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Die feinen Unterschiede zwischen einem Einsiedler und einem Apostel

Über den Zweck der Eremitendarstellung in der ersten Franziskusvita des Thomas von Celano
  • Marie Kemper EMAIL logo
Published/Copyright: October 24, 2025
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Abstract

Using the concept of the habitus, this article analyses the passage of the ‘Vita I S. Francisci’, written in 1228/1229 by Thomas of Celano, which deals with the conversion of Saint Francis. Thomas asserts that the saint has led an eremitic life while restoring the Portiuncula. The eremitic habitus is constituted by a set of practices: Francis lives in a church under benedictine observance and still has many possessions. His main attention is focused on the restoration of the church, so he has no ambition to pray and preach. After listening to the Evangelium, he decides to change his way of life ( again ) and becomes an apostle, a form of life which is defined by preaching, asceticism, austerity, and phases of solitude. The passage obviously has a legitimizing function: By devaluating hermetism, Thomas affirms that Francis is the only founder of a religious order who lives an apostolic life. But the dualism between the hermit and the apostle breaks with hagiographical tradition: in the eleventh and twelfth century, laymen founded eremitic communities, claimed to live an apostolic life, mainly defined by asceticism and austerity, and preached regularly. So, on a praxeological level, Francis still has many similarities with a hermit, and Thomas had to construct a new, non-realistic space of life-styles to suggest that Francis found a new form of religious living: he presents a set of practices which was not considered as eremitic as the constituents of an eremitic habitus, and marks the constituents of the former, traditional eremitic habitus explicitly as apostolic and not-eremitic.

1. Einleitung

Ihrem Wesen nach einsame Menschen, die sich wie Einsiedlerkrebse oder Schnecken in ihre Gehäuse zurückziehen, gibt es viele auf der Welt. Es ist vielleicht eine atavistische Erscheinung, ein Rückfall in die Zeit, da der Vorfahre des Menschen noch kein Herdentier war und einsam in einer Höhle hauste; vielleicht aber ist es auch ganz einfach nur eine menschliche Charaktereigenschaft, wer weiß [1]?

Diese Worte äußert der Gymnasiallehrer Burkin in Anton Tschechovs Erzählung ‚Der Mensch im Futteral‘ über seinen Kollegen Belikow, den er für einen äußerst seltsamen Menschen hält: Belikow habe nämlich, so Burkin, keine Freunde gehabt, nicht geheiratet, obschon ihn eine Frau geliebt habe, und seine Studierstube lediglich verlassen, um Altgriechisch zu unterrichten. Es ist gewiss keine Übertreibung, Belikow als einen Einsiedler( -Krebs ) in Reinform zu bezeichnen.

Die Eindeutigkeit, mit der sich dieser zu einer einsiedlerischen Lebensweise bekennt, dürfte aber nicht nur seinem Kollegen Burkin, sondern auch Mittelalterhistoriker:innen als bemerkenswert gelten. Die Frage, ob ein hoch- oder spätmittelalterlicher Heiliger als Eremit klassifiziert werden darf, kann nämlich in manchen Fällen auch nach einem jahrzehntelangen Forschungsdiskurs noch nicht abschließend beantwortet werden, wie das Beispiel des Franz von Assisi zeigt. Über diesen berichtet der Hagiograph Thomas von Celano, dass er während seiner Bekehrung drei Jahre als Einsiedler gelebt habe [2]. Erst, als ihm das Matthäus-Evangelium über die Aussendung der Apostel vorgelesen worden sei, habe er die eremitische Lebensform verworfen, sich für das Apostolat entschieden und begonnen zu predigen [3]. Die Kategorisierung, die der Hagiograph vornimmt, scheint zunächst logisch stringent zu sein: Die eremitische Lebensform wird durch Rückzug definiert, also durch Abkehr von der Gesellschaft; die apostolische Lebensform wird wiederum durch Predigt definiert, also durch den Dienst an der Gesellschaft. Doch je mehr Thomas über Franziskus berichtet, desto widersprüchlicher muten seine Ausführungen plötzlich an. So behauptet er auf den folgenden Seiten doch tatsächlich, dass sich der Apostelnachfolger, dessen Lebensform er soeben noch von der durch Isolation definierten eremitischen abgegrenzt hat, regelmäßig in entlegene Gegenden und Eremitorien zurückgezogen habe, um dort ungestört beten zu können [4].

Es verwundert nicht, dass die Frage, in welchem Verhältnis Franziskus zum Eremitismus stand, verschiedene, teils konträre Antworten hervorgebracht hat, wie ein Überblick über die verschiedenen Strömungen in der Forschung zeigt [5]. Die erste Gruppe bilden Sophronius Clasen und Octavian Schmucki [6]. Ihr Kennzeichen ist, dass sie den Dualismus vom Eremiten, der sich „nur der Selbstheilung“ [7] widme, und vom Apostelnachfolger, der sich um die „Rettung der Menschen [ … ]“ [8] bemühe, adaptieren. Dass sie den Eremiten für moralisch inferior, da lediglich um sein eigenes Seelenheil besorgt halten, hatte entscheidenden Einfluss auf ihre Arbeitsergebnisse: So konstatieren sie, dass sich Franziskus zwar phasenweise in einsame Gegenden zurückgezogen habe, sein seelsorgerisches Engagement aber von wahrer Apostolizität zeuge und er den Eremitismus nach einer kurzen Einsiedlerphase während seiner Bekehrung abgelehnt habe [9].

Thomas Merton und Benedikt Hugo Mertens, die die zweite Gruppe ausmachen, betrachten die Lebensform des Franziskus nicht länger isoliert, sondern versuchen, Traditionslinien zwischen ihr und früheren religiösen Bewegungen auszumachen. Sie haben die Forschung um die Erkenntnis bereichert, dass die Praxis, Rückzüge in die Einsamkeit mit Predigtreisen zu verbinden, bereits für die Wanderprediger-Eremiten des 11. und 12. Jahrhunderts charakteristisch war, also kein franziskanisches Novum darstellt, und auch ein Einsiedler zwischen Rückzügen und Predigttätigkeit changieren konnte, also nicht „nur um Selbstheilung“ [10] bemüht war [11]. Nichtsdestoweniger bezeichnen sie die Lebensform des Franziskus ebenfalls als apostolisch und behaupten, dass sie sich von derjenigen der Wanderprediger-Eremiten unterscheide. Dass sie das Wort ‚Apostolizität‘ nicht mit einer Definition versehen, die diese Differenzierung tatsächlich rechtfertigte, nimmt ihrer Argumentation aber die logische Stringenz [12].

Kennzeichen der dritten Gruppe ist, dass sie nicht mehr versucht, zu eruieren, wie Franziskus wirklich gelebt hat, sondern ihr Hauptaugenmerk auf die ( legitimatorische ) Funktion der hagiographischen Zeugnisse richtet. So hat Luigi Pellegrini gezeigt, dass der Bericht des Hagiographen Thomas von Celano über die eremitische Lebensphase des Franziskus lediglich dem Ziel dient, dessen Lebensweise von der eremitischen abzugrenzen, und dass er erstere als apostolisch bezeichnet hat, um sie vollkommener erscheinen zu lassen [13]. Die wohl radikalsten Schlussfolgerungen aus dieser Beobachtung hat Grado G. Merlo gezogen. Er behauptet, dass die Verfasser der Franziskus-Viten bloß etliche schon von anderen religiösen Bewegungen vereinnahmte Ideale wie Apostolizität und Armut nun zu genuin franziskanischen stilisiert hätten. Der einzige Unterschied zwischen Franziskus und einem Wanderprediger-Eremiten sei gewesen, dass ersterer sofort in die kirchliche Hierarchie habe eingegliedert werden können [14]. Als letzter sei noch Pietro Messa genannt. Er greift die Beobachtung der zweiten Gruppe auf, dass Eremitismus und Predigt realiter keine Gegensätze gewesen seien und konstatiert, dass die Hagiographen sie erst nach dem Tod des Franziskus in Folge ordensinterner Auseinandersetzungen zu Widersprüchen stilisiert hätten [15].

Der aktuelle Stand der Forschung ist also ambivalent. Einerseits wurde zu Recht herausgestellt, dass die Hagiographen eben nicht schildern, wie Franziskus denn nun tatsächlich gelebt hat und dass der Anspruch auf Apostolizität vornehmlich der Legitimation einer religiösen Lebensform diente [16]. Andererseits sind diese Dekonstruktionsbestrebungen bisher auf die Apostolizität beschränkt geblieben, und die Funktion der Eremitendarstellung wurde nie schwerpunktmäßig thematisiert. Pellegrinis Behauptung, dass Thomas die eremitische Lebensform als weniger vollkommen darstelle als die franziskanische, ist zweifelsohne korrekt, erklärt deren Zweck aber nicht wirklich, bleibt doch die Frage unbeantwortet, warum sich der Hagiograph ausgerechnet an dem Einsiedler abarbeitet [17]; Merlo vermerkt lediglich, dass die Hagiographen Franziskus mystifiziert hätten, ohne nach der Funktion bestimmter Darstellungselemente zu fragen [18]. Messas These ist insofern problematisch, als er die Traditionslinie zwischen den Eremiten-Wanderpredigern des 12. Jahrhunderts und Franziskus letztlich ausblendet und lediglich die ordensinternen Konflikte nach dessen Tod als Einflussfaktor auf die hagiographischen Darstellungen wertet [19]. Es lohnt sich also, das Hauptaugenmerk auf die Eremitendarstellung in den Franziskusviten zu legen, und zu fragen: Welchem Zweck dient diese Eremitendarstellung überhaupt? Und warum ist der Eremit als ex-negativo-Version des Apostelnachfolgers konstruiert?

Die Quelle, auf deren Grundlage dieser Frage nachgegangen werden soll, ist die weiter oben schon erwähnte, 1228 verfasste ‚Vita prima sancti Francisci‘ des Thomas von Celano. Thomas gehörte dem Franziskanerorden an, war zwischen 1221 und 1228 in Köln, Mainz, Speyer und Worms als Custos tätig ( und nicht in die Auseinandersetzungen an der Ordensspitze verwickelt ) und wurde von Gregor IX. beauftragt, eine Lebensbeschreibung des Franziskus zu verfassen, um dessen Heiligsprechung 1228 auch noch hagiographisch zu legitimieren. Sein Werk sollte also zur Genüge Aufschluss geben über die Selbstverortung des Ordens in Relation zu anderen religiösen Lebensformen [20].

Um nicht versehentlich die Antinomie zwischen dem moralisch inferioren, da selbstbezogenen Eremiten und dem moralisch superioren, da weltoffenen Apostelnachfolger zu adaptieren, bedient sich diese Arbeit Pierre Bourdieus Habitustheorie und trennt systematisch zwischen den dargestellten Praxisformen einerseits und dem Habitus, den diese Praxisformen in der Vita konstituieren, andererseits [21]. Natürlich kann diese Adaption nicht vorbehaltlos vorgenommen werden. Bourdieu schreibt, dass zwei Leistungen einen Habitus erzeugen, nämlich das „Hervorbringen klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, die Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte [ … ] zum anderen“ [22]. Er analysiert eine reale Gesellschaft, in der das Set aus Praxisformen, das einen bestimmten Habitus konstituiert, in einem Aushandlungsprozess verschiedener sozialer Gruppen mit unterschiedlichen Interessen bestimmt wird [23]. Die soziale Welt der Vita ist ein narratives Konstrukt, und Thomas’ Vorstellungen von ‚eremitisch‘ und ‚apostolisch‘ müssen sich nicht mit den allgemein anerkannten decken. Um seine Darstellung nicht versehentlich mit einer repräsentativen, um Objektivität bemühten Abbildung des Raums der religiösen Lebensstile zu verwechseln, sollte man also fragen, ob die Praxisformen, die er zu Konstituenten eines eremitischen und eines apostolischen Habitus macht, auch in anderen Viten für den Träger eines eremitischen oder apostolischen Habitus charakteristisch sind.

Folglich empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt zu klären, welche Praxisformen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts einen apostolischen Habitus konstituierten und welche einen eremitischen ( 2. ). In einem weiteren Schritt kann dann ermittelt werden, welche Praxisformen in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ einen eremitischen Habitus konstituieren und ob die Darstellung dieses Habitus, die Thomas bietet, mit anderen übereinstimmt oder bricht ( 3. ). Dieses Prozedere sollte in einem letzten Schritt für den apostolischen Habitus wiederholt werden ( 4. ). Erst, wenn geklärt ist, ob Thomas die geläufigen Vorstellungen von einem eremitischen Habitus und einem apostolischen aufgreift oder ob er Umwertungen vornimmt, kann abschließend überlegt werden, welchen Zweck er mit seiner Darstellung verfolgt ( 5. ).

2. Apostolizität und Eremitentum Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts

Johannes Karl Schlageter bezeichnet die ‚Vita apostolica‘ als „eine Lebensform, die sich am apostol[ ischen ] Ursprung orientiert“ [24] und als ein „Konzept christl[ icher ] Existenz“ [25]. Dem Versuch, auf Grundlage dieser Definitionen einen apostolischen Habitus auszumachen und die Praxisformen zu bestimmen, die ihn konstituieren, wäre offenkundig kein Erfolg beschieden. Grund dieses Scheiterns wäre aber nicht mangelnde Präzisionsbereitschaft. Schlageter fängt die Bedeutung der Phrase ‚Vita apostolica‘ sogar insofern sehr genau ein, als er berücksichtigt, dass die Versuche, apostelgleich zu leben, trotz gleicher Motivation in der Praxis sehr unterschiedliche Gestalt annehmen konnten [26].

Die ersten Bestrebungen, die Apostelnachfolge als ein Alleinstellungsmerkmal für eine durch eine Regel normierte Lebensform zu beanspruchen, wurden von Mönchen unternommen, deren Lebensentwurfsschilderungen sich seit dem 4. Jahrhundert auch in Lateineuropa verbreiteten [27]. Die Vorstellungen von Apostolizität, die diese entwickelten, knüpften an bereits bestehende Konzepte an, die den Apostelnachfolger entweder als einen Märtyrer oder Verkünder des Evangeliums charakterisierten, der auf Ehe und Besitz verzichtete, asketisch lebte und sich durch Tugenden wie Ehrlichkeit und Demut auszeichnete [28]. Manche von diesen Vorstellungen adaptierten die Mönche. Askese, Ehe- und Besitzlosigkeit waren ebenfalls Elemente ihres Apostolizitätsideals [29]. Nichtsdestoweniger begannen sie, eine Praxisform, die bisher mit dem Anspruch auf das Apostolat unvereinbar schien, zu einem elementaren Charakteristikum der Apostelnachfolge zu erklären: den Rückzug in ein Kloster [30].

In Folge der Gregorianischen Wende bildete sich jedoch ein weiteres Apostolizitätsideal aus, das den Anspruch der Mönche auf die Apostelnachfolge in Frage zu stellen erlaubte. Konfrontiert mit zahllosen religiösen Laienbewegungen, die sich einer Eingliederung in die kirchliche Hierarchie entzogen und teilweise heterodoxe Ideen verbreiteten, versuchten kirchliche Amtsträger, diesen mit Predigern zu begegnen, die wiederum orthodoxe Lehren verkündeten und sich in die Hierarchie der Kirche einfügten [31]. Der Stand, der für die Erfüllung solcher Aufgaben prädestiniert schien, war derjenige der Kanoniker: Seelsorge und Predigt zählten schon zu ihrem Tätigkeitsfeld, und um ihre Lebensform moralisch versiert( er ) erscheinen zu lassen, verpflichtete die Lateransynode von 1059 sie auch noch zu einem Leben in einer besitzlosen Gemeinschaft, das sich explizit an dem der Apostel orientieren sollte [32]. Es verwundert folglich nicht, dass die Kanoniker alsbald begannen, die Apostel zu Seelsorgern und Predigern zu stilisieren und das Etikett ‚apostolisch‘ in bewusster Abgrenzung von den Mönchen als ein Alleinstellungsmerkmal für ihre Lebensform zu reklamieren, und ein „Wettstreit zw[ ischen ] Mönchen und Kanonikern“ [33] ausbrach [34].

Diese beiden Vereinnahmungsversuche des Prädikats ‚apostolisch‘ sind nun für die Vorstellungen von Apostolizität in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts [35] von großer Relevanz: Sie haben den Apostelnachfolger nämlich zu einer janusköpfigen Kreatur werden lassen, die sich sowohl über ihren Rückzug aus der Gesellschaft zugunsten des eigenen Seelenheils als auch über ihr Wirken in der Gesellschaft zugunsten des Seelenheils anderer definieren konnte [36]. Ein apostolischer Habitus, den ein bestimmtes Set aus Praxisformen konstituiert, existierte also nicht, und Praxisformen, die per se als apostolisch galten, existierten ebenfalls nicht [37]. Ein Hagiograph, der einen Heiligen zu einem Apostelnachfolger stilisieren wollte, musste also bestimmte Marker ( sei es das Adjektiv apostolica, sei es ein Topos, sei es ein Vergleich, sei es eine Metapher ) verwenden, um überhaupt erst eine Verknüpfung zwischen einer Tätigkeit und einem Apostolizitätsideal herzustellen [38]. Die Frage lautet nun, welche Praxisformen den Habitus des Eremiten konstituierten und welcher Marker sich die Hagiographen bedienten, um manche von diesen als apostolisch zu kennzeichnen.

Die Lebensform, die die Einsiedler des 11. und 12. Jahrhunderts für die Apostelnachfolge hielten, unterschied sich nämlich in mehrerlei Hinsicht von derjenigen der frühmittelalterlichen Eremiten, wie Henrietta Leyser gezeigt hat [39]. Die traditionellen Eremiten waren als Mönche in einem Kloster auf das Leben in der Einsamkeit vorbereitet worden, um dort als Angehörige der Konventselite die höchste Stufe der Vervollkommnung zu erreichen [40]; der neue Einsiedlertypus, der nun ab der Mitte des 11. Jahrhunderts die religiöse Landschaft Lateineuropas zu prägen begann, war nicht länger in monastische Strukturen eingegliedert, sondern entstammte unterschiedlichen gesellschaftlichen Ständen, und sein Entschluss, in der Einsamkeit Gott näher kommen zu wollen, war nicht Teil einer klösterlichen Laufbahn, sondern einer durch die Gregorianische Wende ausgelösten moralischen Verunsicherung geschuldet [41]. In Folge dieser Entwicklung bildeten sich auch neue Sozialstrukturen aus: Während sich die traditionellen Eremiten ihre Klause mit maximal zwei Gefährten teilen durften, scharrten die ‚new hermits‘ gleich eine ganze Gruppe Gleichgesinnter um sich [42]. Die für das eremitische Selbstverständnis so essenzielle Vorstellung, sich in die Einsamkeit zurückgezogen zu haben, gründete bei letzteren also nicht auf der Abgrenzung eines Individuums von seinen Mitmenschen, sondern auf der Abgrenzung einer Gruppe von der Mehrheit der Gesellschaft [43].

Diese Absetzungsbestrebungen bewogen die ‚new hermits‘ dann auch, Praxisformen auszubilden, die diejenigen der anderen religiösen Lebensformen an Härte und Strenge übertreffen sollten. So versuchten sie, sowohl als Individuum als auch als Gemeinschaft besitzlos zu leben [44], und übten sich in Radikalaskese, zu der neben einer zölibatären Lebensweise eine eklatante Vernachlässigung der körperlichen Bedürfnisse zählte. Lange Haare, ein wallender Bart, verschmutzte Kleidung und ein von Unterernährung und Selbstverletzungspraktiken gezeichneter Körper waren für den Eremiten charakteristisch [45], der regelrecht einer „ideology of flagellation“ [46] anhing.

Eine weitere wichtige Praxisform wurde oben schon erwähnt: Die ‚new hermits‘ verließen gelegentlich ihre Eremitagen, um Buße zu predigen, Nikolaitismus und Simonie anzuprangern und öffentlichkeitswirksam Angehörige des lokalen Klerus solcher Vergehen zu bezichtigen [47]. In Folge dieser Entwicklung avancierten die Predigt und der zeitweilige Rückzug in entlegene Gebiete zu Praxisformen, die als Schnittmengen zwischen dem Habitus des Eremiten und dem des Wanderpredigers fungierten und teilweise eine klare Scheidung der beiden voneinander verunmöglichten [48]. Um die Frage beantworten zu können, wie ein Hagiograph einen Einsiedler zu einem Apostelnachfolger stilisierte, ist es also erforderlich, sowohl die ursprünglich für den Eremiten als auch die ursprünglich für den Wanderprediger reservierten Apostolizitätsmarker zu berücksichtigen.

Dieses Gegenstands hat sich Robyn Parker in ihrer 2014 abgeschlossenen Dissertation angenommen. Sie hat gezeigt, dass die Hagiographen, die über die Wanderprediger-Eremiten berichteten, die Phrase ‚Vita apostolica‘ nicht gebrauchten, sondern lediglich auf Topoi, Vergleiche und Chiffren zurückgriffen [49]. Ein Bindeglied zwischen einem Eremiten und einem Apostel konnte die Armut sein [50]. Natürlich galt der Verzicht auf Besitz nicht per se als apostolisch. Wenn der Hagiograph die Armut des Eremiten-Wanderpredigers aber zu einer apostolischen stilisieren wollte, konnte er auf Stellen aus dem Evangelium rekurrieren, in denen Jesus seine Mitmenschen auffordert, ihm zu folgen und ihr Hab und Gut zurückzulassen, und behaupten, dass die zitierte Passage der Auslöser für den Entschluss gewesen sei, eremitisch leben zu wollen [51]. Die Besitzlosigkeit prägte natürlich auch das Erscheinungsbild des Apostels; dieser ging nach gängiger Vorstellung barfuß [52]. Der Hagiograph, der einen Eremiten-Wanderprediger zu einem Apostelnachfolger stilisieren wollte, musste also auch dessen Verzicht auf Schuhwerk herausstellen. Um die Worte, die der Apostelnachfolger predigte, auch als apostolische zu markieren, genügte es nicht, zu behaupten, dass sie das Publikum zu gottgefälligen Taten ermunterten [53]. Sie erhielten erst eine apostolische Kodierung, wenn sich der Hagiograph eines bestimmten Bildes bediente: Er musste sie mit Samen vergleichen, aus denen Bäume wachsen, die gute Früchte tragen [54]. Wenn er zuletzt noch die Legitimität der Predigt unterstreichen wollte, konnte er betonen, dass der Eremiten-Wanderprediger wie die Apostel einen Sendungsauftrag, oft in Form von Bibelversen, erhalten habe, also von Gott zu seiner Tätigkeit berufen worden sei [55].

Diese Apostolizitätsbekundungen schützten die Eremiten aber nicht vor Angriffen. So sahen sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie in der Wildnis, fern von sozialen Kontrollmechanismen, der Unmoral verfielen und ihre Religiosität lediglich geheuchelt sei; und Kleriker beklagten, dass ein Eremit zurückgezogen leben solle und schlicht kein Prediger sein könne [56]. Ein Teil von ihnen wurde von kirchlichen Autoritäten, die ihre Predigten als heterodox einstuften und ihre Missachtung der kirchlichen Hierarchie fürchteten, gar als Häretiker diskreditiert. Erst Innozenz III. versuchte, diese Gruppen wieder in die Kirche einzugliedern, und Franziskus gilt als ein Musterbeispiel für eine von Anfang an gelungene Vereinnahmung durch den Papst [57]. Gerade vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich also zu analysieren, welche Funktion die Darstellung eines solchen Eremiten in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ hat.

3. Der eremitische Habitus

Thomas von Celano berichtet in der ‚Vita prima sancti Francisci‘, dass Franziskus während seiner Bekehrung eine Zeitlang als Einsiedler gelebt und Kirchen renoviert habe. In der dritten, die er repariert habe, der Portiunkula, habe er sich dann auch niedergelassen [58]. Sieben Praxisformen können ausgemacht werden, die als Konstituenten eines eremitischen Habitus fungieren.

1. Thomas vermerkt, dass Franziskus von Kirche zu Kirche gezogen sei, um diese zu renovieren, ehe er beschlossen habe, dass ihm die Portiunkula als dauerhafter Aufenthaltsort dienen solle [59]. Die Beschreibung der Renovierungs- und Bautätigkeit ist bemerkenswert unkonkret: Ihr kann nicht entnommen werden, unter welchen Umständen Franziskus die Baumaterialien erhalten hat, was er für sie entrichtet und ob er Helfer gehabt hat. Dennoch ist es aufschlussreich, die Bewertung dieser Renovierungs- und Bauaktivität einer detaillierteren Betrachtung zu unterziehen, da sie ein Alleinstellungsmerkmal der eremitischen Lebensphase ist.

In der ‚Vita secunda sancti Francisci‘ wird Franziskus zu Beginn seiner Bekehrung von einem Kruzifix befohlen, dass er die Kirche des Herrn wiederaufbauen solle [60]. Franziskus versteht zunächst nicht, dass er diese Anweisung symbolisch deuten muss. Wie in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ beginnt er, Kirchengebäude zu renovieren, ehe er zu der Einsicht gelangt, dass die Kirche als Institution zu verfallen drohe und er diese bewahren müsse [61]. Eine solche Prophezeiung findet in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ keine Erwähnung. Dennoch ist auffällig, dass Thomas die Kirchenrenovierungen in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ ebenfalls, wenn auch weit impliziter, als ein Handeln charakterisiert, das zwar religiös motiviert ist [62], aber keine gänzliche Lösung von der Welt ( und folglich keinen Abschluss der Bekehrungsphase ) bedeutet [63]. Er vermerkt nämlich, dass der eremitische Lebensabschnitt in das dritte Jahr der Bekehrung falle [64], suggeriert also, dass die Bekehrung ein noch nicht abgeschlossener Prozess sei, dessen End- und Höhepunkt folglich nicht die Kirchenrenovierungen sein können.

Die Anmerkungen, die den Bericht über den eremitischen Lebensabschnitt umrahmen, machen ebenfalls auf diesen Umstand aufmerksam. So beschreibt Thomas Franziskus nach dessen missglücktem Versuch, in Apulien Krieg zu führen, und seinem Entschluss, eine ( en détail noch nicht bestimmte ) religiöse Lebensform zu adaptieren, wie folgt: [ i ]mmutatus quoque, sed mente non corpore[65]. Als Grund für den Mentalitätswandel [66] nennt Thomas eine vocatio evangelica[67]. Die Behauptung, dass Franziskus noch nicht körperlich [68] umgewandelt sei, suggeriert, dass er noch nicht die religiöse Lebensform gefunden habe, die am geeignetsten war, um sein neues religiös-spirituelles Potenzial gänzlich entfalten zu können [69]. Erst als Franziskus den Habitus des Eremiten abgelegt und den des Apostelnachfolgers angenommen hat, vollzieht er in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ einen vollständigen Wandel, der nun auch eine vollkommene Lösung von allem Weltlichen beinhaltet: Exinde cum magno fervore spiritus et gaudio mentis coepit omnibus poenitentiam praedicare, verbo simplici sed corde magnifico aedificans audientes. Erat verbum eius velut ignis ardens, penetrans intima cordis, et omnium mentes admiratione replebat. Totus alter videbatur quam fuerat, et caelum intuens dedignabatur respicere terram[70].

Dass Thomas das Wort aedificare nicht nur nutzt, um die Reparaturarbeiten an den Kirchen zu benennen, sondern auch, um die Wirkung der Predigt auf die Zuhörer:innen zu beschreiben, ermuntert zu einem Vergleich der beiden Tätigkeiten – und dieser Vergleich impliziert eine bestimmte Hierarchie zwischen den Trägern des eremitischen Habitus und denen des apostolischen. Die Bautätigkeit des Eremiten ist der Welt verhaftet, die ‚Bautätigkeit‘ bzw. Erbauungstätigkeit des Apostelnachfolgers ist ausschließlich geistlicher Natur [71]. Diese ( implizit vermittelte ) Botschaft hat für den Träger des eremitischen Habitus natürlich weit weniger erbauliche Konsequenzen: Thomas degradiert ihn zu einem Unverständigen, der sich zwar pietate commotus[72] um Gottgefälligkeit bemüht, die Welt aber ( noch ) nicht gänzlich verlassen hat.

2. Die einzige Aktivität, die in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ für die eremitische Lebensphase vermerkt ist, ist die Renovierungs- und Bautätigkeit. Die intensiven Gebete, kontemplativen Übungen und leidenschaftlichen Gottesanrufe, die Thomas für alle anderen Phasen der Bekehrung verzeichnet, finden keine Erwähnung. Sie scheinen mit dem eremitischen Habitus nicht kompatibel zu sein [73]. Der Verzicht auf die Schilderung solcher Praxisformen bedingt erneut eine implizite Abwertung des eremitischen Habitus. Aus dem „religiöse[ n ] Virtuose[ n ]“ [74] wird ein eifriger, aber kaum gottesnah zu nennender Handarbeiter [75], der sich weder durch intensive Kontemplation noch inbrünstige Gebete noch leidenschaftliche Gottesanrufe geistig stärkt und für eine exponierte Stellung in Thomas’ Raum der ( religiösen ) Lebensstile nicht geeignet scheint.

3. Thomas bezeichnet Franziskus als einen Evangelii surdus auditor[76], der in seiner eremitischen Lebensphase in der Portiunkula die Messe besucht und die Geschichte von der Apostelaussendung gehört hat: [ s ]ed cum die quadam Evangelium, qualiter Dominus miserit discipulos suos ad praedicandum, in eadem ecclesia legeretur, et sanctus Dei assistens ibidem utcumque verba evangelica intellexisset, celebratis missarum solemniis, a sacerdote sibi exponi Evangelium suppliciter postulavit[77]. Auffällig ist, dass sich Franziskus die Bedeutung der Bibelstelle nicht selbst erschließen kann und sie sich von einem Priester auslegen lassen muss. Dieser Umstand mag auf den ersten Blick nicht verwundern, da Franziskus keine theologische Ausbildung erhalten hat [78]. Auffällig ist aber nun, dass Franziskus in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ von dem Augenblick an das Evangelium begreift und sein Leben vollkommen an ihm auszurichten vermag, als er seine eremitische Lebensphase beendet und seine apostolische begonnen hat [79]. Diese Beobachtung zeigt, dass seine anfängliche exegetische Inkompetenz als ein weiteres Charakteristikum des eremitischen Habitus gewertet werden muss. Die aus einer religiös-spirituellen Erhabenheit erwachsene Kompetenz, das Evangelium begreifen und sowohl theoretisch als auch praktisch durchdringen zu können, ist nicht länger Charakteristikum eines eremitischen Habitus [80] – kein Wunder, dass sich der Einsiedler unter diesen Umständen auf Renovierungs- und Bautätigkeiten beschränken muss.

4. Eine weitere Praxisform, die in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ für den eremitischen Habitus konstitutiv ist, ist eine bestimmte Form des Sich-Einkleidens: Thomas gebraucht das Adjektiv eremiticus nämlich, um die Kleidung des Franziskus zu beschreiben: Quo in tempore quasi eremiticum ferens habitum, accinctus corrigia et baculum manu gestans, calceatis pedibus incedebat[81]. Die Passage ist insofern für die Beurteilung des eremitischen Habitus wichtig, als die Wahl der Kleidung letztlich als pars pro toto für den grundsätzlichen Umgang des Franziskus mit weltlichem Besitz in diesem als eremitisch markierten Lebensabschnitt steht: Obschon er die teuren und reich verzierten Gewänder, die er als Kaufmann getragen hatte, abgelegt hat, besitzt er immer noch mehr Kleidungsstücke, als er bräuchte [82]. Die Abwertung des eremitischen Habitus erhält also eine weitere Dimension. Der Einsiedler ist in dem Raum der religiösen Lebensstile, den Thomas konstruiert, der Repräsentant einer mühelosen [83], nicht mit existenziellen Nöten, Tugendproben oder körperlichen Qualen verbundenen Lebensform, und die Länge seines Kopf- und Barthaares und der Umfang seines Bauches sind nicht von Relevanz [84]. Radikalaskese ist in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ keine Praxisform, die einen eremitischen Habitus konstituiert [85].

5. Thomas behauptet, dass die Kirchen, die Franziskus renoviert habe, verlassen und verfallen gewesen seien [86]. Die Orte, die Franziskus in der eremitischen Phase zunächst aufsuchte, zeichneten sich also durch eine gewisse Weltabgeschiedenheit aus. Auf Grundlage dieser Beobachtung zu konstatieren, dass der Eremit auch in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ ein einsames Leben führe, wäre aber voreilig, denn – Thomas stellt auch den dauerhaften Aufenthalt in der Portiunkula als einen Teil der Einsiedlerphase dar – [87] diese Kirche diente Benediktinern als ein „seelsorgliches Zentrum der Landbevölkerung“ [88]; sie kann also nicht als ein einsamer Ort begriffen werden, der einen Auszug aus der Welt markiert hätte. Ein ( phasenweises ) Ausweichen des Franziskus in entlegene und einsame( re ) Gegenden ist für diese Phase ebenfalls nicht vermerkt [89]. Es zeigt sich also erneut, dass Thomas gar nicht bemüht war, den Raum der religiösen Lebensstile abzubilden. Der phasenweise Rückzug in die Einsamkeit, also die räumlich ( wie en détail auch immer ) vollzogene Trennung von der Gesellschaft war eigentlich für den Habitus des Einsiedlers konstitutiv [90].

6. Diese nicht erfolgte räumliche Trennung macht auf einen weiteren wichtigen Aspekt aufmerksam: die Sozialstrukturen, in denen sich Franziskus befindet. Die Portiunkula gehörte, wie schon erwähnt, Benediktinern, die in der Kirche Gottesdienste feierten [91], die Franziskus auch besuchte [92]. Der Einsiedler ist in der ‚Vita prima sancti Francisci‘ also ein braver Kirchgänger, der anders als der von Leyser beschriebene Eremitentypus nicht etwa versucht, einen vollkommeneren religiösen Lebensentwurf zu entwickeln, der sich von den schon bestehenden monastischen Lebensformen abgrenzt [93], sondern schlicht in den sozialen und institutionellen Gefügen verweilt, die diese schaffen. Der Eremit wird also nicht länger durch die Abgrenzung von der ( gedachten und folglich auch in der Einöde als Kontrastfolie zu seinem Lebensentwurf noch präsenten ) Gesellschaft definiert [94].

7. Franziskus predigt in der Lebensphase nicht, die Thomas als eremitisch markiert [95].

Dieser Überblick dürfte zu Genüge zeigen, dass die Praxisformen, die in der Vita den eremitischen Habitus konstituieren, Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts gar nicht als Kennzeichen eines Einsiedlers galten. Der Hagiograph charakterisiert den Eremiten nämlich als einen der Welt verhafteten, weder in Kontemplation versunkenen noch predigenden und alles andere als radikalasketisch lebenden Wohngenossen von Benediktinermönchen [96]. Luigi Pellegrinis These, dass die eremitische Lebensphase von Thomas als „gradino di passaggio“ [97] und „preparazione alla vita apostolica“ [98] dargestellt werde, scheint vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Treffender wäre es, von einer massiven Abwertung und Stilisierung der eremitischen Lebensphase zu einer ex-negativo-Version der apostolischen zu sprechen. Dass die Beschreibung keinen der gängigen Apostolizitätsmarker aufweist, verwundert in Anbetracht der subtilen, aber nichtsdestoweniger bemerkenswert radikalen Abwertung des Einsiedlertums nicht.

Inwiefern fügt sich diese Abwertung des eremitischen Habitus in die weiter oben schon erwähnte Kritik ein? Die Strategie, die Thomas anwendet, um den Eremiten abzuwerten, unterscheidet sich signifikant von der bisher bekannten [99]. Sein Eremit lebt weder unmoralisch noch entpuppt er sich als Betrüger; auch ist er kein Anstoß erregendes Mischwesen aus Einsiedler und Prediger [100]. Sein großes Manko ist, dass er unfähig ist, die Welt gänzlich zu verlassen, eine überdurchschnittliche Gottesnähe aufzubauen und das Evangelium in Theorie und Praxis zu durchdringen. Diese Unfähigkeit ist durch die Lebensform bedingt, nicht die Person: Als Apostelnachfolger befreit sich Franziskus von all diesen Mankos [101]. Insofern ist Thomas ein bemerkenswerter Spagat gelungen. Er konnte den eremitischen Habitus einer radikalen Abwertung unterziehen, ohne den zeitweiligen Träger dieses Habitus als einen moralisch verdorbenen Pseudo-Religiosen diskreditieren zu müssen.

Dennoch sind diese Antworten nur bedingt befriedigend: Sie erklären zwar, welche Funktion die Eremitendarstellung für sich genommen erfüllt, doch zeigen sie nicht, warum sie überhaupt Teil der Vita war und warum Thomas den eremitischen Habitus zu einer ex-negativo-Version des apostolischen stilisiert.

4. Der apostolische Habitus

Die eremitische Lebensphase endet in der ‚Vita prima sancti Francisci‘, als Franziskus einen Gottesdienst in der Portiunkula besucht, von der Aussendung der Jünger zum Predigen hört und beschließt, ebenfalls den Aposteln nachfolgen zu wollen [102]. In Anbetracht des Umstandes, dass es, wie weiter oben erwähnt, Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts keinen apostolischen Habitus gab, sondern lediglich sehr verschiedene und teilweise konträre Vorstellungen von Apostolizität, die erst mit bestimmten Markern auf Praxisformen übertragen werden mussten [103], lohnt es sich, an dieser Stelle zu prüfen, welche Praxisformen Thomas durch direkte Bezugnahme auf das Evangelium als apostolisch markiert. Zwei sind hier anzuführen: der Verzicht auf jegliche Form von Besitz und die Predigttätigkeit [104]. Der Umstand, dass er diese Praxisformen erst nach bzw. mit dem Ablegen des als eremitisch markierten Gewandes adaptiert [105] und das Ablegen von Kleidung eine Chiffre für den Bruch mit einer Lebensform darstellt [106], zeigt zur Genüge, dass er diese beiden Praxisformen ausschließlich als Konstituenten eines apostolischen Habitus sieht und nicht dem eremitischen zuschlägt. Die implizite Botschaft, dass der Eremit nicht predigen gehe [107], stellt offenkundig einen Bruch mit den hagiographischen Zeugnissen des 12. Jahrhunderts dar, die explizit von den Wanderprediger-Eremiten und deren Lavieren zwischen Rückzug und Seelsorge berichten [108]. Die unterschwellige Behauptung, dass der Eremit zu viel Besitz anhäufe, verträgt sich zumindest mit dem Anspruch der ‚new hermits‘ nicht, sowohl als Individuum als auch als Gemeinschaft besitzlos zu leben [109].

Es ist also offenkundig, dass Thomas die Praxisformen ‚Predigt‘ und ‚Besitzlosigkeit‘, die eigentlich als Konstituenten eines eremitischen Habitus galten, von diesem trennt und als alleinige Konstituenten eines apostolischen vereinnahmt. Doch wie verhält es sich mit den Habitus-Markern?

Auffällig ist, dass Thomas die Verse Matt. 19,21 und Luk. 14,33 [110] nicht benutzt, um den Moment zu beschreiben, in dem Franziskus eine apostolische Lebensform annimmt, sondern eine Mischung aus den anderen Lukas-, Matthäus- und Markuspassagen [111] bietet. Dieser Umstand dürfte wohl aus der Notwenigkeit rühren, einen ganz bestimmten, über Predigt und Besitzlosigkeit definierten apostolischen Habitus zu kreieren, den man zugleich auch noch als nicht-eremitisch markieren konnte. Matt. 19,21 [112] und Luk. 14,33 [113] berichten nämlich lediglich von der Aufgabe des Besitzes und galten, wie schon erwähnt, als Verbindungsglieder zwischen eremitischem Habitus und der Vorstellung von Apostolizität, die auf dem Rückzug aus der Gesellschaft gründet.

Interessant ist auch der Spagat, den Thomas mit Blick auf die Wahl der Kleidung vollzieht: So behauptet er, dass der Eremit Schuhe trug, derer sich der Apostelnachfolger nun entledigt habe [114]. Der Rückgriff auf den Barfußtopos steht in direkter Traditionslinie mit den hagiographischen Werken über die Wanderprediger-Eremiten. Wenn ein Hagiograph diese als apostolisch markieren wollte, behauptete er ebenfalls, dass sie barfuß aufgetreten seien [115]. Daher stellt Thomas’ Darstellung insofern einen direkten Bruch mit der hagiographischen Tradition dar, als das Tragen von Schuhwerk gar keine Konstituente eines eremitischen Habitus war [116]. Thomas hat also die Verknüpfung des Habitus der Wanderprediger-Eremiten mit einem bestimmten Bild von Apostolizität gekappt, um das Bild und die von ihm transportierte Vorstellung von Apostolizität auf Franziskus zu übertragen und ihn zugleich dezidiert als nicht-Eremiten ausweisen zu können. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass Thomas das Weglegen des Stocks als Voraussetzung für die Annahme eines apostolischen Habitus wertet [117]. Der Stab galt nämlich – anders als Schuhwerk – tatsächlich als Erkennungszeichen der Wanderprediger-Eremiten des 12. Jahrhunderts [118]. Auch dieser eigentlich sehr nebensächlich anmutenden Anmerkung wohnt also ein Abgrenzungsversuch inne.

Erstaunlich unspektakulär ist hingegen sein Umgang mit dem ebenfalls als Apostolizitätsmarker fungierendem Bild des Samenstreuens für die Predigt: Er adaptiert es schlicht [119]. Des Versuchs, eine ( päpstlich nicht approbierte ) Predigttätigkeit durch einen Verweis auf einen Sendungsauftrag zu rechtfertigen, bedient sich Thomas ebenfalls; und wie die Hagiographen des 12. Jahrhunderts behauptet auch er, dass eine bestimmte Stelle aus dem Evangelium das Medium gewesen sei, durch den der Auftrag erteilt worden sei [120]. Nichtsdestoweniger wohnt auch dieser Stelle ein neues Element inne. Franziskus hört nicht nur das Evangelium, er lässt es sich auch von einem Priester erklären und verinnerlicht dessen Lehren, die er dann auch befolgt [121]. Hier stellt sich zumindest die Frage, ob Thomas Franziskus nicht nur als einen vom Evangelium inspirierten, sondern auch von einem Priester, also einem geweihten Angehörigen der kirchlichen Hierarchie, geprüften und begutachteten Prediger darstellt, um dem Vorwurf der Häresie auf jede nur erdenkliche Art entgegenzuwirken.

Bemerkenswert ist freilich, dass der Gebrauch dieser Habitus-Marker weitestgehend auf die Passage beschränkt ist, in der Franziskus beschließt, den Aposteln nachfolgen zu wollen. Wie versucht Thomas also, nicht nur bestimmte Verhaltensweisen des Franziskus als apostolische zu markieren, sondern gleich die Person als Ganze zum Träger eines apostolischen Habitus zu erheben? An dieser Stelle hilft Luigi Pellegrinis Hinweis, dass das An- und Ablegen von Kleidung in der Hagiographie eine Chiffre für das An- und Ablegen einer religiösen Lebensform war [122]. In dem Moment, in dem Franziskus den Entschluss, apostolisch leben zu wollen, mit einem Kleidungswechsel verknüpft [123], wird die Kleidung, die er anlegt, zu einer apostolischen. Die Apostolizität manifestiert sich – gemäß hagiographischer Logik – in seinem neuen Habit und als Träger dieses Habits ist er zugleich Träger eines apostolischen Habitus. Die Praxisformen, die er nun hervorbringt, müssen also – so der Umkehrschluss – auch Konstituenten des apostolischen Habitus sein: Der Apostel bringt apostolische Praxisformen hervor, die ihn wiederum als Apostel klassifizieren [124]. Auffällig ist nämlich, dass die Praxisformen, die Thomas dem Träger des eremitischen Habitus abgesprochen hat, als Konstituten des apostolischen folgen.

So charakterisiert er den Apostelnachfolger Franziskus als einen überzeugenden, da leidenschaftlichen Beter. Er berichtet, dass sich Bernhard, ein wohlhabender Bürger aus Assisi, Franziskus angeschlossen habe, da ihn dessen Gebete beeindruckt hätten [125]. Als Innozenz III. Franziskus gestattet habe, eine noch nicht näher definierbare Lebensform zu wählen, habe er Gott in einem Gebet gedankt [126]; und in Gebeten habe Franziskus erfahren, dass ihm Menschen aus allen ( ihm bekannten ) Ländern folgen würden [127], und dass er und seine Brüder die Predigt als ihre Hauptaufgabe betrachten sollten ( die der pflichtbewusste Hagiograph erneut als apostolische Praxisform markiert und als unvereinbar mit einem eremitischen Habitus darstellt ) [128]. Thomas’ Kommentar über die Gebete des Franziskus bezeugt die Bedeutung, die die Praxisform ‚Beten‘ für die Konstituierung eines apostolischen Habitus hat: Nam eius tutissimus portus erat oratio, non unius exsistens momenti, vacuave aut praesumptuosa, sed longa tempore, plena devotione, humilitate placida: si sero incipiebat, vix mane finiebat; ambulans, sedens, comedens et bibens, orationi erat intentus. In ecclesiis derelictis et in deserto positis solus ad orandum nocte pergebat, in quibus, divina gratia protegente, multos timores multasque angustias animi superavit[129]. Die Gottesnähe in der einsamen Kirche, die der Eremit nicht erlangen konnte, ist also für den Apostelnachfolger erreichbar. Nicht der Ort und dessen Abgeschiedenheit von der Welt sind also für die Ausbildung von besonderer Religiosität entscheidend, sondern die Wahl des richtigen Habitus. Die Gottesnähe des Franziskus zeigt sich aber nicht nur in seiner Gebetspraxis: Thomas berichtet, dass er tagsüber Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben und nachts gegen den Teufel gekämpft habe [130]; seinen Brüdern habe er das Beten beigebracht [131] und für sie die Aussage eines Priesters gedeutet [132].

Die Radikalaskese ist eine weitere Konstituente des apostolischen Habitus. Thomas behauptet, dass Franziskus nackt auf nacktem Boden geschlafen habe ( regelmäßig auch sitzend ), seinen Kopf auf Stein oder Holz gelegt und kaum gegessen habe [133]. Um aber nicht in eine endlose Aufzählung asketischer Praxisformen zu verfallen [134], sei an dieser Stelle lediglich ein allgemein gehaltener Kommentar angeführt, der zur Genüge bezeugt, wie wichtig Thomas die Stilisierung des Apostelnachfolgers zum Asketen war: Multa quoque in hunc modum saepissime faciebat, ut et se ipsum perfecte contemneret et ad honorem perpetuum caeteros invitaret. Factus erat sibi tamquam vas perditum, nullo timore, nulla sollicitudine pro corpore oneratus, strenuissime obiciebat ipsum contumeliis, ne ipsius amore temporale aliquid concupiscere cogeretur. – Verus sui contemptor omnes seipsos contemnere verbo et exemplo utiliter instruebat [ … ] [135].

Am bemerkenswertesten ist aber, dass Thomas über mehrere Aufenthalte des Franziskus in Eremitorien berichtet. Er nennt die Einsiedeleien Sant’Urbano [136] und Alverna [137] und vermerkt, dass Franziskus regelmäßig einsame Orte aufgesucht habe, um ungestört beten zu können, ehe er seine Predigttätigkeit fortgesetzt habe [138]. Der Versuch, das Ausmaß an Einsamkeit in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu bestimmen, ist kaum realisierbar: Thomas vermerkt nicht, wie oft und wie lange sich Franziskus in den Eremitorien aufhielt und wie oft er einsame Orte ( wie die Kirchen ) aufsuchte und wie lange er an diesen verweilte; auch verrät die Angabe, dass er wenige Brüder mit in die einsamen Gegenden genommen habe, nicht, wie sich die soziale Interaktion zwischen Franziskus und seinen Gefolgsleuten vor Ort konkret gestaltete [139]. In Relation zu der Beschreibung der eremitischen Phase betrachtet, ist aber allein der Verweis auf den regelmäßigen Rückzug in Eremitorien und an einsame Orte von Relevanz: Thomas berichtet nämlich, dass sich Franziskus bewusst zurückgezogen habe, um ungestört beten zu können [140]. Die Einsamkeit ist also für das Selbstverständnis des Apostelnachfolgers nicht unerlässlich – anders als für das des Eremiten [141].

Folglich behauptet Merlo zu Recht, dass das Verhalten des Franziskus dem eines Wanderprediger-Eremiten des 12. Jahrhunderts gleicht [142], die Hagiographen es allerdings zu etwas Besonderem stilisiert haben [143]. Leider beschränken sich seine Ausführungen zu der legitimatorischen Machart der Viten weitestgehend auf die Beobachtung, dass sowohl die Franziskusviten als auch die Lebensbeschreibungen der Eremiten-Wanderprediger den Armuts- und Apostolizitätstopos aufweisen [144].

Trotz aller Bereicherungen, die Merlos Arbeit sowohl in inhaltlicher als auch theoretisch-methodischer Hinsicht geleistet hat, erfassen seine Ausführungen die Legitimationsstrategien der Vita nur bedingt. Thomas hat nicht nur Praxisformen aufgegriffen, die bereits den Habitus des Wanderprediger-Eremiten prägten, er hat sie auch rigoros als nicht-eremitisch markiert und versucht, sie in einem neu konstruierten apostolischen Habitus einzufangen, der als Kontrastfolie zu dem eremitischen fungiert. Bereits die Passage, in der Franziskus beschließt, nicht länger als Eremit zu leben, sondern das Apostolat anzutreten, stellt eine massive Umwertung des eremitischen Habitus dar: So waren die Praxisformen ‚Predigt‘ und ‚Verzicht‘ eigentlich als Konstituenten eines eremitischen Habitus etabliert. Thomas’ Darstellung suggeriert nun, dass sie die alleinigen Konstituenten eines apostolischen Habitus seien, also regelrechte Differenzmarkierungen, die den Träger des eremitischen Habitus von dem des apostolischen scheiden. Doch damit nicht genug: Thomas trägt auch dem Umstand Rechnung, dass es eigentlich keinen ( allgemein anerkannten ) apostolischen Habitus gab, bedient sich aber eines gängigen hagiographischen Topos, um einen solchen zu konstruieren. Wie weiter oben schon erwähnt, war das An- und Ablegen von Kleidung eine Chiffre für das An- und Ablegen einer religiösen Lebensform [145]. Indem Thomas den Entschluss, apostolisch leben zu wollen, mit einem Wechsel der Kleidung verzahnt, suggeriert er, dass es den einen apostolischen Habitus gebe, den man – eben wie ein Kleidungsstück – anlegen könne. Der apostolische Habitus manifestiert sich, so die Implikation, in einem bestimmten Gewand, und das Set aus Praxisformen, das für den Träger dieses Gewandes charakteristisch ist, avanciert somit zu den Konstituenten eines apostolischen Habitus. Aus den vagen und teilweise konträren Vorstellungen von Apostolizität wird somit eine Lebensform, die problemlos im Raum der religiösen Lebensstile verortet werden kann und die sich gerade über ihre Beziehung zu den anderen religiösen Lebensstilen – vor allem dem eremitischen – definiert. Was die Markierung dieser Lebensformen als apostolisch anbelangt, vollzieht Thomas erneut einen Spagat: Er bedient sich der gängigen Topoi und Bilder, die mit Apostolizität verbunden waren ( obschon er auch diese, wie weiter oben gezeigt, allerlei Umwertungen unterzieht ), und als er Franziskus dann als Träger des apostolischen Habitus markiert hat, kann er ihm bestimmte Praxisformen zuschreiben, ohne sich bestimmter Apostolizitätsmarker zu bedienen. Solche braucht er dann nicht mehr, denn die Praxisformen, die er den dezidiert als Träger des apostolischen Habitus markierten Franziskus nun hervorbringen lässt, müssen per se als apostolisch gelten – immerhin sind sie ja nun die Konstituenten eines apostolischen Habitus.

Diese Beobachtungen ermuntern abschließend zu der Frage, ob Thomas Franziskus im Raum der religiösen Lebensstile nur von eremitischen Praktiken abgrenzen wollte oder auch von monastischen, damit der Hagiograph ihm allein ein apostolisches Leben attestieren kann. Für die Beantwortung dieser Frage kann eine weitere Stelle aus der Bekehrungsdarstellung herangezogen werden, in der der Assisiat singend durch den Wald zieht und von Räubern überfallen und geschlagen wird. Er setzt seine Reise jedoch fort und gelangt zu einem Kloster, in das er als Laienbruder eintreten möchte, aber trotz seiner ärmlichen Kleidung und seines Hungers wird er von den Mönchen ignoriert und beschließt letztlich, von existenziellen Nöten geplagt, weiter durch das verschneite Italien zu ziehen:

Iam enim cum semicinctiis involutus pergeret, qui quondam scarulaticis utebatur, et per quamdam silvam laudes Domino lingua latina francigena decantaret, latrones super eum subito irruerunt [ … ]. Ipse vero se huc atque illuc revolvens, nive a se discussa, illis recedentibus, se fovea exsilivit, et magno exhilaratus gaudio, coepit alta voce per nemora laudes Creatori omnium personare. Tandem ad quoddam claustrum monachorum veniens, per plures dies in sola vili camisia, quasi garcio in coquina exsistens, cupiebat vel de brodio saturari. Verum cum, omni miseratione subtracta, nullum posset vel vetustum acquirere indumentum, non motus ira sed necessitate coactus, inde progrediens devenit ad Eugubii, civitatem, ubi a quodam olim amico eius sibi tuniculam acquisivit[146].

Pietro Messa hat schon konstatiert, dass der Wechsel der Kleidung in der Lebensbeschreibung nicht nur in der Eremitenpassage als Chiffre für das An- und Ablegen einer religiösen Lebensform dient, und es ist offenkundig, dass Thomas Franziskus mit den gleichen narrativen Mechanismen von der monastischen Lebensform abgrenzen will, mit denen er ihn auch von der eremitischen abgrenzt [147]: Er diskreditiert die Mönche als geizig, ignorant und selbstbezogen. So wertet er ihre Lebensform ab, um die des Franziskus zu der einzig wahren apostolischen in seinem textimmanenten Raum der religiösen Lebensstile stilisieren zu können. Da die vermeintlich neuartige, apostolische Lebensform des Franziskus allerdings auf praxeologischer Ebene weit mehr Schnittstellen zu der traditionell eremitischen aufweist, musste Thomas die Abgrenzung des Franziskus von der monastischen Lebensform weit weniger detailliert ausgestalten.

5. Fazit und Ausblick

Die Fragen, die am Anfang dieser Ausführungen standen, lauteten: Welche Funktion hat die Eremiten-Darstellung? Warum war Thomas bestrebt, den Eremiten vom Apostel abzugrenzen? Die Versuchung ist groß, schlicht zu entgegnen: Thomas wollte die Lebensform des Franziskus aufwerten, und hat das auf Kosten der eremitischen Tradition getan. Diese Antwort ist natürlich nicht falsch, und dennoch wird sie dem doch sehr virtuosen Spiel des Hagiographen nicht gerecht. So muss zunächst einmal auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass Thomas’ Eremit eben keine realitätsgetreue Darstellung eines hochmittelalterlichen Einsiedlers ist, da etliche Praxisformen, die für dessen Habitus konstitutiv waren, vom Hagiographen entweder nicht genannt oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Sein Eremit ist kein Radikalasket, der zwischen Rückzügen in einsame und entlegene Gegenden einerseits und ( polemisierender ) Bußpredigt andererseits laviert, auf Besitz verzichtet und mit seinem langen Haar, seinem wallenden Bart und seinem von Unterernährung und Selbstverletzungspraktiken gezeichneten Leib die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen auf sich zieht; die Absicht, Gott durch Gebete und Kontemplation näher zu kommen, hegt er ebenfalls nicht, und eine neue religiöse Lebensform, die alle anderen an Strenge und Härte übertrifft, entwickelt er auch nicht. Er ist nicht einmal bestrebt, sich allein oder mit einer Gruppe Gleichgesinnter phasenweise aus der Gesellschaft zurückzuziehen, denn er lebt in einer als Seelsorgezentrum genutzten Kirche unter Benediktinerobservanz. Thomas stellt die eremitische Lebensweise also nicht als Vorstufe zur apostolischen dar, sondern als eine ex-negativo-Version, die sich letztlich durch eine gewisse Verhaftung in der Welt und das Festhalten an alten ( um genau zu sein: monastischen ) Strukturen auszeichnet.

Zu Recht darf man nun einwenden, dass die Eremiten des 11. und 12. Jahrhunderts auch nicht alle vorbehaltlos als neue religiös-spirituelle Elite anerkannt wurden, sondern sich mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, fern der Gesellschaft ein unmoralisches und so gar nicht von Religiosität geprägtes Leben zu führen sowie ihre Frömmigkeit nur vorzutäuschen. Diese Vorwürfe weisen natürlich eine bestimmte Strategie auf: Man behauptet, dass zwischen dem angemaßten Habitus, nämlich dem des gottesnah lebenden Eremiten, und den Praxisformen, die der selbsterklärte Einsiedler in der Einöde tatsächlich hervorbringt, eine große Diskrepanz bestehe. Diesbezüglich kann ein Unterschied beobachtet werden: Thomas’ Eremitendarstellung unterscheidet sich nämlich insofern von der gängigen Eremitenkritik, als sie sich gar nicht dieses Diskrepanztopos bedient, sondern den Eremiten schlicht als einen zwar aufrichtig um Gottesnähe bemühten, aber letztlich der Welt doch noch verhafteten Mann darstellt, der auch gar nicht von sich behauptet, den Höhepunkt seiner religiös-spirituellen Entwicklung erreicht zu haben und somit auch nicht der Vortäuschung falscher Frömmigkeit bezichtigt werden kann.

Es lohnt sich, auch einer zweiten gängigen Eremitenkritik Beachtung zu schenken, nämlich der Beschwerde, dass ein Eremit kein Prediger sein könne. Insofern erfüllt die Entkopplung der Praxisform ‚Predigt‘ vom eremitischen Habitus eine klare Funktion: Franziskus tritt in der Chronik nicht als bedrohliches Eremiten-Prediger-Mischwesen auf, das auf unangemessene Art und Weise die Grenzen zwischen den verschiedenen religiösen Lebensformen einreißt. Der Habitus des Eremiten und der des Predigers werden wieder von unterschiedlichen Praxisformen konstituiert und anrüchig anmutende Schnittmengen sind eliminiert. Insofern gelingt es Thomas, die eremitische Lebensweise radikal abzuwerten, ohne deren Träger, dessen Heiligsprechung er legitimeren wollte, möglicher Eremitenkritik auszusetzen. Beides war nur durch eine massive Umwertung und Neukonnotation des Einsiedlertums möglich.

Welchem Zweck aber dient diese Stilisierung des Eremiten zur ex-negativo-Variante des Apostelnachfolgers? Für eine vollständige Beantwortung dieser Frage ist es erforderlich, sich Thomas’ Aposteldarstellung zuzuwenden. Es ist offenkundig, dass der Eremit als Kontrastfolie zum Apostel konstruiert ist. Betrachtet man die Darstellung des Apostels auf rein phänomenologischer Ebene, so wird man zu der – nicht neuen, da von Merlo schon detailliert vorgetragenen – Schlussfolgerung gelangen, dass die Praxisformen, die Thomas’ Apostelnachfolger kennzeichnen, bereits für den Wanderprediger-Eremiten des 11. und 12. Jahrhunderts charakteristisch waren. Merlo hat auf die Adaption des Apostolizitäts- und Armutstopos verwiesen, um seine These zu stützen, und seine Ausführungen haben die Franziskusforschung sowohl in inhaltlicher als theoretisch-methodischer Hinsicht bereichert. Nichtsdestoweniger sei an dieser Stelle noch einmal auf die bisher vernachlässigte andere Seite aufmerksam gemacht: den Umstand, dass Thomas eben nicht nur Praxisformen, die den Habitus des Eremiten-Wanderpredigers konstituiert haben, adaptierte, sondern auch, dass er sie bewusst zu nicht-eremitischen umgewertet und zu allein apostolischen erhoben hat. Mit anderen Worten: Um Franziskus überhaupt zu einem besonderen Mann, der die Heiligsprechung verdient hat, stilisieren zu können, war es notwendig, die Praxisformen, die eigentlich für den eremitischen Habitus konstitutiv waren, von diesem zu entkoppeln und ein überhaupt nicht als eremitisch konnotiertes ( und offenkundig auch pejorativ bewertetes ) Set aus Praxisformen zu den Konstituenten eines eremitischen Habitus erklären zu können, um dann in einem nächsten Zug die Praxisformen, die eigentlich den eremitischen Habitus konstituierten, zu den alleinigen Merkmalen eines apostolischen zu erheben. Dass Thomas also ausgerechnet den Eremiten zu einer Vorform des Apostelnachfolgers stilisiert, ist weder das Resultat einer willkürlich getroffenen noch persönlich motivierten Entscheidung. Es ist – gemäß hagiographischer Logik – pure Notwendigkeit, und seine Darstellung eines apostolischen Habitus hätte gewiss weit weniger exzeptionell gewirkt, wenn er diesen nicht vorher explizit von dem eremitischen abgegrenzt hätte.

Dieser apostolische Habitus existierte Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts allerdings nicht. Zu verschieden waren die Vorstellungen von Apostolizität, als dass es den Vertretern einer religiösen Lebensform tatsächlich gelungen wäre, ihren Anspruch auf Apostolizität durchsetzen zu können. Thomas musste also zunächst erst einmal einen apostolischen Habitus konstruieren, und da seine Vita keine um Objektivität bemühte Abbildung des Raums der religiösen Lebensstile sein musste, konnte er die Deutungskämpfe um Apostolizität, die dort ausgefochten wurden, ignorieren. So konnte er die Predigt und den Verzicht auf Besitz vom eremitischen Habitus entkoppeln und zu zwei genuin apostolischen Praxisformen erheben, die sogar als Differenzmarker zwischen dem Träger des eremitischen Habitus und dem des apostolischen fungieren. Um aber nicht lediglich die Praxisformen durch ihre Verknüpfung mit einem Bibelzitat zu apostolischen zu erheben, sondern gleich die Person, die so hervorgebracht wurde, bediente er sich eines bestimmten hagiographischen Topos: Er band den Entschluss, apostolisch leben zu wollen, an einen Wechsel der Kleidung, und der Topos des Kleiderwechsels steht für die Annahme einer neuen religiösen Lebensform. Die Apostolizität manifestierte sich also in einem bestimmten Habit, und die Person, die sich diesen überzog, konnte gar kein anderer sein als der Träger des apostolischen Habitus; die Praxisformen, die diese Person nun hervorbrachte, konnten dann auch gar nicht anders als apostolisch sein. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die sprachlichen Apostolizitätsmarker, die Thomas nutzt, vornehmlich auf den Abschnitt der Vita beschränkt sind, in dem Franziskus den apostolischen Habitus annimmt. Sobald er diesen aufweist, bedarf es keiner Marker mehr.

Dass Thomas’ Apostolizität nur ein Konstrukt ist und sich die Praxisformen, die er zu Konstituenten eines apostolischen Habitus konstruierte, letztlich auch nicht allgemeiner Anerkennung erfreuten, zeigt Anne Massoni in einer Studie über die Pariser Säkularkanoniker zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert: Diese ( in Relation zu Thomas betrachtet ) eher praktisch veranlagten Menschen gingen nämlich dazu über, Apostolizität ausschließlich über Besitz zu definieren [148].

Nichtsdestoweniger dürften die obigen Ausführungen zur Genüge gezeigt haben, dass das Aufkommen der Mendikantenorden und die hagiographischen Versuche, sie zu legitimieren, einen wahren „Kampf der Klassifikationssysteme“ [149] ausgelöst haben, der in höchstem Maße um die Frage kreiste, welchen Wert der Rückzug in die Einsamkeit besaß. Thomas’ erste Franziskusvita ist, wie schon angemerkt, lediglich ein Beitrag zu diesem Aushandlungsprozess, und sie ist keine um Objektivität bemühte Darstellung der verschiedenen religiösen Lebensstile. Wenn man an die Ergebnisse dieser Arbeit anknüpfen und der Frage nachgehen will, welchen Verlauf dieser Kampf der hagiographischen Klassifikationssysteme konkret nahm, wären zwei Schritte essenziell. Zunächst müsste man der Frage nachgehen, wie Thomas den Eremitismus in seinen weiteren hagiographischen Werken beurteilt, und untersuchen, ob seine Positionierung zu dieser Lebensform kohärent ist. Obschon diese Frage einer separaten Betrachtung bedarf, sei an dieser Stelle schon auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass Thomas Franziskus in seiner Chorlegende und seiner ‚Vita secunda sancti Francisci‘ nicht einmal mehr phasenweise als Eremiten ausweist [150] und in letzterem Werk nicht die eremitische Lebensform per se, wohl aber deren aktuelle Träger explizit kritisiert: Multi enim locum contemplationis convertunt in otium, et eremiticum ritum, qui animabus perficiendis inventus est, in sentinam transferunt voluptatis. Talis horum temporum anachoretis constitutio est, vivere unumquemque pro libitu [ … ] [151]. Diese Versuche, Franziskus nun auch durch das Auslassen einer eremitischen Lebensphase in dem hagiographischen Werk von den Einsiedlern abzugrenzen, und die unverhohlene Kritik an zeitgenössischen eremitischen Lebensweisen zeugen zumindest auf den ersten Blick von einer kohärenten Positionierung, die auf die Abwertung des ( zeitgenössischen ) Einsiedlertums zugunsten der Privilegierung der franziskanischen Lebensweise zielt.

Um ermitteln zu können, welche Praxisformen sich in Folge dieser Auseinandersetzungen als Konstituenten eines ( wie auch immer beschaffenen ) eremitischen Habitus letztlich durchsetzen konnten, wäre es in einem zweiten Schritt erforderlich, nicht nur Thomas’ Werk, sondern sämtliche hagiographischen Zeugnisse aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auszuwerten. Wie weiter oben schon angerissen, ist auch Thomas’ Bewertung des Eremitismus nicht von allgemeiner Gültigkeit, und seine hagiographischen Ausführungen müssen als Beitrag zu einem neu eröffneten Diskursraum begriffen werden, in dem gewiss auch konträre Meinungen vertreten wurden. Eine Studie, die sich dieses Kampfs der hagiographischen Klassifikationssysteme annimmt, wäre zweifelsohne lohnenswert.

Online erschienen: 2025-10-24
Erschienen im Druck: 2025-10-22

© 2025 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 27.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fmst-2025-0007/html
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