern einer der längsten canones der wisigotischen Konzilien –, Grundsätze für eine Befriedung und Regulierung der innenpolitischen Lage des Reiches aufstellte [53].
Gewaltsame Thronwechsel waren bei den Wisigoten keine Seltenheit gewesen. Denn von den 24 vor Sisenand regierenden wisigotischen Königen war – unterstellt man auch ein gewaltsames Ende Sisebuts und Recareds II. – die Hälfte Opfer des morbus Gothorum geworden. Nur Suinthila war nach seinem Sturz der Tod erspart geblieben. Versuche, anstatt der ‚Herrscherwahl‘ die dynastische Herrschaftsnachfolge zu etablieren, waren fehlgeschlagen, und auch Usurpatoren behaupteten sich als Könige. Von einer rechtlich verbindlichen Thronfolgeordnung kann angesichts dieses Befundes keine Rede sein [54]. Erst nach dem Sturz Suinthilas wurden im canon 75 für das Wisigotenreich erstmals eine Reihe verbindlicher verfassungsrechtlicher Grundsätze schriftlich fixiert. Der Vorgang ist ein beeindruckendes Zeugnis für die bedeutende Stellung, die die Kirche in den 44 Jahren seit der auf dem 3. Konzil von Toledo ( 589 ) dokumentierten Konversion der Goten zum Katholizismus unter dem König Reccared I. im Wisigotenreich erlangt hatte. Unter der Leitung des durch sein ebenso umfangreiches wie vielseitiges literarisches Werk und seine politischen Erfahrungen ausgezeichneten Isidor von Sevilla, der als Dienstältester der Metropoliten den Vorsitz des Konzils innehatte, verfügte sie über die nötigen Kompetenzen für eine solche Aufgabe.
Die Tatsache, dass sich nach der Niederschlagung des Theudila?-Aufstandes 66 Bischöfe aus allen Provinzen des Reiches ungehindert in der urbs regia zu einem generale concilium versammeln konnten, ist als Beleg dafür zu werten, dass es Sisenand bereits vor dem Zusammentritt des Konzils gelungen war, seine Herrschaft endgültig durchzusetzen. Schon angesichts dieser innenpolitischen Lage verbietet sich die Deutung der im Prooemium des 4. Toletanum bezeugten Prostration Sisenands bei der Eröffnung des Konzils „als eine Art Bußakt, Demuts- oder Devotionsritus, gar als Unterwerfungsritual oder -zeremoniell“, wodurch „sich Sisenand die Unterstützung des Konzils für die Stabilisierung seiner durch Usurpation erlangten Herrschaft erkauft“ habe. Diese Auffassung resultiert aus einem falschen Verständnis der Prostration, bei der es sich lediglich um eine für die Zeit gebräuchliche Gebetshaltung handelte [55].
Das Konzil wurde in enger Zusammenarbeit zwischen dem König und Isidor vorbereitet. Aus einem Brief Isidors an seinen Freund Braulio, den Bischof von Saragossa, erfahren wir, dass die Absage des Konzils – wegen des in dem Schreiben nicht erwähnten Theudila?-Aufstandes – Isidor auf dem Weg nach Toledo erreichte. Der königlichen Aufforderung zurückzukehren folgte er aber nicht, sondern setzte seine Reise fort und nutzte die Zeit für Beratungen am Königshof [56], bei denen mit Sicherheit auch die seit dem Sturz Suinthilas eingetretene innenpolitische Lage eine besondere Rolle spielte und neben dem Reformprogramm für die Kirche des hispano-gallischen Gotenreiches auch Fragen der Verfassung des Reiches erörtert wurden, die Gegenstand des canon 75 sind. Die enge Zusammenarbeit zwischen Sisenand und Isidor darf als ein weiterer Beleg für die Verwandtschaft Sisebuts, mit dem Isidor eine besondere Freundschaft verband, und Sisenands gewertet werden.
4. Die Reaktion des 4. Konzils von Toledo auf den Herrscherwechsel von 631
Das 4. Konzil von Toldo ( 633 ) reagierte auf den Herrscherwechsel von 631 mit einem in canon 75 niedergelegten bischöflichen Dekret pro robore nostrorum regum et stabilitate gentis Gotorum. Um das im Rubrum genannte Ziel zu erreichen, formulierten die Bischöfe erstmals in schriftlicher Form wesentliche Elemente einer Verfassungsordnung für das Wisigotenreich. Es wurde in Gegenwart des Königs Sisenand und der anwesenden Kleriker und Laien, deren Zahl und Zusammensetzung nicht überliefert sind, publiziert. Der König und die Bischöfe verpflichteten sich zur Einhaltung der Bestimmungen des canon 75 durch ihre Unterschriften und die anwesenden übrigen Kleriker und Laien durch Akklamation. Der Sturz Suinthilas wird nicht näher kommentiert und der Aufstand Theudilas? nicht ausdrücklich erwähnt. Auffallend ist der paränetische Duktus weiter Passagen des Dekrets und sein ganz wesentlich von Vorstellungen Isidors geprägter Inhalt. Im Folgenden wird der nach seinem Inhalt gegliederte Text des canon [57] mit einer Übersetzung [58] präsentiert und erläutert.
4.1 Das Rubrum
Post instituta quaedam ecclesiastici ordinis uel decreta quae ad quorundam pertinent disciplinam, postrema nobis cunctis sacerdotibus sententia est pro robore nostrorum regum et stabilitate gentis Gotorum pontificale ultimum sub Deo iudice ferre decretum [59].
Nach verschiedenen Bestimmungen der kirchlichen Ordnung und Verordnungen, die sich auf die Disziplin gewisser Personen beziehen, haben wir Bischöfe alle zusammen zuletzt beschlossen, für die Stärke unserer Könige und für die Festigkeit des Volkes der Goten unter Gott als Richter ein letztes bischöfliches Dekret zu verkünden.
Das Rubrum nennt den canon 75 ein pro robore nostrorum regum et stabilitate gentis Gotorum pontificale decretum. Diese bischöfliche Verordnung nennt als Konstituenten des Wisigotenreiches reges und gens. Während die Könige durch den Zusatz des Possessivpronomens noster als Herrscher über sämtliche Bewohner des Reiches erkennbar sind, gehören zur gens nur die Goten. Die im Text des canon 75 als weiteres konstitutives Element des Reiches mehrfach genannte patria wird nicht erwähnt.
Wer, seit wann und warum zur gens Gotorum zählte – die Nachkommen der in Aquitanien angesiedelten Foederaten oder auch die provinzialrömische Bevölkerung oder nur die politische Führungsschicht des Reiches –, ist in der Forschung umstritten [60]. Die Formulierung des Rubrums ist ein Indiz dafür, dass die Konzilsväter auch noch 633 unter gens Gotorum nicht die gesamte Bevölkerung des regnum Toletanum verstanden. Zwar war mit der Konversion der Wisigoten auf dem 3. Toletanum von 589 das homöische Bekenntnis als ein gentiles Identifikationsmerkmal entfallen und die Reichsbevölkerung – bis auf die Juden und vereinzelte Häretiker – im katholischen Glauben geeint. Dennoch bildete die gens Gotorum in einem – neben anderen ethnischen Gruppen wie den Sueben, Basken und Kantabrern – mehrheitlich von einer vorwiegend hispanischen und gallischen, in ihren civitates und Regionen verwurzelten Provinzialbevölkerung besiedelten Reich auch im 7. Jahrhundert die die Herrschaft ( regnum ) ausübende Minderheit, deren Festigung durch die Gnade Gottes die Konzilsväter 633 erflehten: [ … ] corroboret Christi gloria regnum illius gentis Gotorum in fide catholica [61]. Sie bildete „eine auf gemeinschaftliches Handeln verpflichtete und entspr[ echend ] organisierte Gruppe von Menschen, die für sich selbst wie für die anderen [ … ] erkennbar“ war. Die im Begriff gens, gr. ἔθνος enthaltene Bedeutung Stammesstaat, der „schon bei Homer komplementär und gleichgewichtig zu πόλις“ gebraucht wurde, wird auch hier noch deutlich [62]. Die Herrschaft der Goten über ihr Reich wurde nach Ansicht Isidors legitimiert durch ihre im Plan der göttlichen Vorsehung wurzelnden Siege über die Römer, die dadurch zu ihren Untertanen, aber nicht zu Goten geworden waren. Gemeinsam bewohnten Sieger und Besiegte dieselbe hispano-gallische patria. Wenngleich die Unterwerfung Spaniens unter die Herrschaft der Goten Isidors ausdrückliche Anerkennung fand, fühlte er sich selbst nicht als Gote [63]. Nur Angehörige der gens Gotorum durften laut canon 3 des 5. und canon 7 des 6. Toletanum zu Königen gewählt werden.
So selbstverständlich es für die Zeitgenossen war, die Mitglieder der gens Gotorum zu identifizieren, so schwierig ist es für den Historiker eine auch nur einigermaßen zutreffende Vorstellung von ihnen zu entwerfen. Wie für viele seiner Zeitgenossen stand die Unterteilung der Menschen in gentes für Isidor außer Frage. Für ihn ist eine gens „eine Menge [ Menschen ], die einem Ursprung entsprungen ist bzw. von einem anderen Volk durch einen [ eigenen ] Zusammenschluss unterschieden ist“ [64] ( Gens est multitudo ab uno principio orta vel ab alia natione secundum propriam collectionem distincta [65] ).
Gemeinsame Abstammung ist mithin nicht notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer gens, eine Ethnogenese [66]. Sie ist auch möglich durch soziale Integrationsprozesse ( secundum propriam collectionem ). Einen sicheren Beleg für die Herkunft der Goten vermochte Isidor in den von ihm benutzten Quellen, dem Alten Testament und den Schriften der griechischen und römischen Geographen, Historiker und Kirchenväter, nämlich nicht zu finden. Die dort – wegen der Ähnlichkeit der Silben -gog und Got- – auf Magog, den Sohn Japhets und Enkel Noahs, zurückgeführte Abstammung der früher Geten genannten Goten qualifizierte er richtig als bloße Vermutung, ebenso die Abstammung der Daker, die wohl Dacos oder Dagos geheißen hätten, von den Goten ( Gothi a Magog filio Iaphet nominati putantur, de similitudine ultimae syllabae, quos veteres magis Getas quam Gothos vocauerunt [ … ]. Daci autem Gothorum suboles fuerunt, et dictos putant Dacos, quasi Dagos, quia de Gothorum stirpe creati sunt ) [67].
In auffälligem Kontrast zu diesen eher vorsichtigen Aussagen der ‚Etymologiae‘ steht die – von Orosius ( Historiarum adversum paganaos liber I, 16, 2 ) abhängige – Feststellung der sog. kürzeren Version der unter Isidors Namen überlieferten Gotengeschichte ( Historia Gothorum ).
Gothorum antiquissimum esse regnum certum est, quod ex regno Scytharum est exortum. Isti sunt enim, quos Alexander vitandos pronuntiavit, Pyrrhus pertimuit, Caesar exhorruit [68].
Dass das Reich der Goten sehr alt ist, ist sicher, weil es aus dem Reich der Skythen entstanden ist. Eben diese sind es, die Alexander zu meiden verkündete, Pyrrhus besonders fürchtete und Cäsar in Schrecken versetzen.
Daraus ist zu folgern, dass Isidor sich entweder selbst widersprochen oder seine Meinung bei der Endfassung der ‚Etymologiae‘ geändert hätte. Der Befund könnte aber auch Indiz dafür sein, dass er gar nicht der Verfasser der sog. kürzeren Version war [69]. Dieser Verdacht wird verstärkt durch den Umstand, dass in der sog. längeren Version, als deren Autor Isidor außer Frage steht, die Herkunft des regnum Gothorum aus dem regnum Scytharum nicht erwähnt wird.
Gothorum antiquissimam esse gentem [ certum est ]: quorum originem quidam de Magog Iaphet filio suspicantur a similitudine ultimae syllabae; et magis de Ezechiele propheta id colligentes. Retro autem eruditi eos magis Getas quam Gog et Magog appellare consueuerunt.
Dass das Volk der Goten sehr alt ist, [ ist sicher ]: einige vermuten ihre Abstammung von Magog, dem Sohn Japhets, wegen der Ähnlichkeit der letzten Silbe, besonders folgern sie es aus dem Propheten Ezechiel. Früher pflegten die Gelehrten sie aber eher Getas als Gog und Magog zu nennen.
Interpretatio autem nominis eorum de lingua nostra tecti quod significatur fortitudo: et re vera. Nulla enim gens in orbe fuit, quae Romanum imperium adeo fatigaverit. Isti sunt enim quos etiam Alexander vitandos pronuntiavit, Pyrrhus pertimuit, Caesar exhorruit [70].
Aus unserer Sprache ist die Übersetzung ihres Namen tecti, was Stärke bedeutet; und zwar zurecht. Denn auf der Welt gab es kein Volk, das das römische Reich so sehr zur Erschöpfung getrieben hat. Eben diese sind es, die Alexander zu meiden verkündete, Pyrrhus besonders fürchtete und Cäsar in Schrecken versetzen.
Wie in den ‚Etymologiae‘ findet sich die Herleitung des Namens Goten von Magog – noch ergänzt durch einen Verweis auf den Propheten Ezechiel [71] – und von den Getae. Beide Versionen bringen das Orosius-Zitat, die längere allerdings ohne Nennung der Skythen, von denen – neben Magog – Isidor aber in der Recapitulatio, mit der die sog. längere Version endet, die Herkunft der Goten schließlich doch herleitet.
Gothi de Magog Iaphet filio orti cum Scythis una probantur origine sati [ lies: satis ], unde nec longe a vocabulo discrepant. Demutata enim ac detractata littera Getae quasi Scythae sunt nuncupati [72].
Die Goten, die von Magog, dem Sohn Japhets abstammen, haben, wie hinlänglich bewiesen ist, eine Herkunft mit den Skyten, und deshalb unterscheiden sie sich auch kaum durch den Namen voneinander. Die Getae werden gleichsam Scythae benannt, wenn man nämlich einen Buchstaben ändert und einen streicht.
So zeigt sich Isidor trotz einer gewissen Skepsis letztlich doch überzeugt von den von ihm vermuteten Namenbezügen und folgt der von ihm bevorzugten etymologischen Methode, mit der sich die tiefere Bedeutung, das Wesen der Phänomene durch die Aufdeckung der Ursprünge der sie bezeichnenden unwandelbaren Wörter ( inmutata vocabula ) erklären lasse.
Isidors Übersetzung des Namens der Goten als tecti dürfte zurückgehen auf die Erklärung der zweiten Silbe des Namens Magog durch Hieronymus: magog quod δωμα ( id est tectum ) vel domate ( hoc est de tecto ) [73]. Weshalb aber setzte er tectum mit fortitudo gleich? Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Übersetzung ein Reflex des Selbstverständnisses der Goten, das nach Ausweis des von Reccared I. auf dem 3. Toletanum vorgelegten königlichen Tomus in ihrer besonderen virilitas bestand [74]. Offenbar wussten die Goten noch um die wirkliche Bedeutung ihres Namens, der auf got. *Gutans, ein nomen agentis zu *geutan ‚gießen‘, zurückgeht, also die Samen Ergießenden, die Männer bezeichnet [75].
Allerdings erwähnt Isidor, der die Ansicht vertrat, dass sich die Völker ( gentes ) aus den Sprachen entwickelten und nicht die Sprachen aus den Völkern, die gotische Sprache nicht als ein gentiles Merkmal. Das war wohl die Folge der zur Zeit des 4. Toletanum bereits über zweieinhalb Jahrhunderte währenden Verweildauer der Goten innerhalb einer römischen Umwelt, deren lateinische Sprache sie übernommen hatten. Dennoch liegen sporadische Zeugnisse über Kenntnisse des Gotischen auch noch im 7. Jahrhundert vor. So wird in einem Preisgedicht für den Mönchsvater und Bischof von Braga Fructuosus dessen Schwager Visinandus erwähnt, dessen Name durch seine Herkunft besonders geadelt werde:
Tibique videlicet extat unica soror
unicum sortita pignus memorabile nobis,
in quo receptans pii gaudia magni viri
Visinandi potitus ( lies: potius ) fruitur propagine nomen [76].
Dir [ Fructuosus ] freilich lebt noch eine einzige Schwester, die uns ein einzigartiges erwähnenswertes Unterpfand verschafft hat, an dem, indem er es empfing, der durch den Stammbaum edlere Name des frommen Mannes Visinand große Freude hat.
Mit diesen Versen „spielte der Verfasser auf die Bedeutung des ersten Namengliedes Visi- ( = edel, vornehm ) an.“ [77] Auch König Sisebut war offenbar die Bedeutung des Namens Sandrimer bekannt, den der Abt des unbekannten Klosters trug, in das der König seinen aufständischen Sohn Theudila als Mönch einweisen ließ. Sandrimer solle, wie Sisebut an seinen Sohn schreibt, diesen auf seinem Weg als Mönch „mit wahrer Zuneigung“ ein „die Wahrheit verkündender Herr“ sein: Ipse tibi tribuat Sandrimer alma[ m ] via[ m ]; Te dominus verax veraci gratia servet. „Die zweimalige Verwendung des Adjektivs verax ist zweifelsfrei eine Anspielung auf das erste Glied des Namens Sandrimer, bei dem es sich um eine Ableitung mit r-Suffix von germ. *santh- ‚wahr, wahrhaftig‘ handelt.“ [78]
Während Äußerungen von Angehörigen der gens Gotorum über ihre Identität aus dem Wisigotenreich nicht vorliegen, erinnert Isidors Charakterisierung der Goten in der – der längeren Version seiner Geschichte der Wisigoten angefügten – Recapitulatio an die Betonung der virilitas der Goten durch König Reccared.
( 66 ) quibus sedibus [ Gothi ] inpetu gentis Hunorum pulsi Danuvium transeunt, Romanis se dedunt. Sed dum iniurias eorum non sustinerunt, indignati arma sumunt, Thraciam inruunt, Italiam vastant, obsessam urbem capiunt, Gallias adgrediuntur patefactisque Pyrenaeis montibus Spanias usque perveniunt ibique sedem vitae atque imperium locaverunt.
( 66 ) Als die Goten durch den Ansturm des Volkes der Hunnen aus ihren Wohnsitzen vertrieben worden waren, überschritten sie die Donau und ergaben sich den Römern. Weil sie aber deren unrechtmäßiges Verhalten nicht ertrugen, griffen sie entrüstet zu den Waffen, fielen in Thrakien ein, verwüsteten Italien, belagerten und eroberten die Stadt [ Rom ], griffen Gallien an und gelangten, nachdem sie sich den Weg über die Pyrenäen gebahnt hatten, bis nach Spanien, wo sie ihre Lebensheimat und Herrschaft errichteten.
( 67 ) Populi natura pernices, ingenio alacres, consicentiae viribus freti, robore corporis validi, staturae proceritate ardui, gestu habituque conspicui, manu prompti, duri vulneribus, iuxta quod ait poeta de ipsis: mortem contemnunt laudato vulnere Getae. Quibus tanta extitit magnitudo bellorum et tam excellens gloriosae victoriae virtus, ut Roma ipsa victrix omnium populorum subacta captivitatis iugo Geticis triumphis adcederet et domina cuntarum gentium illis ut famula deserviret.
( 67 ) Die Goten sind ein von Natur her ausdauerndes Volk von feurigem Charakter und sie vertrauen auf die Kräfte ihres Selbstbewusstseins. Sie besitzen gewaltige Körperkraft, sind von hohem, schlankem Wuchs und fallen auf durch ihre Haltung und Tracht. Sie sind zupackend, abgehärtet gegen Wunden gemäß der Aussage des Dichters: Die Goten achten den Tod gering, sind aber voll des Lobes über eine Verwundung. Sie hatten eine große Zahl von Kriegen zu führen und die Kraft ihres glorreichen Sieges war so überzeugend, dass selbst Rom, die Siegerin über alle Völker, dem Joch der Gefangenschaft unterworfen, sich den gotischen Triumphen fügte, und die Herrin aller Völker ihnen wie eine Magd diente.
( 68 ) Hos Europae omnes tremuere gentes. Alpium his cessere obices. Wandalica et ipsa crebro opinata barbaries non tantum praesentia eorum exterrita quam opinione fugata est. Gothorum vigore Alani extincti sunt. Suevi quoque hactenus intra inaccesos Spaniarum angulos coartati etiam nunc eorum armis periculum finis experti sunt et regno, quod desidioso torpore tenuerunt, turpiori nunc dispendio caruerunt. Quamquam tenuisse huc usque valde sit mirum, quod sine experimento defensionis carere potuerunt.
( 68 ) Alle Völker Europas zitterten vor ihnen. Die Felswände der Alpen wichen vor ihnen zurück. Selbst die wegen ihrer Wildheit weithin bekannten Wandalen wurden weniger durch die Anwesenheit der Goten in Schrecken versetzt als vielmehr durch ihr Ansehen in die Flucht geschlagen. Durch die Kraft der Goten wurden die Alanen ausgerottet. Auch die in unzugänglichen Winkeln Spaniens zusammengedrängten Sueven haben nun erfahren, dass ihnen durch die Waffen der Goten das Ende droht, und mussten auf ihr Reich, das sie müßig und faul besaßen, durch eine noch schändlichere Kapitulation verzichten. Freilich erscheint es sehr eigenartig, dass sie das Reich, das sie, ohne einen Verteidigungsversuch, nur verlieren konnten, so lange besaßen.
( 69 ) Sed quis poterit tantum Geticae gentis edicere virium magnitudinem quandoquidem multis gentibus vix precum causa et munerum regnare licuerit, his tamen libertas magis de congressione quam de petita contigit pace atque ubi sese necessitas bellandi opposuit, vires eos potius adhibuisse quam preces. Porro in armorum artibus satis spectabiles sunt et non solum hastis, sed et iaculis equitando confligunt, nec equestri tantum proelio, sed et pedestri incedunt, verumtamen magis equitum praepeti cursu confidunt, unde et poeta: Getes, inquid, quo pergit equo.
( 69 ) Wer aber konnte ein so großes Ausmaß an Kräften der Goten voraussagen? Da allerdings vielen Völkern kaum wegen ihrer Bitten und Geschenke zu herrschen gestattet wurde, fiel den Goten die Freiheit eher durch den Kampf als durch die Bitte um Frieden zu, und wann immer sich ihnen die Notwendigkeit, Krieg zu führen, entgegenstellte, wandten sie lieber ihre Kräfte als Bitten an. Weiterhin fallen sie durch ihre Waffenkünste besonders auf und kämpfen zu Pferd nicht nur mit Lanzen, sondern auch mit Speeren. Sie ziehen aber nicht nur beritten, sondern auch als Fußsoldaten in den Kampf, wenngleich sie dem schnell dahinfliegenden Lauf ihrer Reiter mehr vertrauen, wie schon der Dichter sagt: Wo ein Gete vorrückt, tut er es zu Pferd.
( 70 ) Exercere enim sese telis ac proeliis praeludere maxime diligunt. ludorum certamina usu cotidiano gerunt. Hac sola tantum armorum experientia hucusque carebant, quod classica bella in mari gerere non studebant. Sed postquam Sisebutus prínceps regni sumpsit sceptra, ad tantam felicitates virtutem provecti sunt, ut non solum terras, sed ipsa maria suis armis adeant subactusque serviat illis Romanus miles, quibus servire tot gentes et ipsam Spaniam videt [79].
( 70 ) Am meisten aber lieben sie das Exerzieren mit den Waffen und das Kampftraining. Kampfspiele gehören zu ihren täglichen Gewohnheiten. Bis jetzt hatten sie in einer einzigen Waffengattung keine Erfahrung, weil sie sich nicht bemühten, Kriege zur See zu führen. Nachdem aber der König Sisebut das Zepter der Herrschaft ergriffen hat, haben sie eine so große Kraft des Glückes erreicht, dass ihnen nicht nur die Länder, sondern auch die Meere zugänglich sind und ihnen, denen so viele Völker und selbst Spanien zu dienen scheint, auch der bezwungene römische Soldat zu Diensten ist.
Folgt man den Ausführungen Isidors, die von seinen Adressaten ja leicht überprüft werden konnten und deshalb – wenn sie sich auch tradierter Stereotypen zur Beschreibung barbarischer gentes bedienen – kaum eine völlige Verzerrung der Realität spiegeln, dann waren Identitätsmerkmale der Goten ihre beeindruckende physische Erscheinung, ihre körperlichen, charakterlichen und besonders ihre kriegerischen Qualitäten, ferner ihre Tracht ( habitus ).
Dass es sich bei einer gens um eine dem historischen Wandel ausgesetzte gesellschaftliche Großgruppe handelt, Ethnogenese also ein permanenter Prozess ist, war Isidor nicht bewusst.
4.2 Der Treueid ( sacramentum fidei )
Multarum quippe gentium, ut fama est, tanta exstat perfidia animorum ut fidem sacramento promissam regibus suis seruare contemnant et ore simulent iuramenti professionem dum retineant mente perfidiae impietatem. Iurant enim regibus suis et fidem quam pollicentur praeuaricant nec metuunt uolumen illud iudicii Dei per quo inducitur maledictio multaque poenarum comminatio super eos qui iurant in nomine Dei mendaciter. Quae igitur spes talibus populis contra hostes laborantibus erit? Quae fides ultra cum aliis gentibus in pace credenda? Quod foedus non violandum? Quae in hostibus iurata sponsio permanebit quando nec ipsis propriis regibus iurantam fidem conseruant? Quis enim adeo furiosus est qui caput suum manu propria desecet? Illi, ut notum est, immemores salutis suae propria manu se ipsos interimunt, in semetipsos suos reges proprias conuertendo uires. Et dum Dominus dicat: ‚Nolite tangere christos meos‘, et Dauid: ‚Quis, inquit, extendet
Es herrscht nämlich, wie man hört, bei vielen Völkern eine so große Treulosigkeit von Personen, dass diese es gering schätzen, die Treue, die sie ihren Königen geschworen haben, zu halten, und so tun, als sprächen sie die Eidesformel, während sie im Geiste an der gottlosen Untreue festhalten. Fürwahr, sie leisten ihren Königen den Eid und brechen die Treue, die sie versprechen, und sie fürchten nicht jenes Buch des göttlichen Gerichtes, durch das die Verdammung und zahlreiche Androhungen von Strafen über diejenigen verhängt werden, die im Namen Gottes einen falschen Schwur leisten. Welche Hoffnung bleibt solchen Völkern, wenn sie gegen Feinde kämpfen? Welcher Vertrag wird nicht gebrochen werden? Welches dem Gegner eidlich geleistete Versprechen wird gehalten werden, wenn sie nicht einmal die Treue halten, die sie ihren eigenen Königen geschworen haben? Wer nämlich ist so rasend, dass er sich mit eigener Hand das Haupt abschneidet? Bekanntlich jene, die ohne Rücksicht auf ihr ei-
manum suam in christum Domini et innocens erit?‘, illis nec uitare metus est periurium nec regibus suis exitium. Hostibus quippe fides pacti datur nec uiolatur; quod si in bello fides ualet, quanto magis in suis seruanda est? Sacrilegium quippe esse [ sic! ] si uioletur a gentibus regum suorum promissa fides, quia non solum in eis fit pacti transgressio, sed et in Deum quidem, in cuius nomine pollicetur ipsa promissio. Inde est quod multa regna terrarum caelestis iracundia ita permutauit ut per impietatem fidei et morum alterum ab altero solueretur. Vnde et nos cauere oportet casum huiusmodi gentium ne similiter plaga feriamur praecipiti et poena puniamur crudeli.
genes Wohl sich selbst mit eigener Hand töten, indem sie ihre Kräfte gegen sich selbst und ihre Könige wenden. Und weil ja der Herr spricht: ‚Rührt meine Gesalbten nicht an‘ und David: ‚Wer streckt seine Hand aus gegen den Gesalbten des Herrn und wird unschuldig sein?‘, gebührt jenen die religiöse Scheu, sowohl Meineide als auch den Sturz ihrer Könige herbeizuführen zu meiden. Selbst Feinden wird Vertragstreue gewährt und diese nicht verletzt. Wenn sogar im Krieg die Treue Gültigkeit besitzt, um wie viel mehr muss sie nicht auch gegenüber den eigenen Leuten eingehalten werden? Es ist nämlich ein Sakrileg, wenn von den Völkern die Treue gebrochen wird, die sie ihren Königen versprochen haben, weil sie nicht ihnen [ d. h. den Königen ] gegenüber eine Vertragsverletzung darstellt, sondern gegenüber Gott selbst, in dessen Namen jenes Versprechen geleistet wurde. Deshalb hat der himmlische Zorn viele Reiche der Erde so verändert, dass wegen der Verletzung der Treue und der Sitten das eine von einem anderen abgelöst wurde. Aus diesem Grunde müssen wir den Fehler jener Völker vermeiden, damit wir nicht in ähnlicher Weise einen jähen Schlag erdulden und durch eine grausame Strafe gezüchtigt werden.
Si enim Deus angelis in se praeuaricantibus non pepercit, qui per inoboedientiam caeleste habitaculum perdiderunt, unde et per Esaiam dicit: ‚Inebriatus est gladius meus in caelo‘, quanto magis nos nostrae salutis interitum timere debemus, ne per infidelitem eodem saeuientis Dei gladio pereamus? Quod si diuinam iracundiam uitare uolumus et seueritatem eius ad clementiam prouocare cupimus, seruemus erga Deum religionis cultum atque timorem, custodiamus erga principes nostros pollicitam fidem atque sponsionem. Non sit in nobis sicut in quibusdam gentibus infidelitatis subtilitas impia, non subdola mentis perfidia, non peiurii nefas, nec coniurationum nefanda molimina [80].
Wenn Gott nämlich selbst den Engeln, die sich gegen ihn auflehnten, nicht vergab und sie durch ihren Ungehorsam die himmlische Wohnstatt verloren, und Gott deshalb durch Isaias sagt: ‚Berauscht ist mein Schwert im Himmel‘, um wieviel mehr müssen [ dann ] wir um das Ende unseres Heils fürchten und dass nicht auch wir durch dasselbe Schwert des wütenden Gottes zugrunde gehen? Wenn wir den göttlichen Zorn verhindern wollen und seine Strenge in Güte zu ändern wünschen, dann lasst uns gegenüber Gott an der Pflege und der Ehrfurcht vor der Religion festhalten und gegenüber unseren Königen die gelobte Treue und Verpflichtung bewahren. Möge es bei uns die Pflicht vergessene Schliche der Untreue, die arglistige Unredlichkeit des Geistes wie bei anderen Völkern nicht geben, nicht den Frevel des Meineides und nicht die gottlosen Bestrebungen von Verschwörungen.
Als das entscheidende Element der politischen Ordnung innerhalb der Völker erscheint den Konzilsvätern der den Königen geleistete Treueid ( sacramentum fidei ). Allerdings befasst sich canon 75 nicht mit Inhalt und Form des im Wisigotenreich zu leistenden Treueides, die offenbar als bekannt vorausgesetzt werden, sondern mit dem häufigen Bruch des Treueides und seinen katastrophalen Folgen für die Wehrhaftigkeit der Staaten, die Gültigkeit von Verträgen und eidlichen Versprechen. Eidbruch bedeute politischen Selbstmord, da die eidbrüchigen Glieder des Staatskörpers sich durch den Sturz oder die Ermordung des Königs selbst ihres Hauptes beraubten.
Da Könige ausweislich des Alten Testamentes „Gesalbte des Herrn“, also von Gott eingesetzt sind, in dessen Namen der Treueid geleistet wird, stellt sein Bruch zudem ein Sakrileg dar. Deshalb ist – wie beim Sturz der abtrünnigen Engel aus dem Himmel – mit dem Zorn Gottes zu rechnen, dem bereits viele – allerdings nicht näher bezeichnete – Reiche zum Opfer gefallen seien. Um diesem Schicksal zu entgehen, sind daher die Gott geschuldeten Pflichten zu beachten und die dem König geschworene Treue ist einzuhalten.
Über die Durchführung des allgemeinen Treueides im hispano-gallischen Gotenreich informiert erst ein Gesetz des Königs Egica ( 687–702 ) [81], durch das die von allen Freigeborenen geforderte Treueidleistung „als regelmäßig im Gefolge einer jeden Königserhebung wiederkehrender, routinemäßiger Vorgang beschrieben“ wird. Die große Masse der Eidpflichtigen leistete den Treueid an ihrem Wohnort an einem zuvor bekanntgemachten Termin vor „Eidabnehmern“ ( discussores iuramenti ), die zu diesem Zweck durch das Reich zogen. Angehörige des officium palatinum hatten den Eid dem König persönlich zu leisten, wenn sie nicht durch eine meldepflichtige Krankheit oder ein Amtsgeschäft daran gehindert wurden. Eidverweigerern drohte die Todesstrafe und Vermögensverlust; die Strafe war aber in das Ermessen des Königs gestellt [82]. Die aus dem Treueid resultierende Verpflichtung zum persönlichen Militärdienst war offenbar häufiger Grund dafür, sich der Eidesleistung zu entziehen.
Durch den Eid wurden Pflichten begründet und die Herrschaft des Königs legitimiert.
Rechtlich setzte die Vereidigung eine Pflicht voraus, die grundsätzlich bereits bestand, sobald ein Herrscher gewählt oder ernannt worden war. Der Vorgang der Erhebung wurde also als konstitutiv betrachtet, begründete den Anspruch auf den Treueid [ … ] und lieferte den Rechtsgrund, um die Verweigerung des Eides bestrafen zu können. Man wurde demnach [ … ] nicht dadurch zum königlichen ‚Untertan‘, dass man einen Eid schwor, sondern musste bereits Untertan sein, um durch seinen Eid zum ‚Getreuen des Königs‘ zu werden, zum fidelis regis. Die persönliche Verpflichtung zum Treueschwur ruhte so betrachtet auf einer bereits bestehenden, räumlich definierten Verpflichtung auf, setzte diese voraus, war ohne sie nicht denkbar. Der Eid intensivierte sodann die Beziehung des einzelnen Reichsbewohners zu seinem König in ungeheurer Weise, er personalisierte sie durch den Akt der individuellen Selbstverpflichtung. Daran ist festzuhalten trotz der Tatsache, dass der Schwur unter Zwang eingefordert wurde. Der Treueid darf deswegen nicht ohne weiteres als Indiz für eine konsequente kontraktualistische Prägung des Verhältnisses zwischen König und Volk gesehen werden [83].
Der in den auf römischem Boden entstandenen germanischen Reichen dem König zu leistende Treueid ( sacramentum fidei ) geht nicht – wie lange angenommen [84] – auf eine alte germanische Tradition, sondern auf eine militärische Gewohnheit des spätantiken Imperiums, das sacramentum militiae, zurück. Auch mit dem Imperium verbündete Barbarenverbände ( foederati ) leisteten dem Kaiser den Treueid, und zwar nicht nur ihre Anführer, sondern jeder einzelne Krieger, wie es für die 376 auf römischen Boden geflüchteten terwingischen Goten, den wichtigsten Teilverband der späteren Wisigoten, der Historiker Zosimos berichtet [85]. Sie unterstanden zwar weiterhin der Autorität ihrer Stammesführer, waren aber durch ihren Eid in die römische Armee integriert und damit der von den kaiserlichen Feldherren, namentlich dem magister militum, ausgeübten Militärjustiz unterworfen. Beim Treueid handelt es sich also um einen Rechtstransfer aus dem römischen Militärrecht, mit dem die Gründer der germanischen regna erstmals im römischen Heer konfrontiert worden waren.
Der aus dem römischen Militäreid entwickelte allgemeine Treueid ermöglichte den an die Stelle des Kaisers getretenen Königen der Barbarenreiche die Errichtung eines dauerhaften und unabhängigen Staates nach dem Muster der spätantiken Militärorganisation durch die Sicherung der Loyalität seiner heterogenen Bevölkerung. Seine Funktion war die Übertragung der z. T. aus römischen Traditionen stammenden administrativen und juristischen Kompetenzen auf den König, die er mittels seiner militärischen Verwaltung ausübte. Dies ermöglichte die Überführung bedeutender Bestandteile des politischen und rechtlichen Systems des spätantiken Staates in das Mittelalter. Der Eid befreite von verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und ethnischen Verpflichtungen und ermöglichte dem Eidleistenden, sein Versprechen freiwillig einzuhalten [86].
Statt auf den Kaiser wurden nun alle freien männlichen Reichsbewohner auf den König vereidigt, der wesentliche Rechte des römischen Kaisers und der Reichsverwaltung – u. a. fiskalische Rechte, oberste Gerichtsbarkeit und gewisse Hoheitsrechte gegenüber der Kirche – beanspruchte. Der allgemeine Treueid ermöglichte die Organisation der frühmittelalterlichen regna als Militärmonarchien, in denen die Trennung von Militär- und Zivilverwaltung zugunsten einer erweiterten Militäradministration aufgehoben wurde. Den militärischen Führern ( duces, comites etc. ) wurden Amtssprengel zugeordnet, in denen ihnen neben militärischen Befugnissen – darunter die Einberufung der Vereidigten zum Militärdienst – auch fiskalische und jurisdiktionelle Aufgaben übertragen wurden [87].
Der allgemeine Treueid begründete eine direkte Rechtsbeziehung zwischen dem Herrscher und den einzelnen Reichsbewohnern, ermöglichte die partielle Rezeption antiker Staatstraditionen, bewirkte aber auch Veränderungen gegenüber der antiken Staatlichkeit, zunächst eine stärkere Personalisierung der Herrschaft in der Person des Königs: aus dem servitium publicum wurde das servitium regis, aus der utilitas publica die utilitas regis, gegen die zu handeln Hochverrat war. Das crimen laesae maiestatis wandelte sich zur infidelitas. Die militärische Idee der Treue wurde zur Grundlage der auf die Person des Königs fixierten staatlichen Ordnung.
Die Sanktionen für den Treubruch waren die Todesstrafe und der Vermögensentzug. Sie lagen – wie beim militärischen Befehlshaber, der Strafmaßnahmen auch unter Zweckmäßigkeitserwägungen traf – im Ermessen des Herrschers. Damit ermöglichte der Treueid eine „Flexibilisierung der rechtlichen Handhabung königlicher Herrschaft“, die Handlungs- und Verhandlungsspielräume eröffnete. Infidelitäts- und Fiskalprozesse unterlagen dem vom römischen Recht geprägten Inquisitionsverfahren, das die Zeugenaussage und die Anzeige bestimmter Vergehen zur Pflicht machte. Durch den Treueid wurden Solidaritäten verwandtschaftlicher, freundschaftlicher oder ethnischer Art aufgebrochen und der königliche Rechtsanspruch als öffentlich zu schützen garantiert.
Der Treueid wurde von allen Freien – Goten und Römern – geleistet und trug damit dazu bei, ethnische Schranken zu überwinden und das Königtum zu einer supragentilen Institution zu machen. Die mit dem Treueid verbundene Pflicht zum Militärdienst und gemeinsame Feindbilder trugen auch zur Entwicklung eines Identitätsbewusstseins der Reichsangehörigen bei. Er leistete auch einen Beitrag zur Vereinheitlichung des Rechts im Gegenzug zur Anerkennung des Gewohnheitsrechtes, zu einer Art Kontraktualisierung der Herrschaftsbildung.
Mittels des allgemeinen Treueides zwang der König die Reichsangehörigen zur Einhaltung bestimmter Normen, wobei der Eid „Fremdbestimmung in Selbstzwang“ transformierte [88]. Da der Eid ein religiöser Akt war, fühlte sich auch die Kirche für ihn zuständig, verpfändete der Eidleistende mit seinem Schwur doch sein Seelenheil. Eidbrüchigen drohte der canon 75 erstmalig mit der Exkommunikation.
Weil auch der König sich eidlich verpflichtete, christlich und gerecht zu regieren, führte das von der Kirche entwickelte Gottesgnadentum bei einem Bruch des Eides durch den Herrscher in eine Aporie/Kontingenzsituation [89].
4.3 Herrschernachfolge
Nullus apud nos praesumptione regnum arripiat, nullus excitet mutuas seditiones ciuium, nemo meditetur interitus regum, sed defuncto in pace principe primatus [ sic! ] [90] totius gentis cum sacerdotibus successorem regni consilio communi constituant, ut dum unitatis concordia a nobis retinetur, nullum patriae gentisque discidium per uim atque ambitum oriatur [91].
Bei uns soll niemand die Regierung durch Anmaßung an sich reißen, niemand Aufstände der Bürger gegeneinander anzetteln, niemand über den Sturz des Königs nachdenken, sondern, wenn der König in Frieden gestorben ist, sollen die Ersten des gesamten Volkes zusammen mit den Bischöfen durch gemeinsamen Beschluss den Nachfolger in der Herrschaft einsetzen, damit, solange von uns Eintracht und Übereinstimmung gewahrt werden, durch Gewalt und Amtserschleichung keine Trennung in Vaterland und Volk entsteht.
Als weiteres wesentliches Element der Verfassung regelt das Dekret die Herrschernachfolge. Der canon 75 wird in der einschlägigen Fachliteratur häufig als Königswahlkanon bezeichnet. Dabei erscheint der Begriff electio in der aus nur einem Satz bestehenden Bestimmung für das Verfahren zur Herrschernachfolge gar nicht. Vielmehr wird – nachdem Amtsanmaßung, Aufstände und Sturz des Königs ausdrücklich verboten wurden – verfügt, dass defuncto in pace rege primatus [ sic! ] totius gentis cum sacerdotibus successorem regni consilio communi constituant. Wo und nach welchem Prozedere das vorgesehene Gremium zu seinem gemeinsamen Beschluss, also einem Konsens [92] und nicht nur einer Majorität, gelangen soll, wird nicht erwähnt. Auch der Teilnehmerkreis wird nicht genau umschrieben. Zwar sind die sacerdotes mit den Bischöfen der ca. 70 Bistümer des Wisigotenreiches zu identifizieren [93], schwieriger ist dagegen eine numerische Angabe für die primates, bei denen es sich um die oberste Führungsschicht der gens Gotorum handelte. Den ansprechenden Berechnungen Ramon d’Abadal i de Vinyals zufolge bestand diese gotische Oligarchie aus etwa 1500 Familien [94]. Wer aus welchen dieser Familien in dem vorgesehenen Gremium vertreten war, entzieht sich unserer Kenntnis.
4.4 Anathemformeln
Quod si haec admonitio mentes nostras non corrigit et ad salutem communem cor nostrum nequaquam perducit, audite sententiam nostram: Quicumque igitur a nobis uel totius Spaniae populis qualibet coniuratione uel studio sacramentum fidei suae, quod pro patriae gentisque Gotorum statu uel conseruatione regis salutis pollicitus est, temerauerit, aut regem nece attractauerit aut potestate regni exuerit, aut praesumptione tyrannica regni fastigium usur-
Wenn aber diese Ermahnung unseren Sinn in keiner Weise verbessert und unser Herz nicht zum allgemeinen Wohl hin lenkt, hört unseren Urteilsspruch: Wer auch immer von uns oder den Völkern ganz Spaniens seinen Treueid, den er für das Wohlergehen des Vaterlandes und Volkes der Goten und für die Bewahrung des königlichen Heiles geschworen hat, durch irgendeine Verschwörung oder Parteilichkeit/Gewinnsucht befleckt oder den König ermordet oder mit Gewalt der Herr-
pauerit, anathema sit in conspectu Dei Patris et angelorum atque ab ecclesia catholica, quam periurio profanauerit, efficiatur extraneus et ab omni coetu Christianorum alienus cum omnibus impietatis suae sociis, quia oportet ut una poena teneat obnoxios quos similis error inuenerit implicatos.
schaft beraubt oder durch tyrannische Anmaßung die Würde der Herrschaft an sich reißt, dann sei er verflucht vor dem Angesicht Gottvaters und der Engel und von der katholischen Kirche, die er durch seinen Meineid entweiht hat, soll er zu einem Außenstehenden gemacht werden und zusammen mit allen Genossen seiner Pflichtvergessenheit soll er jedem Umgang mit den Christen entfremdet werden, weil es sich geziemt, dass eine Strafe die Schuldigen trifft, die in den gleichen Irrtum verwickelt sind.
Quod iterum secundo replicamus dicentes: Quicumque amodo ex nobis uel cunctis Spaniae populis quolibet tractatu uel studio sacramentum fidei suae, quod pro patriae gentisque Gotorum statu uel conseruatione regiae salutis pollicitus est, uiolauerit, aut regem nece attractauerit aut potestate regni exuerit, aut praesumptione tyrannica regni fastigium usurpauerit, anathema in conspectu Christi et apostolorum eius sit atque ab ecclesia catholica, quam periurio profanauerit, efficiatur extraneus et ab omni consortio Christianorum alienus, et damnatus in futuro Dei iudicio habeatur cum comparticibus suis, quia dignum est qui talibus sociantur, ipsi etiam damnationis eorum participatione obnoxii teneantur.
Dies wiederholen wir wiederum zum zweiten Mal und sagen: Wer auch immer von uns oder den Völkern ganz Spaniens von jetzt an seinen Treueid, den er für das Wohlergehen des Vaterlandes und Volkes der Goten und für die Bewahrung des königlichen Heiles geschworen hat, durch irgendeine Abrede oder Parteilichkeit/Habsucht verletzt oder den König ermordet oder mit Gewalt der Herrschaft beraubt oder durch tyrannische Anmaßung die Würde der Herrschaft an sich reißt, der sei verflucht vor dem Angesicht Christi und der Apostel und von der katholischen Kirche, die er durch seinen Meineid entweiht hat, soll er zu einem Außenstehenden gemacht werden und mit seinen Genossen soll er jeglicher Gemeinschaft der Christen entfremdet werden und im zukünftigen Gericht Gottes als Verdammter gelten, weil es angemessen ist, dass diejenigen, die sich solchen [ Verschwörern ] anschließen, auch selbst wegen ihrer Teilnahme der Verdammung als schuldig erachtet werden.
Hoc etiam tertio acclamamus dicentes: Quicumque amodo ex nobis uel cunctis Spaniae populis qualibet meditatione uel studio sacramentum fidei suae, quod pro patriae salute gentisque Gotorum statu uel incolumitate regiae potestatis pollicitus est, uiolauerit, aut regem nece attractauerit aut potestate regni exuerit, aut praesumptione tyrannica regni fastigium usurpauerit, anathema sit in conspectu Spiritus Sancti et martyrum Christi atque ab ecclesia catholica, quam periurio profanauerit, efficiatur extraneus et ab omni communione Christianorum alienus, neque partem iustorum habeat sed cum diabolo et angelis eius aeternis suppliciis condemnetur una cum eis qui eadem coniuratione nituntur, ut par poena perditio-
Dies bekräftigen wir zum dritten Mal und sagen: Wer auch immer von uns oder den Völkern ganz Spaniens von jetzt an seinen Treueid, den er für das Heil des Vaterlandes und das Wohlergehen des Volkes der Goten und für die Unversehrtheit der königlichen Gewalt geschworen hat, durch irgendeine Beratung oder Parteilichkeit/Gewinnsucht verletzt oder den König ermordet oder mit Gewalt der Herrschaft beraubt oder durch tyrannische Anmaßung die Würde der Herrschaft an sich reißt, dann sei er verflucht vor dem Angesicht des Heiligen Geistes und der Märtyrer Christi und von der katholischen Kirche, die er durch seinen Meineid entweiht hat, soll er zu einem Außenstehenden gemacht werden und jeglicher Gemeinschaft der Christen entfremdet werden und nicht Anteil haben an [ der Ge-
nis constringat quos in pernicie praua societas copulat [95].
meinschaft ] der Gerechten, sondern mit dem Teufel und seinen Engeln soll er zu ewigen Strafen verdammt sein mit denen, die diese Verschwörung unterstützt haben, damit die gleiche Strafe der Verdammnis diejenigen zusammenbindet, die eine schlimme Gemeinschaft im Verderben vereint.
Unter dreifacher Wiederholung werden als Strafe für den Bruch des pro patriae gentisque Gotorum statu uel conservatione regis salutis geleisteten Treueides ( sacramentum fidei ), für Verschwörungen, Anschläge auf das Leben des Königs und tyrannische Machtergreifung unter Akklamation durch Klerus und Volk als kirchliche Strafen das Anathem – in conspectu Dei Patris et angelorum/in conspectu Christi et apostolorum/in conspectu Spiritus Sancti et martyrum Christi – und die Exkommunikation festgelegt. Erstmals werden hier im Wisigotenreich für den Bruch des Treueides und den Sturz des Königs neben der im weltlichen Recht drohenden Todesstrafe und Vermögensverlust die höchsten kirchlichen Strafen verhängt.
4.5 Akklamation durch Klerus und Volk
Et ideo si placet omnibus qui adestis haec tertio iterata sententia, uestrae uocis eam consensu firmate. Ab uniuerso clero uel populo dictum est: Qui contra hanc uestram definitionem praesumpserit, anathema marathema, hoc est perditio in aduentum Domini sit cum Iuda Scarioth partem habeat et ipsi [ sic! Lies: ipse ] et socii eorum. Amen [96].
Deshalb bekräftigt, sofern euch allen, die ihr anwesend seid, dieser dreifach wiederholte Urteilsspruch gefällt, denselben mit der Zustimmung eurer Stimme. Vom gesamten Klerus und Volk wurde gesagt: Wer gegen diese eure Bestimmung verstößt, der sei anathema marathena, d. h. verdammt bei der Ankunft des Herrn, und habe Gemeinschaft mit Judas Scarioth, sowohl er selbst als auch seine Genossen. Amen.
4.6 Ermahnung von Klerus und Volk zur fides gegen König Sisenand
Quapropter nos ipsi sacerdotes omnem ecclesiam Christi ac populum admonemus ut haec tremenda et totiens iterata sententia nullum ex nobis praesenti atque aeterno condemnet iudicio, sed fidem promissam erga gloriosissimum domnum nostrum Sisenandum regem custodientes et sincera illi deuotione famulantes, non solum diuinae pietatis clementiam in nobis prouocemus sed etiam gratiam antefati principis percipere mereamur [97].
Daher ermahnen gerade wir Bischöfe die gesamte Kirche Christi und das Volk, damit dieser schreckliche und so oft wiederholte Urteilsspruch niemanden von uns durch ein zeitliches oder ewiges Gericht verdammt, sondern, indem wir gegenüber unserem sehr glorreichen Herrn, dem König Sisenand, die gelobte Treue bewahren und ihm mit echter Ehrerbietung dienen, nicht nur die Güte der göttlichen Barmherzigkeit hervorrufen, sondern auch verdienen, die Gnade des vorgenannten Königs zu empfangen.
4.7 Ermahnung des Königs Sisenand und der zukünftigen Herrscher
Te quoque praesentem regem futurosque aetatum sequentium principes humilitate qua debemus deposcimus ut moderati et mites erga subiectos exsistentes cum iustitia et pietate populos a Deo uobis creditos regatis, bonamque uicissitudinem, qui uos constituit, largitori Christo respondeatis regnantes in humilitate cordis cum studio bonae actionis, nec quisquam vestrum solus in causis capitum et rerum sententiam ferat, sed consensu publico cum rectoribus ex iudicio manifesto deliquentium culpa patescat, seruata uobis inoffensis mansuetudine ut non seueritate magis in illis quam indulgentia polleatis, ut dum omnia haec auctore Deo pio a uobis moderamine conseruantur, et reges in populis et populi in regibus et Deus in utrisque laetetur.
Auch Dich, den gegenwärtigen König und die Könige künftiger Zeitalter ersuchen wir mit der gebotenen Demut eindringlich, dass ihr euch den Untertanen gegenüber gerecht und gnädig zeigt und die euch von Gott anvertrauten Völker mit Gerechtigkeit und Milde regiert und Christus als dem Spender, der euch eingesetzt hat, gute Vergeltung gelobt, indem ihr die Herrschaft in der Demut des Herzens und im Bestreben, gut zu handeln, ausübt. In Rechtsfällen, in denen die Todesstrafe oder Vermögensentzug drohen, soll keiner von Euch allein ein Urteil fällen, sondern zusammen mit den rectores soll die Schuld der Missetäter durch ein öffentliches Urteil sichtbar gemacht werden, so dass Ihr, da es Euch freisteht, Milde walten zu lassen, ihnen gegenüber nicht so sehr durch Strenge als vielmehr durch Vergebung glänzt, damit – solange dies alles auf Veranlassung des barmherzigen Gottes von Euch beim Regieren beachtet wird – die Könige sich an den Völkern, die Völker an den Königen und Gott sich an beiden erfreut.
Sane de futuris regibus hanc sententiam promulgamus, ut si quis ex eis contra reuerentiam legum superba dominatione et fastu regio in flagitiis et facinora siue cupiditate crudelissimam potestatem in populis exercuerit, anathematis sententia a Christo domino condemnetur et habeat a Deo seperationem atque iudicium propter quod praesumpserit praua agere et in perniciem regnum conuertere [98].
Die künftigen Könige betreffend verkündigen wir freilich diesen Urteilsspruch, dass, wenn einer von ihnen entgegen der Achtung vor den Gesetzen durch hochfahrende Herrschaftsausübung und königliche Anmaßung durch Schandtaten und Verbrechen oder aus Begehrlichkeit grausamste Gewalt gegen die Völker anwendet, er von Christus dem Herrn durch Verhängung des Anathems verdammt und von Gott getrennt sei, weil er sich vermessen hat, unrecht zu handeln und das Reich ins Verderben zu stürzen.
Die bereits in den Ausführungen zum sacramentum fidei in alttestamentarischer Tradition als Gesalbte des Herrn titulierten Könige erscheinen nun als von Christus eingesetzt. Als Herrschertugenden werden iustitia und pietas genannt, die bei der Regierung der dem König von Gott anvertrauten Völker als oberster Maßstab zu gelten haben. Todesstrafe und Vermögensentzug dürfen nicht vom König allein verhängt werden, sondern nur in einem öffentlichen Verfahren unter Beteiligung der rectores [99]. Der König ist zur Achtung der Gesetze ( reverentia legum ) verpflichtet. Ungesetzliche Gewaltausübung durch den König und Machtmissbrauch haben das Anathem, aber keine Absetzung des Herrschers zur Folge.
Diese Ausführungen atmen den Geist der christlichen Königsidee Isidors, über die er sich ausführlicher in seinen ‚Sententiae‘ geäußert hat [100].
4.8 Urteil über Suinthila und Geila
De Suinthilane uero, qui scelera propria metuens se ipsum regno priuauit et potestatis fascibus exuit, id cum gentis consultu decreuimus, ut neque eundem uel uxorem eius propter mala quae commiserunt, neque filios eorum unitati nostrae unquam consociemus, nec eos ad honores a quibus ob iniquitatem diecti sunt, aliquando promoueamus; quique etiam sicut fastigio regni habentur extranei, et a possessione rerum quas de miserorum sumptibus hauserant, maneant alieni praeter id quod pietate piissimi principis nostri fuerint consecuti. Non aliter et Geilanem, memorati Suinthilani et sanguine et scelere fratrem, qui nec in germanitatis foedere stabilis exstitit nec fidem gloriosissimo domino nostro pollicitam conseruauit, hunc igitur cum coniuge sua, sicut et antefatos, a societate gentis atque consortio nostro placuit separari nec in amissis facultatibus, in quibus per iniquitatem creuerant, reduces fieri praeter in id quod consecuti fuerint pietate clementissimi principis nostri, cuius gratia et bonos donorum praemiis ditat et malos a beneficientia sua non separat [101].
Bezüglich Suinthilas, der sich, da er seine eigenen Verbrechen fürchtet, selbst der Herrschaft beraubt und die Zeichen der Macht abgelegt hat, haben wir mit dem Rat des Volkes folgendes beschlossen, dass wir weder ihn noch seine Gemahlin wegen der Übeltaten, die sie verübt haben, noch ihre Söhne jemals wieder mit unserer Gemeinschaft verbinden und sie niemals wieder zu den Ämtern befördern werden, von denen sie wegen Ungerechtigkeit verjagt wurden. So wie sie von der Spitze des Reiches ferngehalten werden, so sollen sie auch vom Besitz der Sachen, die sie aus den Aufwendungen der Unglücklichen gerafft haben, entfremdet bleiben mit Ausnahme dessen, was sie durch die Milde unseres allergnädigsten Königs erlangen werden. Gleiches gilt für Geila, den Bruder des erwähnten Suinthila sowohl durch das Blut wie durch den Frevel, der weder im Bündnis mit seinem Bruder Standfestigkeit bewies noch die Treue hielt, die er unserem ruhmreichsten Herrn geschworen hat. Es wurde deshalb beschlossen, dass er zusammen mit seiner Ehefrau wie die vorher Genannten von der Zugehörigkeit zum Volk und von der Gemeinschaft mit uns getrennt wird und dass sie [ d. h. Geila und seine Frau ] nicht in das verlorene Vermögen, das sie durch Unrecht vermehrt hatten, wieder eingesetzt werden außer in das, was sie durch die Milde unseres allergütigsten Königs erlangen werden, dessen Gnade sowohl die Guten zur Belohnung mit Geschenken bereichert als auch die Schlechten nicht von seiner Wohltätigkeit ausschließt.
Die Ausführungen des canon 75 über das dem Alten Testamentes entlehnte Gottesgnadentum der Könige und den Treueid schlossen die Absetzung eines Herrschers aus. Wie sollte man angesichts dieser Rechtslage mit dem gefangenen Suinthila verfahren? Das Konzil löste das Problem, indem es sich auf die – im Gegensatz zur Aussage des canon 75 – wohl kaum freiwillige Abdankung Suinthilas berief. „Die von ihm Suinthila in den Mund gelegte Begründung für seinen Thronverzicht – er habe aus Reue über seine Vergehen selbst abgedankt – erinnert auffällig an die ebenfalls von Isidor, allerdings mit der etymologischen Methode gewonnene Wesensbestimmung des Königtums, wonach der Name der Könige ( reges ) sich vom richtigen/gerechten Handeln ( recte agendo/faciendo ) herleite und sie folglich nicht mehr Könige seien, wenn sie sündigten, d. h. unrecht handelten.“ [102] Ein aus dieser Definition des Königtums zu folgerndes Absetzungsrecht formulierte das Konzil allerdings nicht.
4.9 Gebet für König Sisenand
Gloria autem et honor omnipotenti Deo nostro, in cuius nomine congregati sumus. Post haec pax, salus et diurnitas pissimo et amatori Christi domno nostro Sisenando regi, cuius deuotio nos ad hoc decretum salutiferem conuocauit; corroboret Christi gloria regnum illius gentisque Gotorum in fide catholica; annis et meritis protegat illum usque ad ultimam senectutem summi Dei gratia, et post praesentis regni gloriam ad aeternum regnum transeat ut sine fine regnet qui intra saeculum feliciter imperat, ipso praestante qui est rex regum et Dominus dominorum cum Patre et Spiritu Sancto in saecula saeculorum. Amen [103].
Ruhm und Ehre aber sei unserem allmächtigen Gott, in dessen Namen wir uns versammelt haben. Danach sei Friede, Heil und ein langes Leben unserem allergütigsten Herrn, dem König Sisenand, dem Verehrer Christi, dessen Frömmigkeit uns zu diesem heilsamen Beschluss zusammengerufen hat. Christi Ruhm festige sein und der Goten Reich im katholischen Glauben. Die Gnade des höchsten Gottes möge ihn durch Jahre und Wohltaten bis zum äußersten Greisenalter schützen und nach dem Ruhm seiner irdischen Herrschaft möge er zum ewigen Reich hinübergehen, damit er, der in der Welt glücklich herrscht, ohne Ende regiert durch die Gewähr dessen, der der König der Könige und der Herr der Herren ist mit dem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
4.10 Zustimmung König Sisenands und der Bischöfe
Definitis itaque his quae superius comprehensa sunt, annuente religiosissimo principe, placuit deinde, nulla re impediente a quolibet nostrum ea quae constituta sunt, temerari, sed cuncta salubri consilio conseruare. Quae, quia profectibus ecclesiae et animae nostrae conueniunt, etiam propria subscriptione ut permaneant roboramus [104].
Nachdem unter Zustimmung des sehr religiösen Königs das, was weiter oben dargestellt wurde, beschlossen worden ist, geziemt es sich, dass unter keinen Umständen von irgendjemand von uns diese Bestimmungen entweiht werden, sondern sie alle wegen der Vernünftigkeit des Beschlusses einzuhalten. Wir bekräftigen sie, weil sie mit dem Herkommen der Kirche und mit unserer Ansicht übereinstimmen, auch mit unserer eigenhändigen Unterschrift, damit sie von Dauer sind.
5. Resümee
Als Ergebnis der vorgetragenen Überlegungen ist festzuhalten, dass die zwischen 612 und 672 regierenden acht wisigotischen Könige – Sisebut, Recared II., Suinthila, Sisenand, Chinthila, Tulga, Chindasuinth und Reccesuinth – nur zwei Primatengeschlechtern entstammten.
Nach dem ungeklärten Tod Sisebuts und seines Sohnes Recareds II. verlor ihr Geschlecht den Thron zunächst an Suinthila, wohl weil sich Sisebuts älterer Sohn Theudila und Sisebuts Bruder Sisenand um die Nachfolge stritten. Als Sisenand mit fränkischer Hilfe Suinthila, der seinen Sohn Riccimir zum Thronerben eingesetzt hatte, gestürzt und den Aufstand Theudilas, der – wie nach dem Tod Sisebuts und Recareds II. – erneut nach der Krone griff, niedergeschlagen hatte, konnte sein Geschlecht den Thron erneut gewinnen. Sisenands Sohn Visinand gelang es nicht, die Nachfolge des Vaters anzutreten, wohl weil erneut Sisebuts Sohn Theudila als Mitbewerber um den Thron auftrat. Vielmehr konnte sich Chinthila, ein Bruder Suinthilas, als König durchsetzen. Die Namenwörter der beiden Brüder ergeben ohne das Suffix -ila den Namen ihres Vaters Chindasuinth. Dieser bestieg nach dem Sturz seines Enkels und Sohnes Chintilas, König Tulga, als Achtzigjähriger selbst den Thron, den er noch vor seinem Tod an seinen Sohn Reccesiunth vererbte, der wohl aus seiner Ehe mit Recciberga stammte.
Mit dem canon 75 unternahm das 4. Konzil von Toledo den Versuch einer Stärkung des Königtums durch die Verhängung der höchsten kirchlichen Strafe, des Anathems, für die Verletzung des in römischer Tradition wurzelnden Treueides ( sacramentum fidei ). Um den in der Vergangenheit oft gewaltsamen Herrscherwechseln ein Ende zu machen, wurde die rechtmäßige Form der Herrschernachfolge an einen konsensualen Beschluss der Primates, d. h. einen nicht näher definierten Personenkreis des Hochadels, und der Bischöfe gebunden. Die im canon 75 skizzierte, auf den Vorstellungen Isidors von Sevilla fußende Idee des Königtums sah in den Herrschern Gesalbte des Herrn. Sie waren zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet. Bei Verstoß gegen diese Verpflichtung drohte ihnen das Anathem, aber nicht die Absetzung.
Obwohl der aus romanisch- und gotischstämmigen Mitgliedern zusammengesetzte Episkopat entscheidenden Einfluss auf die Herrschernachfolge erlangte und alle freien Untertanen den Treueid zu leisten hatten, gehörte zur gens Gothorum nicht die gesamte Bevölkerung des Reiches, sondern nur ein hinsichtlich Personenkreis und Umfang nicht eindeutig zu bestimmender Teil derselben.
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- Ottonian Notions of imperium and the Byzantine Empire
- What Did Comitatus Mean in the Ottonian-Salian Kingdom?
- The ‘Traitor’ of Béziers
- Die feinen Unterschiede zwischen einem Einsiedler und einem Apostel
- Serielle Notation
- Premodern Forms of Cultural Appropriation
- When Can We Speak of Cultural Appropriation?
- Designing the Divine
- Instances of Cultural Appropriation in the Works of Paulus Alvarus and Eulogius of Córdoba
- Unstable Races?
- Appropriation, Creolization or Entanglement?
- “The Emir of the Catholics”
- Orts-, Personen- und Sachregister
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