Vom Götterstammbaum zur Familie der Könige
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Dieter von der Nahmer
1. Einleitend: Vom unterschiedlichen Interesse an Vorfahren
Sueton berichtet, Caesar habe als Quaestor auf Julia, die Schwester seines Vaters, auf dem Forum die Leichenrede gehalten und zu seinem Stammbaum das Folgende gesagt:
„Meine Tante Julia stammt mütterlicherseits von Königen, von Vaters Seite ist sie mit den unsterblichen Göttern selbst verwandt. Denn die Marcii Reges, deren Namen ihre Mutter führte, leiten ihr Geschlecht von Ancus Marcius her, aber von Venus die Julier. Zu ihnen gehört unsere Familie. In unserem Geschlecht ist also die erhabene Majestät der Könige, die unter Menschen die größte Macht besitzen, geeint mit der Heiligkeit der Götter, denen selbst die Könige untertan sind.“ [1]
Anders Vespasian:
„Als einmal einige Leute den Versuch machten, den Ursprung des Flaviergeschlechts auf die Gründer der Stadt Reate und auf einen Gefährten des Herkules zurückzuführen, dessen Denkmal noch jetzt auf der Via Salaria steht, lachte er sie ohne weiteres aus.“ [2]
Noch bis in die jüngste Zeit hat es die Vorstellung gegeben, Vornehmheit und Bedeutung einer Familie hingen unmittelbar mit ihrem nachweisbaren Alter zusammen, natürlich auch damit, dass diese Familie Menschen von anerkannter Bedeutung zu den Ihren gezählt hat. Da aber genealogische Erinnerung gerne von einer herausragenden Gestalt – heute oft unschön Spitzenahn genannt – von einem Herrscher, einem Heiligen, gar von Göttern ihren Ausgang nimmt, so liegt die größte Leistung der Familie meist auch weit zurück. Was aber nützt der Nachweis der Abstammung von Karl dem Großen, wenn die eigenen Taten danach nicht sind? Mit Erstaunen nimmt man wahr, dass es noch immer Menschen gibt, die den Nachweis adliger Abstammung für sich führen möchten – nach dem letzten Weltkrieg noch hat es dafür Urkundenfälschungen gegeben. Giulio Battelli erzählte einst von einer solchen in einem Vatikanischen Registerband des 17. Jahrhunderts! – Menschen, die gar bereit sind, gegen Geld durch Adoption Mitglied erlauchter Familie zu werden, um solchen Namen auf Briefkopf und Visitenkarte drucken zu können.
Zunächst: Genealogie ist nicht so sehr eine biologische Disziplin, als man denken könnte. Wir, die wir lange Stammbäume nicht vorweisen können, sind biologisch genauso alt wie die Mitglieder der erlauchtesten Familien. Nicht ohne Spott nannte sich Ernst Moritz Arndt ebenso Wohlgeboren wie Hochgeboren:
„Wohlgeboren konnte ich heißen, weil ich stark und gesund an das Licht der Welt fiel. [ … ] Hochgeboren, weil das Haus meiner Geburt damals durch eine hohe stattliche Treppe und durch Jugendlichkeit und Schönheit ein sehr ritterliches und hochadliges Ansehen hatte, und in seinen Sälen und Gemächern mit Geschichten der griechischen Mythologie, ja mit dem ganzen Olymp, Jupiter und Juno mit Adler und Pfau an der Spitze, verziert war [ … ].“
Er scheute sich nicht zu sagen: „Es hätte sich aber leicht begeben können, daß ich ein recht Unwohlgeborener geworden wäre [ … ]“ [3]. Genealogie ist vor allem eine Frage des geschichtlichen Bewusstseins, das eine Person, eine Familie von sich hat [4]. Und sie unterliegt deshalb auch in erstaunlichem Maße menschlichen Entscheidungen, wofür es Beispiele in großer Zahl gibt.
Haben Familien zumal des späteren Mittelalters häufig Vornehmheit, Bedeutung, Legitimität, herrscherlichen Anspruch aus langer genealogischer Tradition, und damit wohl auch erbrechtlich begründet, so sei hier auf eine Vorstellung verwiesen, die sich freilich nicht als Tradition ausweisen lässt: Solch genealogisches Geschichtsbewusstsein wurde seit alters immer wieder auch in Zweifel gezogen: Das Evangelium nach Matthäus beginnt mit einem Stammbaum Christi, der von Abraham seinen Ausgang nimmt ( Mt. 1,1–17 ). Aber schon als Johannes ihn im Jordan taufte, trat derselbe Christus den umstehenden Pharisäern und Sadduzäern entgegen: „Denket nur nicht, dass ihr bei euch wollt sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch: Gott vermag Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken“ ( Mt. 3,9 ). Zu Abrahams Kindern zählte man nicht durch biologische Sukzession, sondern durch ein Leben, das eines Abraham würdig war. Dies ist für das Mittelalter nicht weit weg. Im dritten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts sagt die Magisterregel, wohl im weiteren Umkreis von Neapel, von einem unbekannten Abt für ein unbekanntes Kloster geschrieben: Nos matrem nobis iam non de limo terrae Euam, sed divinam nos vocantem ad requiem christianam legem sentimus. Similiter et patrem iam non in arbitrio peccatorum Adam quaerimus, sed in voce Domini invitantis nos. – „Wir erkennen unsere Mutter nicht in Eva, der aus einem Erdenkloß geschaffenen, sondern im christlichen Gesetz, das uns zur Ruhe ruft. Und gleichermaßen suchen wir den Vater nicht in Adam, unserer Willkür zur Sünde, sondern in Gottes uns einladender Stimme.“ [5] Man wählte sich Vorfahren, und beiden durch fünf Jahrhunderte getrennten Worten ist gemein, dass solche Vorfahrenwahl einen hohen Anspruch gegen sich selbst aufrichtet, nicht eine Legitimation sucht, auch keinen Anspruch erhebt. Das in Heiligenviten des frühen Mittelalters häufige nobilis genere, nobilior sanctitate ist dem nahe; man sollte es nicht so leicht als Topos abtuen, enthält es doch in dichter sprachlicher Konzentration einen unbequemen, ernsten Gedanken, der klassischen Vorstellungen vom Adel gewiss nicht hofierte.
An Stammbäumen, die Vornehmheit, Legitimität, herrscherlichen Anspruch ausweisen, hat es dem Mittelalter nicht gefehlt. Die Wissenschaft hat solche Stammbäume untersucht, ihre Zwecke erforscht, gewollte oder ungewollte Irrtümer berichtigt, und sie als Quellen zum Selbstbewusstsein adliger Familien ausgewertet. Dieser allbekannten Stammbaumtradition wird hier nicht erneut nachgegangen. Man hat zudem Stammbäume rekonstruierend weiter zurückverfolgt, als es die Familien seinerzeit getan haben, oder genealogische Überlieferung dies aufbewahrt hat. Man war bestrebt, etwa mit Blick auf die Besitzgeschichte einer Familie diese vollständiger zu überschauen, auch ohne die Namen zu genauer Genealogie ordnen zu können. Schließlich halfen Personengruppen, die man als Verwandte in Nekrologen erkannte, bei dem Versuch, die Ausdehnung frühmittelalterlicher Familien und Sippen genauer zu erfassen. Dann aber rückte die Bemühung in den Vordergrund, die überlieferten Namen allein aufgrund unserer Kenntnis der Gewohnheiten damaliger Namengebung zu Familien und Sippen zu ordnen. Für diese Forschungen sei hier nur auf Gerd Tellenbach und seine Schule hingewiesen, deren zahlreiche Titel zu nennen zu weit führen würde [6]. Immer leichter wurden die Sockel, über die immer größere Brücken gespannt werden. Man gewann Kenntnisse über die Herkunft bedeutender Adelsfamilien, Einsichten in deren Aufstieg, untersuchte die Struktur des Adels. Dies alles wird hier nicht versucht. Der Verzicht auf Rekonstruktion ist sogar methodische Voraussetzung des Folgenden, denn jeder Rekonstruktionsversuch droht an dem Willen damaliger Stammbaumgestaltung vorbeizugehen.
2. Von angelsächsischen Götterstammbäumen
Mit dem kentischen Stammbaum sei begonnen. Die Oiscingas haben als erste auf der Insel landnehmend ein Königreich gründen können. Wie die anderen frühen angelsächsischen Königsfamilien haben sie einen Götterstammbaum, doch anders als die Merowinger haben sie diesen später in ihren christlichen Stammbaum integriert.
Die Gründungen jener Königreiche, die Angeln, Sachsen und Jüten seit der Mitte des 5. Jahrhunderts auf der britischen Insel gegründet haben, waren nicht Ergebnis jeweiliger Angriffskriege von Kriegern jener Völker, die mit solchem Ziel über das Meer gekommen waren. Die Entwicklung der Bevölkerung, ihrer Lebensweise, der schon seit längerer Zeit vorhandene Anteil von Barbaren aus dem norddeutsch-dänischen Raum und auch weitere Zuwanderung sind intensiv erforscht worden. Neuere umfassende Darstellungen informieren über wichtige Ergebnisse jüngerer Untersuchungen britischer Archäologen, die ein sehr differenziertes Bild der Veränderungen im Süden und Osten der britischen Insel erarbeitet haben. Die historiographische Überlieferung erzählt davon nicht, sie berichtet nicht von Völkerwanderung, sondern meist nur von einigen, meist drei Booten, mit denen Krieger übers Meer kamen. Die Zahl ist kaum genau zu nehmen, aber bezeugt ist schriftlich, dass Krieger über das Meer kamen, Land eroberten und gewiss kleine Reiche gründeten. Von Frauen, gar Familien ist nicht die Rede. Diese Gründungen spielen in manchen modernen Darstellungen, sofern sie überhaupt erwähnt werden, nur eine untergeordnete Rolle. Aber könnten nicht beide Versionen ihr Recht haben, ja, einander ergänzen? Die Quellen bezeugen Kämpfe, Siege, Gründungen kleiner Reiche, die neueren Untersuchungen schildern Zustände und deren Entwicklungen, woraus sich keine Reichsgründungen ergeben. Letztere sind in den Quellen mit den Götterstammbäumen der Anführer verbunden. Nur aus Kämpfen und Siegen ergaben sich Königserhebungen und Königsfamilien. Da sollte man die Gründungsgeschichten nicht als Phantasie des 8. Jahrhunderts abwerten [7].
Beda Venerabils erzählt [8], 449 setzten Angeln nach Britannien über, da der Britenkönig Vortigern sie um Hilfe gegen die Pikten gebeten hatte. Als sie siegreich waren, holten sie Jüten, Angeln und Sachsen nach, um nun für sich selber ein Reich zu erobern. Die Angelsächsische Chronik, die Version der ,Laud/Peterborough-Chronicle‘, hier das MS. E, nennt an dieser Stelle wie Beda als Anführer der Eroberer das Brüderpaar Hengist und Horsa: „Sie waren Söhne des Wihtgisl, Wihtgisl ein Sohn des Witta, Witta ein Sohn des Wecta, dem Sohne Wotans. Von diesem Wotan rühren unsere Königsfamilien her und die aller Völker, die südlich des Humber siedeln.“ [9] 455 fiel Horsa im Kampf gegen Vortigern. Nun nennt die Chronik erstmals Hengist König und ebenso dessen Sohn Æsc. Hengist kam also nicht als König auf die britische Insel; König wurde er durch den Landnahmesieg, durch die Reichsgründung. Solche Taten erwiesen ihn als Nachfahren einer Gottheit. Menschliche Kraft allein erklärte einen solchen Sieg nicht. In diesem Zusammenhang erhielt der Sieger auch einen neuen Namen ( so auch sein Bruder ): Hengist ist sicher nicht der Name, den die Eltern ihm einst gegeben hatten. Hengist, Horsa: Das Pferd ist hier wohl als ein Tier Wotans gemeint. Die Riten der Erhebung zu solcher Götternähe sind uns nicht überliefert. Ein alter Stammeskult ist dahinter schwerlich zu vermuten, auch eine Kulttradition hat dies kaum begründet. Es bleibe unerörtert, was Königtum in diesem Falle bedeutet, welche Macht, welche Rechte der neue König über Große und Untertanen hatte. Die Titel rex oder dux, die römische Quellen barbarischen Anführern verliehen haben, gehören in eine ältere Zeit. Sie geben die Sicht der Römer wieder und sind nicht in den barbarischen Völkerschaften aus bestimmtem Anlass verliehen worden, wie dies für Hengist und die angelsächsischen Könige sowie für Chlodwig der Fall war [10].
Der Bericht Bedas stimmt mit der Angelsächsischen Chronik in allen wesentlichen Punkten überein; insbesondere überliefert Beda denselben Stammbaum für die beiden königlichen Brüder. Zudem gibt es eine separate genealogische Überlieferung angelsächsischer Königsstammbäume, richtiger vielleicht Königslisten, die ebenfalls für die verschiedenen Königshäuser die Götterherkunft bewahren. David Dumville datiert die schriftliche Kompilation dieser Genealogien auf das späte 8. Jahrhundert [11], also später als Bedas ‚Historia ecclesiastica gentis Anglorum‘, früher als die Chronik.
Die Herkunft Hengists oder anderer angelsächsischer Reichsgründer von Wotan ist doch wohl eine heidnische Vorstellung, nicht Erfindung Bedas oder der Chronik. Geht man von den Manuskripten aus, so stellt Bedas Aufzeichnung das älteste Dokument dar; die ,Historia ecclesiastica gentis Anglorum‘ ist 731 vollendet worden. Beda nennt für die vorchristliche Zeit keinen bestimmten Zeugen; ex priorum maxime scriptis hinc inde collectis ea, quae promeremus, didicimus ( Praef. S. 6 ). Das Manuskript der ,Peterborough-Chronicle‘ gehört erst dem 12. Jahrhundert an, hat aber Kenntnisse, die aus Beda nicht zu erklären sind, nicht nur reicheres Datenmaterial, sondern z. B. den Ort der Landung. Die Frage, woher Beda und die Chronik ihre Kenntnisse dieser Vorgänge bezogen haben, beschäftigt die umfangreiche neuere Literatur zu diesen Quellen. Gewiss irritiert der Name Cerdic, aber warum sollten Angeln oder Sachsen nicht einen landeskundigen Briten als Anführer gewählt haben? In Götterherkunft durchweg Propaganda einer Familie zu sehen, erklärt nicht die Entstehung; der göttliche Ahn war nicht späte Erfindung einer Königsfamilie, er wurde in einem Landnamesieg erkannt, gewiss nicht erst in christlicher Zeit erfunden [12]. Man wollte dies erklären als Variante indogermanischer Gründungslegenden. Aber überrascht es wirklich, dass die polytheistische Welt hinter außerordentlichen Taten eine göttliche Macht erkannte? Woher mögen Beda und die Autoren der ‚Anglo-Saxon Chronicle‘ indoeuropäische Gründungslegenden gekannt haben? Bedarf dies keines Quellennachweises? Es erinnert an die häufige Abwertung mit dem Begriff des Topos [13]. Das ständige Hantieren mit sogenannten Topoi als literarischen Versatzstücken wirft die Frage auf, ob so belastbare Ergebnisse gewonnen werden können. Solche besonderen Siege wurden kultisch gefeiert, wovon vor allem Widukind von Corvey eine lebendige Darstellung gibt [14].
Dabei bleibt in dieser Diskussion die Arbeit des englischen Chronologen Kenneth P. Harrison [15] häufig unberücksichtigt, der zur westsächsischen Geschichte beobachtete, dass mehrere Annalen zu Cerdic ( um 500 ) doppelt verzeichnet worden sind mit einem Abstand von 19 Jahren. Er erklärt dies einfach und plausibel: Nach Beda haben die germanischen Völker einen 19-jährigen chronologischen Zyklus gekannt, 235 Mondmonate=19 Jahre. Harrison vermutet, dass ältere primitive Notierungen – etwa Stäbe, die einen 19 Jahres-Zyklus darstellten – aus frühester Zeit vorlagen. Kerbschnitte mögen wichtigste Daten, wie Herrscherjahre, Schlachtensiege u. ä. festgehalten haben. Dies übertrug man später in ein annalistisches System. Westsachsen und Cerdic betreffend müssen Stäbe irrtümlich doppelt benutzt worden sein. Dies könnte den doppelten Eintrag mit der Verschiebung von 19 Jahren erklären; den Zweigen der Angelsächsischen Chronik lägen für die Frühzeit also Notierungen aus heidnischer Zeit zugrunde, die weit vor die ersten Kompilationen aus dem 9. Jahrhundert zurückreichen. Diese können aber direkt oder indirekt auch zu Bedas Quellen gehört haben. Wir müssten dann nicht nach Mythen, deutbaren Ortsnamen etc. suchen. Wir wissen nicht, wie solche Notierungen ausgesehen haben, was sie enthalten haben können und was nicht und wie diese im 8. oder 9. Jahrhundert in angelsächsische oder lateinische Sätze übertragen wurden [16]. Noch jüngst wurden die Götterstammbäume der Angelsachsen unter dem Titel behandelt: „Im Hohlraum der Mythenbildung: Das poströmische Britannien: [ … ] so führt das erstmals bei Beda erwähnte Brüderpaar Hengist und Horsa direkt in die Welt des Mythos.“ [17] Das Problem ist unsere Vorstellung, Religion und Götterglaube dienten vor allem politischer Rechtfertigung als Taktik – eine in dieser Allgemeingültigkeit unbewiesene Behauptung.
Man hat beobachtet, dass Wotan von Beda nicht als Gott bezeichnet wird. Gewiss, aber warum hätte er das tun sollen? Ältere Vorlagen brauchten die Gottheit Wotans nicht hervorzuheben, dies wusste jedermann. Zu Bedas Zeit war wohl den Schriftkundigen ebenso klar, dass Wotan eine ( Krieger- )Gottheit war. Beda berichtet, was er über vorige Zeiten erfahren hatte und erfand keinen Stammbaum [18].
Beda wie die Angelsächsische Chronik ordnen den Wotanstammbaum einer singulären Tat zu: Der Reichsgründung. Dieser Zusammenhang blieb in seiner Bedeutung weithin unbeachtet. Eine reine Genealogie stellt diesen nicht her, sie bietet die Namen ohne jeden Hinweis auf ein Geschehen. Bezeichnend ist, wie Beda die Genealogie fortführt ( II, 5 ). Er berichtet vom Tod Æthelberhts 21 Jahre nach der Taufe ( 21. Febr. 616 ), bezeichnet seine Begräbnisstätte, lobt seine Rechtsaufzeichnungen. Dann fährt er fort: Erat autem idem Aedilberct filius Irminrici, cuius pater Octa, cuius pater Oeric cognomento Oisc, a quo reges Cantuariorum solent Oiscingas cognominare, cuius pater Hengist, qui cum filio suo Oisc invitatus a Uurtigerno Brittaniam primus intravit, ut supra retulimus ( ed. Plummer, S. 90; ed. Spitzbart S. 150 ). Das bedeutende Ereignis: Die Bekehrung zum Christentum veranlasst Beda ( oder seine Vorlage? ), Æthelberht mit einer Genealogie von Hengist herzuleiten. Aber er benennt die Königsfamilie nicht nach Hengist, sondern nach Oisc. Ist die Genealogie wiederum kurz, so hat dies kaum dieselbe Bedeutung wie die kurze Göttergenealogie des Hengist. Die heidnische Göttergenealogie war schon dem heidnischen Reichsgründer zugeordnet; Beda brauchte Wotan als Ahnen des ersten christlichen Königs nicht mehr zu nennen. Die Christianisierung der Königsfamilie schlug sich anders nieder als später bei den Merowingern. Chlodwig hat sich von den heidnischen Ursprüngen radikal getrennt und wurde so zur Gründerfigur. War Æthelberht, wie auch die anderen angelsächsischen Königsfamilien der Reichsgründung auch schon sehr fern, erhielt er doch die Stammbaumtradition sogar in der Stufe der Götterherkunft. Die Angelsachsen ‚christianisierten‘ ihren Königsstammbaum anders als die Merowinger: Sie schufen Wotan Vorfahren: Er wurde ein Nachfahre Noahs, nicht mehr Gott, sondern Mensch in einer Geschlechterfolge zwischen dem Patriarchen und einem angelsächsischen Reichsgründer. Wann immer diese Änderung vollzogen wurde, die Chronik überliefert diese Christianisierung des Stammbaumes zu 853 für das westsächsische Haus, für Cerdic [19]. Wegen der westsächsischen Vorherrschaft wurden die anderen Stammbaumtraditionen wohl nicht weiter gepflegt. Doch diese Änderung mit der entsprechenden Verlängerung des Stammbaumes macht den Unterschied zu der so überaus kurzen Vorfahrenkette von Hengist zu Wotan erst recht deutlich. Hengist, dessen Reichsgründung so zur Tat eines Göttersprossen wurde und keine normale Menschentat war, gewann diesen Rang der Nähe zu Wotan als Nachfahre und entäußerte sich seiner biologischen Vorfahren. Die spätere Erniedrigung Wotans zu einem Menschen schnitt nicht annähernd so radikal in Geschichte und Genealogie der Königsfamilie ein wie die Entscheidung Chlodwigs, auf den vorigen Götterstammbaum zu verzichten. Der Hengiststammbaum wirft ein Schlaglicht auf das, was für die Merowinger vor Chlodwig vermutet werden darf.
3. Von der Herkunft der Merowinger?
Von den fränkischen Königen handelt Gregor von Tours, als er dem Ursprung der Franken nachgeht [20]. Wer der erste König der Franken war, kann er nicht mehr feststellen; offenbar haben duces die Franken bis an die römischen Grenzen geführt, diese auch mehrfach durchbrochen. Chlodwig ( 482–511 ) ist nicht der erste merowingische Frankenkönig, doch erscheint er schon in der Darstellung Gregors von Tours als eigentlicher Begründer des Frankenreiches, wie dies ähnlich Avitus, der Bischof von Vienne, in seinem Brief an Chlodwig sieht. In der Situation zwischen Rang, Macht und Einfluss der gallischen Bischöfe ( meist Trinitariern ), den heidnischen Franken und den arianischen Germanenkönigen entschied sich Chlodwig für den allmächtigen und einzigen Gott. Wurden die entscheidenden Schlachten ( gegen Alemannen und Westgoten ) auch nicht ohne politisch-militärisches Kalkül geführt, so galt doch, dass menschliche Anstrengung allein zum Erfolg nicht reicht. Es bedurfte der Zustimmung und Hilfe Gottes, des mächtigsten, des einzigen Gottes. Gregor betont die Bedeutung von Chlodwigs Übertritt zum nicänischen Christentum; aus seiner Perspektive war Gott und dessen Anerkennung das Entscheidende. Die Suche nach den fränkischen Ursprüngen aber verlangte einen viel früheren König, den Gregor jedoch nicht finden kann, auch Theudemer und Chlogio sind dafür nicht früh genug [21]. Sein Vater, Childerich ( ca. 460–481 ), von dem Gregor wenig vorteilhaft berichtet ( II, 12 ), beherrschte Flandern und Nordgallien. Dieser König erhielt eine außergewöhnliche Grabanlage, deren Beigaben Heidnisches zeigen, aber auch Anklänge an christliche Vorstellungen enthalten, und die bis heute die Wissenschaft immer wieder beschäftigt [22]. Dieser König hatte die Unterstützung vieler Götter gesucht und den Gott der Christen den heidnischen Göttern hinzugefügt. Auch daran lässt sich die Kühnheit der Entscheidung Chlodwigs ermessen, der ja nicht ein nur persönliches Glaubensbekenntnis ablegen konnte; er musste seine Großen auf diesem Weg mitnehmen.
Vor diesem Namen lässt sich ein Stammbaum nicht sicher rekonstruieren, obwohl Gregor von Tours sehr bemüht ist, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Er weiß, dass die Franken iuxta pagus vel civitates regis crinitos super se creavisse de prima et, ut ita dicam, nobliore suorum familia. Dann kennt er König Theudomer, Sohn eines Richimer, dessen Rang er nicht bezeichnen kann. Die Namen beider tragen als Endglied das Erstglied des Merowingernamens, weshalb man Theudomer und seinen Vater den Merowingern in irgendeiner Weise zuschlagen möchte. Doch Gregor hat keinerlei Kenntnis von solcher Zugehörigkeit. Später, nach dem Bericht von Kämpfen zwischen Römern und Franken, notiert er: ferunt etiam, tunc Chlogionem utilem et nobilissimum in gente sua regem fuisse Francorum. Seine Tat – Gregor berichtet von der Eroberung Cambrais und des Landes bis zur Somme – wird für die Franken als Landnahmeeroberung damals von größter Bedeutung gewesen sein. Dann schließt Gregor an: De huius stirpe quidam Merovechum regem fuisse adserunt, cuius fuit filius Childericus [23]. So hieße die Folge der Geschlechter: Merowech – Childerich – Chlodwig. Die Beziehung zu Chlogio ( Chlodio ) bleibt ungeklärt, vielleicht ein Seitenverwandter, doch wir stünden vor dem Problem, dass die Kontinuität sowohl in Bezug auf das Territorium wie auf die beherrschten Franken von Chlogio zu Chlodwig geht und von Merowech, dem namengebenden Stammvater des Geschlechts, keine Taten überliefert sind. Merowech steht dem Landnahmesieger Chlogio auffällig blass gegenüber; für den Begründer eines Geschlechtes ist dies kaum vorstellbar.
Krusch und Levison druckten eine erweiterte Merowingergenealogie [24], die die austrasische Linie bis zu Dagobert I. ( 623–638 ) verfolgt, weshalb sie diesen Text einem austrasischen Autor der Zeit vor Dagoberts Tod zuwiesen, da dessen Söhne ungenannt bleiben. Chloio ist hier primus rex Francorum. Dann durch genuit verbunden: Chloio, Glodobodus, Meroveus, Hilbricus ( Hildebricus ), Genniodus, Hildericus, Chlodoveus, Theodericus, Chlomirus, Hildebertus, Hlodarius, von Chlodarius her dann Charibertus, Ghundrammus, Chilbericus, Sigibertus, von Sigibertus her Hildebertus mit den Söhnen Theodobertus und Theodericus. Dann wird noch angefügt: Et ante Hilbericus genuit Hlodhario, Hlodharius genuit Dagabertum. Schon Baesecke [25] war die Folge Glodobodus – Meroveus – Hilbricus – Gennodius als Einschub aufgefallen. Dies führt zu der Namenfolge Chlodio – Childerich – Chlodwig, also Merowech, den Namengeber des Geschlechts, auslassend. Er gehörte wohl in eine frühere Zeit, hat Taten vollbracht, die die Überlieferung seines Namens bewirkten. Die Unsicherheit über Merowech und seine Zeit wird am Vergleich der Überlieferung Gregors mit diesem Stammbaum deutlich und sie wird noch größer, liest man Fredegar, den nächst jüngeren Historiker: Etwa zwei Jahrzehnte nach der ihm unbekannten Genealogie, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Gregor, nutzte Fredegar dessen Erzählung, und schuf in der frühen Merowingergenealogie eine neue Ordnung [26]: Er formte aus Gregors unsicheren Worten eine klare Folge der Generationen: Richimer – Theudomer – Chlodio. Er verlängerte Chlodwigs gesicherten Stammbaum in männlicher Linie um zwei Generationen. Nun veränderte er einen Satz Gregors ( II, 10, S. 58 ): Sed haec generatio fanaticis semper cultibus visa est obsequium praebuisse – es folgen Worte zu fränkischen Opferkulten – und sagt: Haec generatio fanaticis usibus culta est [27]. Man erzähle, Chlodio habe sich mit seiner Gemahlin zur Sommerzeit am Strande aufgehalten, und als die Königin zum Bade ins Meer watete, bistea Neptuni Quinotauri similis eam adpetisset – „da habe ein Meerungeheuer, ähnlich dem Minotaurus, sie angefallen.“ Cumque in continuo aut a bistea aut a viro fuisset concepta – „ob sie nun von dem Ungeheuer oder von ihrem Manne empfing, sie gebar einen Sohn mit Namen Meroveus, nach dem später die Könige der Franken Merowinger genannt wurden.“ Dies ergibt für Fredegar die Generationenfolge: Richimer – Theudomer – Chlodio – Merowech – Childerich – Chlodwig.
Für die Zeit vor Childerich sind diese Texte kaum zur Übereinstimmung zu bringen, zu groß sind die Probleme um Merowech [28]. Man hat Fredegars Geschichte daher für seine Erfindung gehalten [29]. Andere folgen Haucks Vorstellung einer alten Überlieferung göttlicher Abstammung der Merowinger [30]. Die Vorstellung einer trojanischen Herkunft der Franken ist wohl gelehrte Fiktion [31].
Fredegars schwierige Überlieferung wird Niederschlag von Traditionen über göttliche Herkunft der Merowinger sein und sollte nicht als absurd übergangen werden. Merowech stünde so als der von einem stierförmigen Gott Gezeugte am Anfang. Vielleicht lässt sich sein Name als Stiername deuten [32]. Eine zutreffende Vorstellung der frühen Merowingerüberlieferung zu gewinnen, scheint kaum möglich. Doch ist der Name des Göttersprösslings nicht zufällig, analog zu Hengist und Horsa, ein Tiername. An eine Kulthandlung wird man auch hier denken, nicht an einen alten, regelmäßig wiederholten Stammeskult. Weshalb aber ist schon Ende des 6. Jahrhunderts diese frühe Überlieferung derart undeutlich und verworren, dass sogar die Erinnerung an einen alten Götterstammbaum unterdrückt wurde und erst ein halbes Jahrhundert später bei Fredegar in einer Weise erscheint, die die ursprüngliche kaum gewesen sein kann? Warum bleibt der namengebende Ahn der Familie in allen Überlieferungen so blass?
4. Chlodwigs Entscheidung zur Taufe und die Genealogie der Merowinger
Es sollte die verschüttete Überlieferung der Merowinger als wichtigste Königsfamilie des frühen Mittelalters in Umrissen wiedergewonnen werden. Dies führt auf direktem Wege zu Chlodwigs Taufe. Bischof Avitus von Vienne hatte sich brieflich dafür entschuldigt, dass er nicht an der feierlichen Taufhandlung teilnehmen konnte. In diesem bedeutungsvollen, inhaltsreichen, politisch hellsichtigen Brief fallen die Worte: Vos de toto priscae originis stemmate sola nobilitate contentus – „Ihr, dem von dem ganzen vorigen Stammbaum der bloße Adel genügt, habt gewollt, dass alles, was den Gipfel der Hoheit irgend zu zieren vermag, für Eure Nachkommenschaft bei Euch den Ausgang nehme.“ [33] Der Satz ist reich an Inhalt: nobilitas wird vom alten Stammbaum gelöst und so zu einer herrscherlichen Qualität. Der vorige Götterstammbaum wurde aufgegeben. Die Überlieferung von Merowech verschwand bis zu der Konsequenz aus der gewollten Familientradition, dass Gregor in Tours, wo Chlodwigs Witwe nach 511 bis zu ihrem Tode 544 gelebt hat, davon nichts erfuhr und dass der Name Merowech auch erst bei einem Urenkel Chlodwigs, dem Sohn Chilperichs I., wieder Verwendung fand [34]. Schließlich: Alles sollte seinen Ausgang von Chlodwig nehmen, dem ersten getauften Merowinger. Energischer konnte Chlodwig als Gründergestalt schwerlich hervorgehoben werden. So stand die Familie jung, fast ohne Vorfahren da. Was immer man über Vorfahren wusste, es sollte keine Geltung mehr haben, und dies, während Chlodwigs Zeitgenosse, ja Schwager, Theoderich der Große 17 Generationen von Königen als Vorfahren für sich in Anspruch nahm! So begreift man, warum unsere Überlieferung von den frühen Merowingern derart undeutlich aussieht. Wichtiger noch: Durch die Taufe beginnt bei Chlodwig alles neu; dieser Satz des Avitus bezeichnet die radikale Abkehr von allem, was man als germanische Tradition bezeichnet und geglaubt hat, im weiteren Verlauf noch lange aufweisen zu können. Die Entscheidung für das nicänische Bekenntnis war die Entscheidung für die christianisierte römische Welt, die Chlodwig vor allem in der kirchlichen Organisation begegnete. Die abgelegte prisca stemma bezeichnete den alten Stammbaum, und damit die heidnische Welt nicht nur als Religion, sondern auch in ihren Organisationsformen [35]. Die Alemannenschlacht – wann immer sie stattgefunden hat – beantwortete die Frage nach dem mächtigsten Gott überzeugend. Was immer Chlodwig von theologischen Distinktionen verstand, er war kein Theologe oder Priester, er hatte sich für den mächtigsten, den einzigen Gott entschieden und musste sein Reich schützen und mehren; er verdankte es dem allmächtigen Gott. Die Alternativen, geistliche oder materielle Antriebe, sind da wenig hilfreich. Wer herrschen wollte, bedurfte der Unterstützung des mächtigsten Gottes, der aber wollte korrekt verehrt werden. Wo aber konnte sich die Macht eines Gottes deutlicher erweisen als in einer Schlacht [36]? Chlodwig hatte das System Theoderichs abgelehnt, das auf Eheschließungen und dem arianischen Bekenntnis beruhte. Dass dies eine Entscheidung war, zeigt ein Gespräch des Burgunderkönigs Gundobad mit Avitus von Vienne: Der König wollte heimlich getauft werden, seine Großen könnten einen solchen Wechsel der Gottheit ablehnen, eine Furcht, die hier Chlodwig durchaus teilte. Der Bischof aber machte dem Herrscher mit Christusworten klar, dass das Bekenntnis zur Wahrheit öffentlich, vor Menschen, abgelegt werden müsse. Ista ille ratione confusus, usque ad exitum vitae suae in hac insania perduravit, nec publice aequalitatem Trinitatis voluit confiteri – „Da wurde Gundobad irre an sich selbst und beharrte bis an sein Lebensende in seiner Torheit, denn er wollte es nimmer offen bekennen, dass die Dreifaltigkeit eines Wesens sei.“ Er fürchtete um sein Königtum. Chlodwig aber wagte diesen Schritt [37].
Merowech könnte als Führer einiger fränkischer Kleinverbände diese erfolgreich über den Rhein geführt haben. Ihm mag dafür der Götterstammbaum zuerkannt worden sein, was ebenfalls eine Verjüngung der Familie bedeutete: Die biologischen Vorfahren entfielen dabei. Chlodio blieb als Landnahmesieger in der Überlieferung erhalten. Gregor von Tours, der zitierte Stammbaum und Fredegar haben jeder versucht, aus den Trümmern der Tradition, die auf sie gekommen waren, wieder etwas Zusammenhängendes zu gestalten. Dies mag die wahrscheinlichste Lösung sein, wenn sie auch nicht strikt bewiesen werden kann. Mit den Namen Merowech, Chlodio und Chlodwig waren demzufolge bedeutende Einschnitte in der frühen Geschichte der Franken verbunden gewesen.
5. Hathagat: Das Beispiel der königslosen Sachsen
Eine Geschichte Widukinds von Corvey aus sächsischer Vorzeit mag vielleicht zum Verständnis beitragen. Widukind selber sagt ( I,2 ) [38]: sola pene famam sequens in hac parte, nimia vetustate omnem fere certitudinem obscurante. Dies bezieht sich sicher vor allem auf die legendäre Herkunft der Sachsen, doch folgt unmittelbar deren Landgewinn ( I, 3–6 ). Es geht hier um den Kampf zwischen Sachsen, Thüringern und Franken, und mit Theuderich ( Thiadrich ), dem unehelichen Sohn Chlodwigs, tritt eine geschichtliche Person in die Erzählung ein. Dem Wunsche seiner Gemahlin entsprechend, die bei Widukind Tochter Chlodwigs ist, will der Thüringerkönig Irminfrid Thiadrich nicht anerkennen, da er als unehelicher Sohn Knecht, ihr Knecht sei. Dies führt zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Nach einer dreitägigen Schlacht bei Runibergun ( ? ) floh der besiegte Irminfrid nach Burgscheidungen an der Unstrut. Die Franken entschlossen sich, trotz großer Verluste weiterzukämpfen und gewannen die Sachsen als Verbündete. Diese nahmen den Kampf mit den Thüringern auf, der verheerende Verluste auf beiden Seiten zur Folge hatte ( I, 9 ). Die Thüringer baten Thiadrich nun um Frieden, und man vereinbarte, gemeinsam die wilden Sachsen zu bekämpfen. Als diese durch eine List von der für sie gefährlichen Vereinbarung erfuhren, trat in der Beratung Hathagat auf, qui merito bonarum virtutum pater patrum dicebatur, iam senior, sed viridi senectute adhuc vigens. – „Ich weiß zu kämpfen, aber zu fliehen verstehe ich und vermag ich nicht.“ Die Sachsen griffen prima vigilia noctis an und erstritten einen für die Thüringer verheerenden Sieg; Irminfrid hatte allerdings mit kleinem Gefolge fliehen können ( I; 10/11 ). Nach dem Sieg ohne Verluste für die Sachsen errichtete man der Siegesgöttin einen Altar und verehrte secundum errorem paternum sacra sua; Widukind setzt hier antike Götternamen ein. Auf eine dreitägige Siegesfeier folgte die Verteilung der Beute; laudibus ducem in caelum attollunt, divinum animum ei inesse caelestemque virtutem acclamantes, qui sua constantia tantam eos egerit perficere victoriam – „ihren Anführer erhoben sie mit Lobpreisungen geradezu in den Himmel. Sie riefen ihm zu, ihm müsse ein göttlicher Geist und eine göttergleiche Tapferkeit innewohnen“ ( c. 12 ). Hathagat war offenbar ein bedeutender Kämpfer, nicht aber dux oder rex – bei aller Unsicherheit der Bedeutung dieser Termini – der Sachsen. Er hatte den entscheidenden Rat, vorbildliche Tapferkeit und Ausdauer gezeigt, war aber nicht Anführer zu einem Landnahmesieg. Man wusste, dass solch außergewöhnliche Leistungen aus menschlicher Kraft und Begabung allein nicht erklärt werden können; eine göttliche Macht musste einem solchen Menschen beigestanden und ihn befähigt haben. Das wussten die Heiden, das wusste Widukind, und wie an der Lechfeldschlacht klar wurde: Auch Otto der Große: decretis proinde honoribus et dignis laudibus summae divinitati per singulas ecclesias – „Dann ordnete er an, dem höchsten Gott Preis und würdige Lobgesänge in allen Kirchen darzubringen“ ( III, 49 ). Der Mensch, ob Heide oder Christ, ob Hathagat oder Otto der Große, muss seinen ganzen Einsatz erbringen, das Gelingen musste aber die Gottheit geben. Die Heiden verehrten ihre Götter, die Christen aber dankten und ehrten Gott, der sich in der Schrift offenbart hatte. Widukind prägte dafür die Paarformel fortuna atque mores – „Gottes Gnade und herrscherliche Leistung.“ Und Widukind war wichtig, dass seine heidnischen Sachsen dies im Grundsatz wussten, wenn sie auch noch die falschen Götter verehrten. Aber als schlechthin eigene Leistung sahen sie den Sieg [39] nicht an.
Die heidnischen Germanen fragten nach dem mächtigsten Gott. Nach dem Übertritt zu Gott, wie ihn die Heilige Schrift verkündet, konnte diese Frage nicht mehr gestellt werden; die Frage war nun, welcher ist der richtige, und zugleich einzige Gott, und diese Fragen haben die Damaligen wohl ernster genommen, als dies in der Mediävistik häufig geschieht [40].
Zurück zu den Götterstammbäumen: Die Sachsen hatten keine Könige, auch der Sieg bei Burgscheidungen führte nicht zu einer Königserhebung, nicht zu göttlicher Abstammung einer Königsfamilie [41]. Hathagats Leistung ging dennoch über menschliche Fähigkeiten hinaus: divinum ei animum inesse erkannten die Sachsen caelestemque virtutem acclamantes. Die Angelsachsen erkannten am Landnahmesieg eine mehr als nur menschliche Leistung, im Sieger einen Götterspross. Wir kennen die leiblichen Eltern von Hengist und Horsa nicht; auch die Namen, die die Eltern ihnen einst gaben, sind unbekannt. Man wird seit Hengist für die Angelsachsen von Königen reden müssen. Die fränkische Überlieferung ist verschwommener, der Stammbaum vor Chlodio/Merowech ist völlig unklar und nicht zu rekonstruieren. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Chlodwig die prisca stemma in der Taufe abgelegt hat und nun als Gründergestalt des fränkischen Königtums und mit Siegen gesegnet einen langen und gar einen Götterstammbaum abgelehnt hat. Ahnenstolz war seine Sache nicht. Es geht hier nicht um Königsheil, Adelsheil [42], oder Sakralkönigtum – sehr problematische Begriffe – oder um Fruchtbarkeit etc. Chlodwigs Leistung, sein Erfolg konnte aus menschlicher Kraft nicht erklärt werden. Eine genealogische Beziehung zu Göttern, zu Gott konnte nach dem Übertritt zum Christentum, welcher Konfession auch immer, nicht aufrechterhalten werden. Chlodwig legte den Götterstammbaum ab; die Angelsachsen gaben Wotan Vorfahren bis zu Noah oder gar Adam zurück und nahmen ihm so die Gottheit. Für die heidnische Zeit gilt wohl: Der Landnahmesieg konnte kultisch gefeiert werden, wobei man der Gottheit gedachte, die man als Ahn des Siegers erkannt hatte. Ein regelmäßig wiederkehrender Kult, der dem neuen König, gar noch dessen Nachkommen und Nachfolgern galt, ist hier so wenig wie ein Stammeskult bezeugt.
Die Götterherkunft der römischen Julier ist da wohl von gänzlich anderer Natur: Sehr spät erst tritt sie in den Quellen auf und behauptet, dass die Familie ursprünglich – in grauer Vorzeit – von einer Gottheit abstamme. Beansprucht dies eine besondere Vornehmheit über Jahrhunderte hin, so hob Caesar doch auch die Heiligkeit der Götter, die so auf den Juliern ruhte, hervor. Die angelsächsischen Landnahmesieger und Reichsgründer hingegen waren ihrem göttlichen Vorfahren sehr nahe. Mit dieser neu geschaffenen Genealogie schnitten sie sich selber und ihre Nachkommen von den wirklichen Vorfahren ab. Die tatsächliche Genealogie, wie alt sie immer gewesen sein mag, wurde so vernichtet.
6. Von der Abstammung der Karolinger von einem Heiligen
Die nächste Familie, die zum Königtum unter den Franken emporstieg, waren die Karolinger, die zum Zeitpunkt der Erhebung 751 besser als Arnulfinger zu bezeichnen wären. Vor seiner Erhebung zum König stand Pippin wie seine Vorgänger nominell in merowingischen Hofdiensten. Seine Herkunft bot ihm keinen Weg zum Königtum. Die Genealogie legitimierte die längst zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen Merowinger. Einen genealogischen Weg hatte der Hausmeier Grimoald, ein Urgroßonkel Pippins d. J., versucht, indem er dem kinderlosen Sigibert III. ( 633/634–656 ) seinen eigenen Sohn zur Adoption als Childebert übergab. Als Sigibert doch noch ein Sohn geboren wurde – Dagobert – ließ Grimoald diesen scheren und in ein irisches Kloster bringen. Dieser Versuch, die Arnulfinger durch Adoption zu merowingischen Königen zu machen, scheiterte, als sein Sohn schon 661 starb. Die Neustrier nahmen Grimoald gefangen und richteten ihn hin [43]. Pippin d. J. sicherte sich die Zustimmung des Adels und gewann eine geistliche Legitimation durch den Papst, die ihn über den fränkischen Adel erhob [44]. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über das künftige Königtum der Arnulfinger benannte man nur vier Generationen vor Pippin, der so die fünfte Generation dieser Familie repräsentierte. An der Spitze standen Pippin, der 629 von seinem austrasischen Hausmeieramt zurückgetreten und 640 gestorben war und der heilige Metzer Bischof Arnulf ( 614–629 ). Arnulf stand in enger Verbindung zu den Klöstern aus dem Umkreis der Irengründung Luxeuil und zog sich 629 in die Gründung seines Freundes Romarich in den Vogesen zurück. Er gehörte zur ersten Generation des fränkischen Adels, die in größerer Zahl bischöfliche Ämter übernahm. Die nächste Generation der Familie – Ansegisel∞Begga, Grimoald – gründete als erste bedeutende Klöster: Nivelles ( Itta/Gertrud ), Stablo/Malmedy, Andenne. Der Einsatz in weltlicher Herrschaft und zugleich im Geistlichen war der Familie längst eigen, ehe sie nach dem Königtum griff, so wie sie sich auf einen Bischof und einen Hausmeier berief. Von Ahnenstolz im Sinne einer langen Ahnenreihe kann die Rede nicht sein. Warum die Kürze dieses Stammbaumes, den wir bis heute nicht weiter haben zurückverfolgen können?
Von Arnulf berichtet eine zeitgenössische Heiligenvita [45] aus der Feder eines Mönches aus dem Romarichkloster, der Vorfahren Arnulfs nicht kennt: Beatus igitur Arnulfus episcopus prosapie genitus Francorum, altus satis et nobilis parentibus atque oppulentissimus in rebus saeculi fuit; sed nobilior deinceps et sublimior in fide Christi permansit. Die Kenntnis der Eltern wurde vielleicht wissentlich unterdrückt, dem Mönch musste es auf anderes ankommen. Arnulf war hoher Abkunft und verzichtete auf viel. Die Schwierigkeit, den fränkischen Adel dieser Zeit über mehrere Generationen zurückzuverfolgen, ist freilich allgemein und besagt nicht nur etwas über die Quellenarmut, sondern auch über den fränkischen Adel und seine Entstehung. Gertrud, Tochter des älteren Pippin und Schwester des genannten Grimoald, erste Äbtissin des von ihrer Mutter Itta gegründeten Klosters Nivelles, kennen wir aus einer Vita [46], die schon um 670 aus guter Kenntnis berichtete. Diese Vita sagt im Prolog zu Gertruds Herkunft: Sed quo ordine de terrena origine genealogiam adsumpserat, huic sermone inserere longum est. Quisnam in Euruppa habitans huius progenie altitudinem, nomina ignorat et loca? Dann aber wird vor Pippin und Itta kein Name genannt. War die so stolz ausgesprochene Bekanntheit des Geschlechts vielleicht vor allem die Bekanntheit des Hausmeiers Pippin?
Der karolingische Hof scheint sich noch lange nicht mit der Vorstellung einer alten, legitimen Familie beschäftigt zu haben. Weder Einhard noch die beiden Biographen Ludwigs des Frommen versuchen, Vorfahren vor Arnulf nennen zu können. Einhard nennt keinen vor Karl Martell. Um Genealogie ist er überhaupt nicht bemüht; noch weniger der Astronomus, der von Ludwig berichtet. Einzig Thegan hat genealogische Interessen und leitet Ludwig von Arnulf her, vor dem er niemanden kennt.
In Metz entstand eine Karolingergenealogie zur Zeit Karls des Großen, als deren Zielsetzung Otto Gerhard Oexle [47] erkannte, den Herrscher zur Beendigung der langen Sedisvakanz nach dem Tode Bischof Angilrams zu bewegen. Diese ,Commemoratio genealogiae domni Karoli gloriosissimi imperatoris‘ [48] gab Arnulf Vorfahren, deren früheste ein Senator Ansbert und seine Gemahlin Blithild, Tochter des Chlodwigsohnes Chlotar sind. Ob dies eine Metzer Tradition ist, die in dieser Genealogie in vorliegender Form sich niederschlug, aus der Paulus Diaconus in seiner Geschichte des Metzer Bistums einfach anders auswählte [49], darf hier offen bleiben. Darin mag sich niedergeschlagen haben, dass früh schon ein Ausgleich zwischen fränkischem und gallisch-senatorischem Adel stattgefunden hat. Die hier hergestellte Verwandtschaft der Karolinger zu den Merowingern verschaffte ersteren eine Legitimität, um die sie nicht gebeten hatten, da sie sich auf ganz anderes beriefen. Kurt Ulrich Jäschke hatte gezeigt, dass mit der Einweisung des letzten Merowingers in das Kloster Saint-Bertin durch Pippin allen Zeitgenossen klar gewesen sei, „dass ein Traditionsbruch vorlag und keine legitimistisch auszuwertende Beziehung zwischen dem alten und dem neuen Herrscherhaus bestand.“ Paulus Diaconus, der seine Geschichte der Metzer Bischöfe auf Bitten Angilrams verfasst und darin Arnulf als Ahnen Karls hervorgehoben hatte, verzichtete nicht grundlos auf eine Verbindung zu den Merowingern, wenn eine solche, so Jäschke, zu Metz damals behauptet wurde. Paulus nannte den Sohn des Arnulf, Ansegisel, Anschisus, ein Name, hinter dem er des Aeneas Vater hörte, der aus Troja stammte – eine gelehrte Verbeugung vor Karl, die der älteren fränkischen Trojatradition entnommen war. Karl mag dies huldvoll, aber kaum gläubig aufgenommen haben. All dies lässt daran zweifeln, ob die Benennung der Zwillingssöhne Karls als Ludwig und Lothar – Chlodwig und Chlothar – in der Wissenschaft zu Recht als Ansippung bezeichnet worden ist, was ja letztlich die Behauptung der Verwandtschaft umschlösse. Die Karolinger hatten dieses belanglos gewordene Geschlecht entthront und redeten, wie Einhard zeigt, respektlos von den untergegangenen Merowingern. Sind nicht die Namen der besonders bedeutenden, alliterierend und im Erstglied gleich, als eine Art des Sich-Bemächtigens gewählt worden? Wir wissen wenig darüber, was mit Namen erloschener Familien geschah, wie denen der Amaler und anderer früher Königsfamilien. Ist Ansippung wirklich die einzige Form, in der gedacht wurde? Die Wissenschaft hat vielleicht ein einseitig genealogisches Verständnis entwickelt. Nicht der ganze Namenschatz blieb interessant, aber doch wohl der Theoderichs, den Karl übrigens auch einmal vergeben hat. Hat er dabei wirklich an einen Merowinger ( Chlodwigsohn ) gedacht und nicht an Theoderich den Großen?
Die frühen Karolinger, zumal Karl, waren wohl zu stolz und sich ihrer Leistung bewusst, als dass sie sich Legitimität aus langer Genealogie hätten verschaffen wollen. Nicht Götterherkunft, Götternähe konnte ihren Erfolg erklären, diese Götter existierten nicht oder waren Dämonen; sie beanspruchten, dass der Segen des biblischen Gottes auf ihnen ruhe, dem sie deshalb sich ergeben zeigen mussten. Denn, dass die große herrscherliche Leistung, der bedeutende Erfolg nicht einfach Werk des begabtesten, des durchsetzungsfähigsten Menschen war, diese Überzeugung verband die einstigen Heiden mit den jetzigen Christen. Der kurze Stammbaum von Arnulf her genügte und dies nicht zuletzt, weil der Anfang bei einem Heiligen lag, dessen Heiligkeit eine Vita pries, als noch niemand an karolingische Könige und Kaiser dachte. Karl selber betonte nicht seine Herkunft, er verdankte sein Königtum letztlich nicht Menschen: Cum nos divina semper domi forisque clementia sive in bellorum eventibus sive pacis tranquillitate custodiat, etsi rependere quicquam eius beneficiis tenuitas humana non praevalet, tamen, quia est inaestimabilis misericordiae Deus noster, devotas suae servituti benigne adprobat voluntates – „Gottes Güte behütet uns immer im Frieden wie im Krieg, sei es in kriegerischen Ereignissen, sei es in der Ruhe des Friedens. Doch des Menschen Schwäche vermag Seine Wohltaten nicht zu vergelten. Dennoch: Weil unseres Gottes Güte unermesslich ist, nimmt er unseren hingebungsvollen Willen in seinem Dienst gnädig an.“ [50] Karl erklärte sein Königtum also nicht aus seiner Genealogie.
7. Von wem die Ottonen abstammen wollten
Die Karolinger des Ostfrankenreiches wurden nach dem Tode Ludwigs des Kindes 911 durch die Wahl des Frankenherzogs Konrad abgelöst, obwohl im Westen noch Karolinger lebten, die man, hätte Legitimität alles bedeutet, zur Übernahme des Königtums im Osten hätte auffordern müssen. Man hat versucht, die Erhebung Konrads aus seiner vermuteten Abstammung von den Karolingern zu erklären, doch scheitert dies daran, dass der Fortsetzer Reginos von Prüm klar erklärt, Konrad sei regali iam stirpe deficiente [51] erhoben worden: Man wählte Konrad als Nicht-Karolinger. Doch konnte er seine Familie nicht im Königtum halten. Nach einem berühmten Bericht Widukinds von Corvey [52] forderte er seinen Bruder Eberhard auf, für die Erhebung Heinrichs von Sachsen zu sorgen. In Konrads Aufforderung ist von Ahnen Heinrichs nicht die Rede. Nicht, weil er aus bedeutender Familie stammte, das taten andere auch; nicht weil die Liudolfinger mit den Karolingern versippt waren, das war so einzig auch nicht – worauf sich bald Arnulf von Brügge berief; sondern weil bei Heinrich fortuna atque mores waren, sollte dieser König werden. Unzufrieden mit der interpretatio germanica dieser Stelle ( Königsheil ) übersetze ich die Paarformel wieder als Paarformel: Gottes Segen und herrscherliche Leistung waren bei Heinrich [53]. Dies gewiss nicht aus dem Stand; einige Vorfahren nennt die ottonische Historiographie. Wir erfahren zuerst von Liudolf, dem ersten Klostergründer der Familie, und von dem Widukind weiß, dass er von einer Romwallfahrt Reliquien mitbrachte. Die Söhne Brun und Otto nennt er Herzöge und kennt auch deren Schwester, die mit einem Karolinger verheiratet war, mit Ludwig dem Jüngeren, den Widukind hier mit Ludwig dem Kind verwechselt. Widukind, der mit hoher Wahrscheinlichkeit der Familie Mathildes, der Gemahlin Heinrichs I., angehörte, widmete dieses Werk Mathilde, einer Tochter Ottos des Großen, Äbtissin von Quedlinburg. Und er verwandte auf die Herkunft Heinrichs nur wenige Zeilen, nannte vor diesem nur zwei Generationen, und ihm unterlief in der Elterngeneration zu Heinrich ein gravierender Fehler! Eine üppige Genealogie, vornehm, lang, aus der Tiefe der Geschichte das Recht auf Königsherrschaft ausweisend, war diese Genealogie nicht; nicht die geringste Mühe hatte sich Widukind gegeben, eine ausgreifendere Ahnentafel zusammenzutragen. Ahnenstolz? Widukind hatte als ersten den Klostergründer Liudolf, der Reliquien erworben hatte, genannt, aber die Gemahlin Oda nicht erwähnt, auch Hathumod, die Gandersheimer Äbtissin, Tochter Liudolfs, übergangen, obgleich doch eine zeitgenössische Heiligenvita von ihr berichtete.
Hrotsvith von Gandersheim ist in ihren ,Gesta Oddonis‘ [54] noch karger: Vor Heinrich I. nennt sie nur Herzog Otto, den Vater Heinrichs. In den ,primordia coenobii Gandersheimensis‘ [55] erzwang wohl die Geschichte des Klosters die Nennung der Vorfahren Ottos des Großen; Gründer ist Liudolf, aus vornehmster Familie, ohne dass ein weiterer Name fiele. Oda, die Gemahlin ist edita Francorum clara de stirpe potentum, filia Billungi, cuiusdam principis almi, atque bonae famae generosae scilicet Aedae. Hier erscheinen dann auch die liudolfingischen Gandersheimer Äbtissinnen Hathumod und Gerberga. Über Oda kommen wir eine Generation weiter zurück als über Liudolf. Heinrich I. und Otto I. brauchte auch ein verehrender Autor keine lange, bedeutende Ahnenreihe vorzutragen, selbst die wenigen Vorfahren, die Widukind nannte, hatte er nicht besonders gerühmt. Doch mit Liudolf und seinen Nachkommen ist der Aufstieg an die Spitze Sachsens, ja des Ostfrankenreiches, ebenso bewusst bezeichnet wie der energische Eintritt dieser Familie in eine christliche Welt. Otto selbst beruft sich einmal urkundlich auf Liudolf und Oda: Liutolfus proavus noster dux Saxonum quoddam monasterium in loco Ganderesheim noncupato construxit cum venerabile eius coniuge Ota, primordium igitur eiusdem constructionis affirmans cum filia velo consecrata, quae dei servitio ibidem mancipavit [ … ] [56]. Man hat große Mühe aufgewandt, genealogisch vor Liudolf in männlicher Linie zurückzukommen, aber die Namen, auf denen das allein aufgebaut worden ist, tragen so kühne Schlüsse über Jahrhunderte bis in eine thüringische Vorzeit der Liudolfinger nicht [57]. Zudem treffen solch ausgreifende Rekonstruktionen nicht das Bewusstsein der Liudolfinger des 10. Jahrhunderts. Sie rühmten sich eines bedeutenden Klostergründers aus jüngerer Zeit und zählten zu den Ihrigen einige heilige Frauen, darin den Karolingern mit ihrer Berufung auf einen heiligen Bischof vergleichbar. Nicht eine prunkvolle Genealogie hatte die Liudolfinger an die Spitze des Ostfrankenreiches geführt, sie suchten ihre Legitimität an anderer Stelle – warum nicht bei fortuna atque mores? Eine andere Frage ist es, ob die Liudolfinger oder die Karolinger nicht mehr über ihre Herkunft gewusst haben, als in ihnen nahestehenden Äußerungen hervorgehoben wird, ob nicht all diese Darstellungen der Herkunft von Arnulf oder Liudolf her eine klare Entscheidung widerspiegeln, ein bewusstes Sich-Berufen auf gerade diese Gestalten, ein bewusstes Ausschließen voraufgehender Generationen. Erst diese Gründerahnen vollzogen eine entschiedene Hinwendung zum Christentum, und Spätere nahmen an ihnen die Qualität eines Gründers wahr. Die Familie wollte von da an eine neue Gemeinschaft sein. Wenn Gerd Althoff in Gedenkbucheinträgen der Liudolfinger keine Eintragungen fand, die Vorfahren vor Liudolf mit umfassten, diese also auch von der Fürbitte ausschlossen, so könnte dieser Befund gerade dies verdeutlichen [58].
Über die Herkunft Heinrichs II. ( 1002–1024 ) wussten die Zeitgenossen wohl Bescheid; die Taten seines Vaters, Heinrichs des Zänkers, Herzog von Bayern, werden noch vielen in Erinnerung gewesen sein. Heinrich, Herzog von Bayern, der spätere Kaiser Heinrich II., empfing den Leichenzug Ottos III., der sein Vetter war, auf dem Hof Polling des Augsburger Bistums, um den verstorbenen Kaiser zu begleiten. Die intensiven Bemühungen Heinrichs, noch Herzog von Bayern, um die Nachfolge im Reich, schildert Thietmar von Merseburg in seiner Chronik ausführlich [59]. Bischof Adalbold von Utrecht ( 1010–1026 ) schrieb eine – unvollständige – Vita Heinrichs II. Adalbold war der Auffassung, Heinrich sei in solium hereditarium erhoben worden: Hereditarium dicimus, quia, ut ab his, qui genealogias computare noverant, audivimus, a Karolo Magno ex parte patris decimam septimam, ex partes matris decimam sextam lineam propagationis tenebat [60]. Hier interessiert nicht, ob die genealogischen Angaben stimmen. Adalbold bezog seine Kenntnis nicht vom Hof des Königs/Kaisers, nicht aus der Familie des Herrschers. Es gibt Personen, die Genealogien erstellen können, zu denen sie sich nicht rechnen. Auch die Herrscherfamilie erscheint nicht als der Hort solcher Kenntnisse; auch wird nicht behauptet, solche Herkunft sei Grund für die Wahl gewesen. Das Bewusstsein solch hoher Abkunft bestimmte offenbar ebenso wenig Heinrich selber wie seine Familie und seine Wähler. In einer Urkunde vom 15. Januar 1003 für die bischöfliche Kirche in Straßburg und das dortige Nonnenkloster St. Stephan betonte Heinrich die vetus inter nos ( gemeint ist Otto III. ) a pueris propagata familiaritas et ea que cum tali cesare nobis erat parentele et consanguinitatis affinitas, und er begründet seine Nachfolge im Reich mit der Wahl und als hereditaria in regnum [ … ] successio [61]. Thietmar zeigt auch, dass die Wahl sehr schwierig war und Heinrich auf aufwendigen Reisen viele Gegner überzeugen oder überwinden musste. Es fällt auf, dass der Gedanke des Erbes, der ja immer nahe Verwandtschaft voraussetzt, in Adalbolds Vita Heinrichs II. sich auf eine Generationenfolge von Karl dem Großen her bezieht, während Heinrich selber nur die Verwandtschaft zum Vorgänger, Otto III., nennt.
8. Die Salier ohne Gründerahn?
1024 gewinnt mit Konrad II. eine neue Familie die Königsherrschaft. Konrads Vater Heinrich war Graf im Speyergau, sein Großvater zeitweilig Herzog von Kärnten gewesen ( 978–983 ). Dessen Vater, Konrad der Rote, hatte das Herzogtum Lothringen innegehabt, das er wegen der Teilnahme am Aufstand Liudolfs gegen Otto den Großen verlor. Zu Otto zurückgekehrt, starb er 955 vor Augsburg gegen die Ungarn. Weiter zurück führt der Weg mit einiger Unsicherheit in den Umkreis großer oberrheinischer Familien. Konrads des Roten Gemahlin war Liudgard, Tochter Ottos des Großen; Konrad II. war also über diese Liudgard durch Herkunft von Otto dem Großen ausgezeichnet. Seine Gemahlin war zwar über ihren Vater, Herzog Hermann II. von Schwaben ( 997–1003 ), mit den Konradinern, über ihre Mutter Gerberga, Urenkelin König Heinrichs I., auch mit ihrem Gemahl weitläufig verwandt, doch stammte sie über diese auch von den burgundischen Königen ( Welfen ) ab wie auch von den westfränkischen Karolingern, von Ludwig IV., der mit Gerberga, einer Tochter Heinrichs I., verheiratet war; dies die prominenten Daten der Herkunft des Herrscherpaares [62].
Wipo, Kaplan Konrads II. und seines Sohnes, Heinrichs III., widmete letzterem eine Lebensbeschreibung Konrads. Im Zusammenhang der Wahl, Kandidaten waren die Vettern Konrad d. Ä und Konrad d. J., äußerte sich Wipo zur Vornehmheit [63]: ambo in Francia Theutonica nobilissimi. Er nennt die Väter, die Brüder waren: Für Konrad d. J. Heinrich, Graf im Speyergau, für Konrad d. Ä. Konrad, Herzog von Kärnten ( 1036–1039 ) mit Namen, sowie den Großvater Otto, den er dux Francorum nennt. Tatsächlich war er Herzog von Kärnten ( 978–983 ) gewesen, von 995 bis 1004 Graf im Worms- und Speyergau. Nun verfolgt Wipo nicht die Genealogie rückwärts. Zum Ausweis der Vornehmheit Konrads nennt er zwei Onkel: Bruno von Kärnten, Sohn Herzog Ottos, Enkel Ottos des Großen, und Bruno von Toul, von 996–999 Papst als Gregor V., dann aber Wilhelm, Bischof von Straßburg 1028–1046. Die Mutter des jüngeren Konrad war eine Schwester der Gemahlin Konrads d. Ä., des II. und somit von den burgundischen Königen – Wipo nennt Konrad von Burgund ( 937–993 ) – abstammend; er nennt weder die westfränkischen Karolinger noch Heinrich I. Die Mutter des älteren Konrad, Adelheid, stammt, so Wipo, ex nobilissima gente Liutharingorum. Er nennt ihre Brüder Gerhard und Adalbert, qui semper cum regibus et ducibus confligentes und selbst gegen ihren Verwandten, König Konrad, nicht Ruhe geben wollten – der Rang der Feinde ehrte auch. [ … ] quorum parentes, ut fertur, de antiquo genere Troianorum regum venerant, qui sub beato Remigio confessore iugo fidei colla supponebant. Dies meinte Chlodwig, die Merowinger also, und über diese sollte die Abstammung nach Troja führen. Die trojanische Herkunft der Merowinger war schon bei Fredegar begegnet, da konnte man Priamus reklamieren.
Solch gelehrte Konstruktion, die die frühen Merowinger kaum interessiert hatte, wird hier erstmals im Hinblick auf eine Wahl bemüht, und der Autor steht in großer Nähe zur Königsfamilie. Dennoch ist höchst unwahrscheinlich, dass Konrad II. oder später Heinrich III. an dieser gelehrt konstruierten Herkunft Interesse gehabt haben, oder gar, dass eine solche Herkunft dem 1024 bei Kamba zur Wahl versammelten Adel bewusst war und die Entscheidung mitbestimmte. Karl Schmid hat großen Wert auf die Worte Konrads d. Ä. vor der Wahlversammlung an seinen Vetter gelegt: Vota, studia, consensus, der Franken etc. ad nos conferebant – „haben sich auf uns vereinigt“, tamquam ad unius stirpis propaginem, veluti ad unam domum, sicut ad indissolubilem familiaritatem. Darin sah Schmid nicht nur eine Beschwörung zu künftiger friedlicher Einheit, die nicht eintrat, sondern die Vorstellung der Wahl eines Königshauses, nicht eines einzelnen Königs. So legt Konrad d. Ä. auch dar, dass die Königswürde auf sie beide zukommt, ut, si velimus, in altero nostrum remaneat – „so dass sie einem von uns bleiben wird“; dem anderen aber wird die participatio honoris nicht fehlen. Auch die weiteren Worte, die den unterliegenden Konkurrenten zu friedlicher Zusammenarbeit beschwören wollen, sind interessant: Sicut enim in regum parentes, quamvis cuncti reges non sint, honoris quedam derivatio transfunditur: Ein Teil des Glanzes fällt auch auf den, der für diese Würde vorgeschlagen war, ohne sie zu erlangen. Wen also sahen die Konrade und ihre Wähler als den Gründerahnen an? Alles, was Wipo aufführt, steht unter dem Begriff der Vornehmheit, die er in der Elterngeneration findet. Konrad der Rote wird nicht betont, die Ottonen werden nicht genannt, ebenso wenig die Karolinger. Troja und die Merowinger – das ist weit hergeholt, gelehrt und betrifft die Gemahlin. Wenn aber vom honor des zum König Erwählten auf die ganze stirps, auch auf die nicht königlichen parentes ein Teil des Glanzes sich ergießt, dann wird Konrad selbst zum Angelpunkt, er begründet das Königsgeschlecht nicht nur für die Zukunft, sondern erhebt auch die Vorfahren dahinein; nicht sie heben ihn, sondern er sie.
Andere Werke Wipos weichen von dem bisher Beobachteten kaum ab. Wenn im ‚Tetralogus‘ Heinrich III. über die Mutter Gisela zum Nachfahren Karls des Großen in 14. Generation wird, so ist letzterer kaum als Gründerahn benannt. Dies würde Konrad, den Vater, zur Seite drängen, der so vornehm nicht abzuleiten war [64]. Die ,Versus pro obitu Chuonradi imperatoris‘ bleiben undeutlicher: Regum sanguine genitus [ … ] [65]. In seinen Urkunden nennt Konrad Ottonen, Karolinger und burgundische Könige meist Vorgänger, nicht Vorfahren – praedecessores, antecessores. Doch gibt es Ausnahmen: 1032 schenkt er zu Quedlinburg dem Bistum Zeitz einen Hof und nennt Zeitz a venerabili progenitore nostro constructum, wo es auch heißt [ … ] in memoriam scilicet Ottonum trium et domini nostri Heinrici imperatoris hoc facientis et spem quietudinis eorum in hac re procul dubio considerantes [66]. 1028 hatte er einen Vergleich des Corveyer Abtes mit der matrona quaedam Alvered beurkundet. Der Abt hatte in diesem Verfahren ein Arnolfi divi progenitoris nostri inperiale decretum vorgelegt [67]. In einer Schenkung für die Wormser Kirche holte er weiter aus: Er schenkt per amorem dei et sempiternam memoriam nostri et dilecte nostre coniugis Gislele imperatricis ac filii nostri Heinrici regis, filie quoque nostre Beatricis, immo etiam pro remedio parentum nostrorum defunctorum atavi nostri ducis Chuonradi ( der Rote ), avie nostre scilicet Judithe ( Gemahlin Ottos von Kärnten, des Großvaters ), patris nostri beate memorie Heinrici, patrui nostri ducis Chuonradi ( Vater Konrads d. J. ) eiusque coniugis digne memorie Mathildis, sororis etiam nostre Judithe [68]. Dies mag umgreifen, was Konrad als seine nähere Verwandtschaft verstand, wobei es überrascht, dass der Großvater nicht eingeschlossen ist. Hier wäre Konrad der Rote der erste Vorfahr, den er nennt, der zudem im Wormser Bereich begütert war. Otto der Große bleibt hier ausgeschlossen, für dessen Seelenheil brauchte er offenbar nicht zu sorgen.
Vergleichen wir Konrads Wahlrede bei Wipo mit den Urkunden, so lag in der Rede der Ton nicht auf einem altvornehmen Stammbaum, es fehlte sogar ein Gründerahn; der erste König der Familie, wäre es nun dieser oder jener Konrad geworden, hätte die ganze Familie, auch die Vorfahren, zu neuem Glanz erhoben. Später, in den Urkunden, bahnt sich ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit an, dessen Namensnennungen zwar von der Zufälligkeit einer Vorurkunde ( Arnulf ), oder der Bezugnahme auf eine Bistumsgründung ( Otto für Zeitz-Naumburg ) abhängig waren, das aber jedenfalls vorige Herrscherfamilien mit umfasste, die Ankündigung einer Familie der Könige, die Karolinger, Ottonen und Salier umfasste; dazu mochte auch Wipos Rückgriff auf die Merowinger passen.
9. Die staufische Konzeption einer progenies imperialis
Von den Saliern führt ein direkter Wege zu den Staufern, die sich nach dem Tode des letzten Saliers, Heinrichs V., zunächst erfolglos um die Königsherrschaft bewarben. Als dann Konrad III. zum König erhoben wurde, hat er bis zu seiner endgültigen Anerkennung seine salische Herkunft in Urkunden mit Nachdruck betont, einem Erbschaftsanspruch gleichsam, der aus der Ehe seines Vaters, Friedrichs I. von Schwaben, mit Agnes, der Tochter Heinrichs IV., resultierte. Da er seit dem Bamberger Reichstag ( Mai 1138 ) die Mehrheit der Fürsten hinter sich wusste, verzichtete er künftig auf diese Betonung salischer Herkunft. So stieg im Bewusstsein der Zeit doch wohl die schwäbische Herzogsfamilie mit ihrem salischen Erbanspruch auf den Königsthron [69].
Die Stammtafel, die Wibald von Stablo für die Scheidung Friedrich Barbarossas von Adela von Vohburg aufstellte, sollte zu nahe Verwandtschaft ausweisen, ist also kein Dokument staufischen Selbstbewusstseins als einer Herrscherfamilie [70]. Wibald kennt vor Barbarossa vier Generationen, fünf vor Adela. Das gemeinsame Elternpaar jenes Friedrichs und der Berta ist nicht mit Namen genannt. Alle männlichen Vorfahren Friedrichs tragen seinen Namen. In jenem ersten Friedrich vermutet Ernst Klebel einen ca. 950/975 geborenen Herren, dessen Sohn, Friedrich von Büren, die schwäbische Pfalzgrafenwürde innehatte [71]. Da Wibald dem Zweck gemäß nur die direkte Linie notiert, hat es Bedeutung, wenn er einzig bei Friedrich I. von Schwaben davon abweicht: Mit König Heinrichs Tochter habe er Herzog Friedrich ( II. ) gezeugt: dux Fridericus de Stophe ex filia regis Heinrici genuit ducem Fridericum. Das macht die Friedriche noch nicht zu Saliern, verdeutlicht aber die hohe Bedeutung dieser Verwandtschaft. Weiter geht Otto von Freising, Barbarossas babenbergischer Onkel, in seinen ,Gesta Friderici‘. Den Welfen von Altdorf stellt er die Heinriche von Waiblingen gegenüber, die Kaiser hervorzubringen gewohnt waren [72]. Als Otto dies schrieb, war Barbarossa als erster Staufer soeben Kaiser geworden, und der einzige staufische Heinrich war ein Sohn Konrads III., 1147 als Kind zum König erhoben und schon 1150 gestorben, während der Name Heinrich bei den Welfen seit Heinrich dem Schwarzen durch die Generationen weiterlief. Im Folgenden führt Otto, um die Wahl Friedrich Barbarossas zu begründen, dessen Verwandtschaft mit den Welfen über die Welfin Judith, Gemahlin Herzog Friedrichs II., des Vaters Barbarossas aus, wodurch Barbarossa beiden Familien angehört. ‚Heinriche‘ – dieser Name war zum Begriff geworden –, meinte nicht Salier, nicht Staufer, sondern übergreifend das Königsgeschlecht schlechthin.
Die Staufer hatten bis zu diesem Zeitpunkt die Kenntnis ihrer Herkunft über ca. zwei Jahrhunderte bewahrt und maßen der Eheschließung zwischen Herzog Friedrich I. und Agnes hohe Bedeutung zu. Sie beanspruchten das salische Erbe und Königtum, als Heinrich V. söhnelos starb. Im Gedanken der regum familia ist im Ansatz der Rahmen männlicher Sukzession einer auf ein Herrschaftszentrum bezogenen Familie trotz der Nennung Waiblingens verlassen; die eigene Herkunft kann dem Zusammenhang der Kaiser und Könige untergeordnet werden. Barbarossa hat schon in den 1150er Jahren seine kaiserlichen und königlichen Vorgänger, gelegentlich ohne Namensnennung, als progenitores et antecessores bezeichnet – Kaiser und Könige als eine progenies [73]. Friedrich kannte den Begriff einer domus imperialis [74], nannte den kinderlosen Heinrich V. dilectissimus proavus noster [75] und Heinrich II., ebenfalls kinderlos, progenitor noster, ja felix parens noster [76]. Damit ist der biologische Zusammenhang im Sinne einer Generationenfolge für die progenies imperialis oder die regia stirps aus dem Zentrum gerückt.
Gelehrte Arbeit, nicht kontinuierliche Familientradition ließ dann die Herkunft von Karolingern, ja Merowingern in den Vordergrund treten. 1157 übersandte Otto von Freising, Barbarossas gelehrter Onkel, dem Kaiser seine 1146 vollendete Chronik. Otto wusste aus Wipos ,Gesta Chuonradi‘, dass Konrad II. von Konrad dem Roten, den er Wormatiensium dux nennt, abstammte, über seine Mutter a probatissimorum Galliarum principum, qui ex antiqua Troianorum stirpe descenderant et a beato Remigio baptizati fuerant, originem trahens, während seine Gemahlin Gisela de antiquo et glorioso Karolorum sanguine oriundam habuit [77]; eine genaue Genealogie konstruierte er nicht.
Als gegen 1230 Propst Burchard von Ursberg ( 1215–1231 ) sein ,Chronicon‘ schrieb, ging er auch auf die Staufer als Herrscherfamilie ein und berief sich auf die ,Chronik‘ Ottos von Freising. Zu den von Remigius getauften Abkömmlingen der Trojaner sagt er, dass sie häufig den Namen Clodio oder Clodoveus führten. Dass dies durch die staufisch-waiblingische Herkunft sei, belegt ihm der titulus monumenti iuxta prefatam villam inmodum turris miro opere de quadris et sculptis lapidibus constructus, quod vulgus Baienstain denominat, in quo sculptum litteris reperitur, quod Clodius hoc fecerit uxori sue. Archäologie bewies die genealogische Fiktion. Die karolingische Herkunft der Gisela notierte Burchard zwar auch, konnte sie aber so imposant nicht belegen. Doch war ihm wichtig zu notieren, dass im Sohne Konrads und der Gisela, in Heinrich III. post multa curricula annorum rediit imperium ad illustrem et gloriosam propaginem Karoli Magni [78]. Später behauptet Burchard, Friedrich Barbarossa habe sich gerühmt – gloriabatur se de regia stirpe Waiblingorum progenitum fuisse, die von den Chlodwigen und den Karlen abstamme [79].
Hier ging es darum zu zeigen, dass diese gewaltigen genealogischen Konstruktionen nicht die Gedankenwelt der frühen Staufer repräsentieren. Urkunden Barbarossas zeigen aber, dass sich dieser Herrscher schon in den 1150er Jahren voraufgehende Könige und Kaiser als Vorfahren in direkter Linie zuordnete, darunter nicht nur einen kinderlos gestorbenen Salier, sondern auch einen ebenfalls kinderlos gestorbenen Nachkommen Heinrichs I. Da die Familie der Könige alle Herrscherfamilien seit den Merowingern umgriff, fielen nur die Herrscher heraus, die ihrer Familie nicht zur Königsherrschaft haben verhelfen können: Konrad I. und Lothar III., und letzterer sollte dies gewiss auch, war er doch 1125 gegen Herzog Friedrich von Schwaben zum König gewählt worden.
10. Vom späten welfischen Interesse an den Ursprüngen der Familie
Zum Abschluss soll auf die Welfen des 12. Jahrhunderts, insbesondere auf Heinrich den Löwen eingegangen werden. Schmid und Oexle haben gezeigt, dass Heinrich der Schwarze, wohl durch die Erhebung der Gebeine Konrads von Konstanz ( 934–975 ) im Jahre 1123 veranlasst, die Geschichte seiner Vorfahren erforschen und aufschreiben ließ. Noch vor seinem Tode im Dezember 1126 muss die erste Redaktion dieses Werkes vorgelegen haben. Von diesem verlorenen Werk nehmen alle späteren Bearbeitungen ihren Ausgang: die bald danach verfasste ,Genealogia Welforum‘ [80], die ,Sächsische Welfenquelle‘, ein Text, den der Annalista Saxo [81] zu 1126 in sein Werk inserierte, der der Rezension C der ,Sächsischen Weltchronik‘ als Anhang IV in niederdeutscher Sprache beigegeben ist [82], den Oexle [83] als sächsisch ausweisen konnte. Er ist wohl im Lüneburger Michaelskloster entstanden. Heinrich der Schwarze, Gemahl der Billungerin Wulfhild, hat 1134 für das Michaelskloster, das Hauskloster der Billunger, interveniert. Schließlich ist die ,Historia Welforum‘ zu nennen, deren Entstehung Becher auf die Jahre 1167 bis 1174 eingrenzt. Er sieht den Verfasser dem Haus der Welfen, vielleicht als Weltgeistlicher, zugehörig. Er arbeitet die Rolle, die Heinrich der Löwe gerade auch in den süddeutschen welfischen Landen gespielt hat, deutlich heraus [84]. Doch hat Heinrich der Löwe dies ebenso gesehen wie der Verfasser der ,Historia‘? Das eine ist die Frage, über welche genealogischen Kenntnisse Heinrich verfügte, vermutlich über sehr ausgreifende. Und er wusste diese zu nutzen, wo er sich davon Vorteile versprach, wo er Ansprüche erheben konnte. Etwas anderes aber ist die Frage, wie er seinen Rang definierte; und letzteres ist dem Evangeliar, dem Reliquiendeckel im Marienaltar und dem Löwendenkmal zu entnehmen.
Alle diese Texte spiegeln ein starkes genealogisches Interesse Heinrichs des Schwarzen, Heinrichs des Stolzen und Welfs VI. wider und sind sehr um die Klärung der Ursprünge bemüht. Für die ,Sächsische Welfenquelle‘ ist von Bedeutung, dass die erhaltenen Textüberlieferungen – ,Annalista Saxo‘ und der Anhang IV der C-Fassung der ,Sächsischen Weltchronik‘ – privater Initiative zu verdanken sind. Es gibt keine Überlieferung, die etwa Heinrich der Löwe in Auftrag gegeben hätte, so als habe er daran kein Interesse gehabt [85]. Oexle hat zeigen können, dass die ,Sächsische Welfenquelle‘ zum ältesten Bestand dieser welfischen Überlieferung gehört. Dort wird uns mitgeteilt: Heinrich der Schwarze habe a longevis – van alden tiden van deme ersten Ethiken gehört. Dieser Eticho ist der erste Welfe, den man damals namhaft machen konnte: Ein Herr voller Adelsstolz und Freiheitsdrang, nie unter einen Kaiser gebeugt. Dazu wollte er auch seinen Sohn verpflichten, der jedoch dem Rat seiner Schwester folgte, deren Gemahl ein karolingischer Kaiser war; man wusste seinen Namen nicht. Dieses Kaisers Lehnsmann wurde Heinrich für ein Lehen, so groß, wie er es während der Mittagsruhe des Kaisers umpflügen konnte. Listig umritt nun Heinrich ein großes Areal mit einem kleinen goldenen Pflug – daher sein Beiname – in der Tasche. Der Kaiser sah sich übertölpelt, stand aber zu seinem Wort. Eticho war so erbost, dass er sich mit zwölf Gefährten – zwölf Mönchen sagt die ,Genealogia‘ – ins Gebirge zurückzog und jede Beziehung zu seinem Sohne abbrach. Heinrich der Schwarze ließ nun nach den Gebeinen Etichos und der Seinen graben – die archäologische Überprüfung der alten Erzählung!
Erst gegen Ende seines Lebens erwachte bei Heinrich dem Schwarzen das Interesse für Geschichte und Herkunft seiner Familie. Seine Mutter, Judith von Flandern ( † 1094 ), trug den Namen jener Welfin, die Gemahlin Ludwigs des Frommen gewesen war; karolingische Abkunft über Judith von Flandern hätte wohl bekannt sein können. Der alte Heinrich hörte von Eticho: Diese Erzählung wurde also nicht im Kreise der Familie den Nachkommen erzählt. Die Unkenntnis war so groß, dass man die frühe Welfengeschichte zeitlich nicht richtig einordnen konnte. Dies vermochte erst später gelehrte Arbeit. Der Autor der ,Historia‘ ermittelte aus Geschichtswerken und Urkunden, wie er selbst mitteilt, einen Welf der Zeit Karls des Großen, von dem man bislang nichts gewusst hatte. Er stieß auf trojanischen Ursprung: Den Staufern stand man nicht mehr nach. Gelehrte Spekulation führte nun den Welfennamen auf einen römischen Senator Catilina ( catulus = Welpe ) zurück, oder berichtete parallel dazu, ein Kaiser – kein Name, keine Zeit – habe einem Vorfahren der Welfen, der, da ihm ein Sohn geboren, den Hof verlassen wollte, spöttisch zugerufen: „Wegen eines Welpen, der dir geboren, eilst du nach Haus?“ Der Vater habe das Kind dann Welp ( Welf ) genannt; so die ,Genealogia‘, dann die ,Historia‘. In der Sächsischen Quelle fehlt diese Erzählung. Die Texte zeigen, dass dies nicht zum ursprünglichen Bestand welfischer Familienüberlieferung gehört haben kann, da doch erst gelehrte Arbeit solches aus den Quellen ermittelte. Weit zurückreichende Familiengeschichte war nicht die Sorge der Familie gewesen, somit auch nicht Inhalt ihres Geschlechterbewusstseins. Die ,Genealogia‘, darin noch der verlorenen Erstfassung folgend, nannte die Schwester Heinrichs mit dem goldenen Pflug Hiltigard und machte sie zur Gemahlin Ludwigs des Stammlers. 1134 wusste man es in Lüneburg besser: Judith und Ludwig der Fromme. Gelehrte Arbeit, nicht Familienüberlieferung hatte diese Korrektur bewirkt. Mit Heinrich dem Schwarzen setzte ein ganz neues Geschichtsbewusstsein unter den Welfen ein, das auf die Begründung der Familie gerichtet war.
11. Das besondere Beispiel Heinrichs des Löwen
So problematisch ein argumentum e silentio ist, zumal in einer Zeit, deren Quellen noch nicht reichlich fließen, deren Quellenbestand auch durch Verluste dezimiert ist: Es fällt auf, dass eine braunschweigische Überlieferung dieser welfischen Quellengruppe nicht erhalten ist, obwohl man das Löwendenkmal als ein Familiendenkmal hat deuten wollen. Wie hat sich der Löwe zu dieser Überlieferung verhalten? Wie stand er zur Welfenfamilie [86]?
Es gibt verschiedene Quellen, die zu den genealogischen Kenntnissen des Löwen etwas aussagen, daneben aber auch Quellen, die zeigen, welche Vorfahren so wichtig waren, dass er sich als Herrscher auf diese berief; denn das ist nicht dasselbe. Heinrich der Löwe hat nach dem Aussterben der Plötzkauer ( 1147 ) und der Winzenburger Grafen ( 1152 ) deren am Harz gelegene Grafschaften gegen Albrecht den Bären nach Erbrecht beansprucht. Worauf später seine Ansprüche auf die Erbschaft der Stader Grafen ( Rudolf II. von Stade † 1144 ) beruhten, ist umstritten. Helmhold von Bosau begründet sie mit Erb- und Lehnrecht, doch die Wissenschaft ist ihm darin nicht gefolgt [87]. Solche Erbschaftansprüche setzen erhebliche genealogische Kenntnisse voraus. In diesen Fällen führen die Kenntnisse in die sächsische Verwandtschaft Heinrichs, die er über seine Mutter Gertrud, die Tochter Kaiser Lothars III. ( v. Supplinburg ) hatte, und über seine Großmutter Wulfhild, der die Hälfte des Billungererbes zugefallen war. Diese Kenntnisse bezeugen nicht welfisches Selbstbewusstsein, sie dienen hier erbrechtlichen Ansprüchen, die nun einmal ohne genealogische Kenntnisse nicht verfolgt werden können. Aber es gibt Quellen, in denen Heinrich selbst deutlich ausspricht, auf welche Vorfahren er sich berufen wollte. 1147 urkundete der Herzog für Corvey [88]. Dort steht außerhalb der Formulargepflogenheiten nicht nur ein Wort über humilem peticionem domini nostri regis, sondern begründend heißt es auch, quod predictus venerabilis abbas nobisque carissimus Wiboldus gloriosissimo avo nostro imperatori Lothario lange, viel und treu gedient habe, ihm in Reichsdiensten usque ad mortem adhesit, und dies habe er, Heinrich sicut possessionum heredes eidem imperatori successimus, zu vergelten. Dies ist eine unerwartete Berufung auf Lothar als verpflichtenden Vorfahren, die aus der Welfenlinie herausführt, bedingt durch den Willen des Herzogs, nicht durch Kanzleiusus. In einer vor 1154 begebenen Urkunde für das Kloster Katlenburg [89] nennt er die Katlenburger Grafen als Stifter des Klosters: Catlenburgensis ecclesia a progenitoribus meis fundata. Die Urkunde betont in ungewöhnlichem Maße die Verpflichtungen, die solcher Verwandtschaft entspringen. Diese consanguinitas führt wieder heraus aus der welfischen Linie, denn diese Verwandtschaft geht über seine Mutter, die Tochter Kaiser Lothars, über dessen Gemahlin Richenza, Tochter Ottos von Northeim, und deren Mutter Gertrud von Braunschweig ( † 1117 ), die erste Gemahlin Dietrichs von Katlenburg. Wieder führt dies aus der welfischen Linie fort in die sächsische Verwandtschaft, und Lothar III. ist die Gestalt, die im Zentrum steht, nicht ungenannt, denn grundsätzlich vom Urkundenformular abweichend nennt sich Heinrich in der intitulatio: Heinricus dei gratia dux Bawarie et Saxonie, filius Heinrici ducis Bawarie et Saxonie et contectalis eius Gertrudis filie Lotharii imperatoris et Richence imperatricis. Hierfür ist nicht leicht ein Pendant zu finden: In der intitulatio nennt er Vater und Mutter, Großvater und Großmutter mütterlicherseits. Sieht Heinrich sich überhaupt als Welfen? Heinrich der Schwarze bleibt unerwähnt! Seine Herrschaft, das Herzogtum Sachsen, verdankte er ja auch nicht den Welfen, sondern Lothar, der in seinen letzten Tagen seinen Schwiegersohn Heinrich den Stolzen zum Erben im Herzogtum erhoben hatte. Diese Nennung enthält nicht nur eine deutliche Berufung auf Lothar und Richenza, sondern ebenso die Wahl Sachsens als Zentrum seiner Herrschaft; Bayern ist da durchaus das Zweitland geworden [90].
1144 hatte er in einer Urkunde für das Kloster Bursfelde [91] Heinrich, den Sohn Ottos von Northeim, proavus noster genannt, der für sein und der Seinen Seelenheil dieses Kloster gestiftet hatte. Ego Heinricus sah sich als legitimus ac iustissimus heres in der Pflicht der Fürsorge. Wieder führt dies aus der welfischen Linie im Zusammenhang mit Sachsen und den sächsischen Erbschaften heraus auf die Betonung eines Vorfahren und einer aus der Verwandtschaft herrührenden Verpflichtung, wie sie in staufischen Urkunden nicht leicht zu finden ist.
Zudem wird dies in den späten Jahren trefflich bestätigt durch die Inschrift des Deckels für das Reliquiengefäß im Marienaltar der Stiftskirche der Braunschweiger Pfalz Heinrichs des Löwen, Dankwarderode, die auf dem Gelände eines brunonischen Sitzes errichtet wurde. Dieser Altar ist 1188 geweiht worden. Auf dem Deckel steht: Anno domini M˚C˚LXXX˚VIII˚ dedicatum est hoc altare in honore beate Dei Genetricis Marie ab Adelogo venerabili episcopo Hildelsemensi, fundante ac promovente illustri duce Henrico, filio filie Lotharii inperatoris et religiosissima eius consorge Mathildi filia Henrici secundi regis Anglorum filii Mathildis imperatricis Romanorum [92]. Hier konnte Heinrich – und wäre es aus Platzmangel – selbst seinen Vater überspringen, um Kaiser Lothar als Vorfahren nennen zu können. Auch bei seiner Gemahlin war es ihm wichtig, deren Mutter zu nennen, die römische Kaiserin nicht durch ihren zweiten Gemahl, den hier genannten König Heinrich II. von England, sondern durch ihren ersten Gatten, Kaiser Heinrich V. Königlich oder kaiserlich sah sich dieses Paar, ohne eine Königskrone zu tragen.
12. Die Herkunft Heinrichs des Löwen, das Evangeliar und der Braunschweiger Burglöwe
Dies ist auch ersichtlich aus der berühmten Krönungsminiatur in dem Evangeliar, das in Helmarshausen im Auftrage des Herzogs für seine Braunschweiger Stiftskirche gefertigt worden ist, doch wohl um 1188, acht Jahre nach seiner Entmachtung, zur Weihe des Altars übergeben zu werden. Das Widmungsgedicht nennt Heinrich nepos Karoli, eine Vorfahrenschaft, die gleich zweifach nachweisbar ist. Ob diese zu betonen Heinrichs Absicht war, erscheint angesichts des Quellenbefundes mehr als zweifelhaft. Als rühmendes Wort aus Helmarshausen ist dies gut verständlich, gleich, ob aus gesichertem genealogischem Wissen, oder als ehrende Zuordnung zu dem mittelalterlichen Herrscher schlechthin, den Barbarossa hatte heiligsprechen lassen. Hingegen enthält die Krönungsminiatur in der unteren Hälfte hinter dem zur Krönung niederknienden Paar jeweils direkte Vorfahren: Hinter Heinrich stehen Heinrich der Stolze und Gertrud, die Eltern. Dann folgen nicht welfische Vorfahren, sondern Kaiser Lothar und Richenza. Hinter Mathilde stehen deren Eltern: Heinrich II. von England und Mathilde, hier als Königin bezeichnet. Die dahinter stehende weibliche Gestalt ist, da ohne Beischrift, nicht identifiziert. Die Übereinstimmung mit den bisher zitierten Texten aus des Löwen Umgebung könnte nicht glücklicher sein [93].
Nur beiläufig sei auf das politische Missverständnis dieser Miniatur eingegangen, die als Demonstration eines Königsanspruches nicht infrage kommt. Beischriften und Bildprogramm sprechen von der Krone der Gerechtigkeit; dazu gehört, dass die Dargestellten ihr Kreuz tragen. Das damit versprochene Leben im Angesicht Gottes wird in dieser Handschrift auf eigentümliche, ja einzigartige Weise dargestellt [94]. Tief im Text verborgen, am Anfang des Johannesevangeliums, ist diese Krönung auf fol. 171v versteckt, auf 172r folgt die Majestas Domini. Legt man das Buch zusammen, so küsst das Herzogspaar die Füße der Majestas. Nur in geschlossenem Zustand ist dieses Versprechen eines Lebens bei Gott eingelöst; der irdische Betrachter soll nicht Zeuge dieses himmlischen Ereignisses sein. Für wessen Augen das Evangeliar bestimmt war, zeigt schon das Widmungsbild ( fol. 19r ): Der hl. Blasius ergreift die Hand Heinrichs und empfiehlt diesen mit weisender Geste Maria und Christus. Der Herzog aber reicht mit der anderen Hand das Evangeliar Maria und Christus entgegen; für deren Augen ist das Werk zuallererst bestimmt. Damit erhebt sich die grundsätzlichere Frage, ob solche kostbaren Codices zu politischer Propaganda überhaupt geeignet waren. Wer Propaganda macht, benötigt Zuhörer/Zuschauer und wird seinen Anspruch nicht geradezu dilettantisch am Ende des Codex verstecken. Diese Codices befinden sich oft in einem derart vorzüglichen Zustand, dass man sich fragen muss, wer vor den modernen Kunsthistorikern überhaupt in diesen Büchern geblättert hat. Selbst wenn an hohen Festtagen solche liturgischen Codices tatsächlich einmal am Altar benutzt worden sein sollten, waren sie doch kostbare Schätze, die aufzuschlagen für Farben und Goldauflagen höchst gefährlich war. Haben die Maler jener Codices je die Arbeiten der Vorgänger gesehen?
Schließlich das Braunschweiger Löwenmonument: Man hat in ihm den Bezug zur Welfenfamilie sehen wollen. Die Kontroverse kann hier nicht ausgebreitet werden, doch alles, was Heinrich über Vorfahren verpflichtend sagt, lässt diese Deutung nicht zu [95]. Man sollte von einem agnatischen Welfenbewusstsein des Löwen nicht reden, u. a. auch, weil der Name Welf unter den Nachfahren des Löwen, soweit ich sehe, nie wieder auftaucht. Ein zeitgenössischer Text, Arnold von Lübeck [96], bezeugt, dass man im Löwen auf dem Stein immer den Löwenherzog gesehen hat – und ein Familiendenkmal ist ja auch sonst unbekannt. So sollte man Leo auch nicht aus Welf ableiten wollen. Welp ist ein Säugetierjunges und könnte deshalb genauso gut auf den Löwen, wie auf den Bären, den konkurrierenden Nachbarn führen [97]. Die catulus-Geschichte der Welfenüberlieferung, vermutlich nicht ein Reflex einstiger königlicher Ungnade, wie Schmid wollte, sondern der Spott über den für einen Herrscher eigentlich unbrauchbaren Namen, der in einer Zeit, in der Wappen eine Rolle zu spielen beginnen, besonders anstößig sein mochte, führt schwerlich zum Löwen als herrscherlichem Tier, das Heinrich auf Siegeln und Münzen verwendete. Johannes Fried beobachtete, dass Heinrich der Stolze und Welf VI. Löwen auf Münzen abbildeten, Welf auch auf Siegeln – niemand redete von Welf dem Löwen. Auch verwies er auf den Paderborner Annalisten, der zu 1126 „den kampfgewaltigen König Lothar III. mit einem leo efferatus verglich“ und zu 1138 Heinrich den Stolzen als similis factus leoni in operibus suis bezeichnete [98]. So bleibt der Braunschweiger Löwe, als Gusswerk neu und einzigartig, die Selbstdarstellung dieses Herzogs als Herrscher und Richter, nicht mit Ahnenbezug behaftet, das Denkmal eines Herrschers, der sich als Gründer [99] eines Herzogtums und seiner Herrscherfamilie betrachtete, nicht als der soundsovielte in der Folge der Welfen.
13. Rückblick
Das hier Zusammengetragene soll nicht bestreiten, was über Struktur und Bewusstsein mittelalterlichen Adels generell geäußert worden ist. Zuallererst sollte hier unterschieden werden zwischen der uns durch Forschermühe zugänglichen Genealogie, den genealogischen Kenntnissen der Damaligen und den Vorfahren, auf die sie sich berufen wollten. Überraschend ist zunächst einmal die Kürze der Vorfahrenkette, die für Chlodwig, Pippin d. J. und Karl den Großen, Heinrich und Otto I. damals vorgewiesen wurde. Undeutlicher ist die Vorfahrenlinie, auf die Konrad II. sich berufen haben mag; ein wirklicher Gründerahn, wie Arnulf von Metz oder Liudolf wird bei Wipo oder urkundlich aber nicht bezeugt, wenn es auch sehr summarische Nennungen der Karolinger oder Merowinger gibt. Dieser Gründerahn ist auch für die Staufer nicht auszumachen, so sehr sie die Ehe Friedrichs I. von Schwaben mit Agnes als ein Eckdatum ihrer Geschichte betrachteten, war dieses doch auch mit der Erhebung in das Herzogtum verbunden. Die Vorstellung von der Familie der Könige, undeutlich vielleicht schon bei Konrad II. angelegt, wird unter Barbarossa zu einer umfassenden Vorstellung ausgearbeitet, die die zur Königsherrschaft aufgestiegenen Familien nun auch hoch über den Adel hinaushob. Man möchte fragen, ob hier nicht auch eine Unanfechtbarkeit begründet werden sollte, mit der man auf die Entweihung, die Profanierung des Königtums im Investiturstreit antwortete. Überraschend war freilich auch die offenkundige Gleichgültigkeit, die die Welfen vor Heinrich dem Schwarzen ihrem Stammbaum entgegengebracht haben. Der lange Stammbaum wurde von Gelehrten im 12. Jahrhundert für Heinrich den Stolzen und Welf VI. erarbeitet. Die Orientierung des Löwen führte nach den Zeugnissen, die sicher mit ihm in Verbindung gebracht werden können, aus der Welfenlinie heraus, betonte die sächsische Herkunft, suchte aber auch hier nicht betonte Länge als Legitimation und Vornehmheit, sondern reichte vor Otto von Northeim nicht zurück. Der besondere Nachdruck aber galt Kaiser Lothar von Supplinburg, den Barbarossas Familie der Könige aussparte, so dass er dort zwischen Saliern und Staufern als Usurpator erscheinen musste. Heinrichs Stolz ist nicht ein großartiger Stammbaum, sondern eine Gründerleistung in Braunschweig und Sachsen gewesen, wenn er darin auch gescheitert ist. Eine Götterherkunft wie Chlodwigs Vorfahren oder Hengist konnte zu dieser Zeit niemand mehr behaupten. Auch Heilige, auf die sich Karolinger und Ottonen berufen konnten, standen Heinrich nicht mehr zur Verfügung. Womöglich zeigt sich auch hier die Not, in die Herrscher durch den Investiturstreit geraten waren.
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