Die sogenannten Kapitularien und ihre Archivierung in der Karolingerzeit *
-
Takuro Tsuda
1. Einleitung
1.1 Das Ziel dieses Aufsatzes
[*]Das Verständnis der Historiker über die sogenannten ‚Kapitularien‘ [1], die traditionellerweise als ‚Erlasse der Herrscher‘ betrachtet wurden, verändert sich neuerdings schlagartig. So haben mehrere Historiker die Vielfältigkeit der ‚Kapitularien‘ betont [2], und Steffen Patzold hat 2007 etwas zugespitzt formuliert: „Karl, Ludwig und die fränkischen Großen wussten nicht, dass sie Kapitularien im Sinne des mediävistischen Fachbegriffs herstellten.“ [3] Er plädiert dafür, die Textkategorie ‚Kapitularien‘ als modernes wissenschaftliches Konstrukt zu begreifen. Obwohl diese Ansicht allmählich Beachtung findet, ist die Meinung, die explizit die Existenz einer Textkategorie ‚Kapitularien‘ in der Karolingerzeit in Frage stellt, noch nicht die vorherrschende [4]. Patzolds Aussage ist jedoch sehr bemerkenswert und stellt einen wichtigen Ansatz meiner bisherigen Arbeiten dar [5].
Die hier zugrundeliegenden ( Hypo )Thesen über die ‚Kapitularien‘ lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1 ) Unter Karl dem Großen gab es nicht die Vorstellung, die bisher von Wissenschaftlern als ‚Kapitularien‘ betrachteten Texte als eigene Textkategorie zu begreifen. 2 ) Zeitgenössische Sammler, die nicht in der Lage waren, die Entstehungssituation der jeweiligen capitula und deren ursprüngliche Funktionen zu erkennen, haben wohl nach ihren eigenen Maßstäben ‚Kapitularien‘ ( = verschiedenartige, kapitelweise geschriebene Texte ) gesammelt. 3 ) Karl der Kahle und sein Umkreis haben alle Texte, die in der Sammlung des Ansegis vorhanden waren, als von seinen Vorgängern durch einen einheitlichen Prozess erlassene Gesetze betrachtet und nach diesem ( vermeintlichen ) Vorbild ihre eigenen ‚Kapitularien‘ erstellt.
An dieser Stelle soll auf einen weiteren wichtigen Punkt aufmerksam gemacht werden: die zeitgenössische Terminologie entspricht nicht der modernen Kategorie ‚Kapitularien‘ ( als Analyseinstrument für Wissenschaftler ) [6]. Der in der modernen Fachliteratur verwendete Terminus ‚Kapitularien‘ ( Sing. Kapitular; im Englischen capitulary; im Französischen capitulaire ) stammt aus dem lateinischen Wort capitulare ( Pl. capitularia ), aber nicht alle Texte in den MGH-Bänden der ‚Kapitularien‘ wurden im Frühmittelalter als capitulare/capitularia bezeichnet. Für sie wurden viele andere Bezeichnungen benutzt, z. B. capitula, constitutio, decretum, praeceptum und edictum. Darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, dass das Wort capitulare umgekehrt auch Texte bezeichnen konnte, die von modernen Historikern nicht als ‚Kapitularien‘ betrachtet werden und dass das meist verwendete Wort capitula im Frühmittelalter keine spezifische Textkategorie, sondern ganz allgemein ‚kapitelweise geschriebene Text( e )‘ bedeutet. Auch wenn ein Text in zeitgenössischen Quellen als capitulare oder capitula bezeichnet wird, bedeutet das also nicht automatisch, dass dieser zur Textkategorie ‚Kapitularien‘ gehört.
In diesem Zusammenhang soll noch auf einen wichtigen, aber bislang nicht immer hinreichend berücksichtigten Punkt für die ‚Kapitularienforschung‘ hingewiesen werden: nämlich die Veränderung der zeitgenössischen Wahrnehmung der Textkategorien und der Schriftlichkeit im Laufe der Karolingerzeit. Die Epoche Karls des Großen und Ludwigs des Frommen gilt traditionellerweise als ‚die eigentliche Ära der Kapitularien‘. Viele Forscher sind noch immer der Meinung, dass seit dem Beginn des Bruderkriegs im Jahre 830 ‚die große Zeit der Kapitularien‘ vorbei gewesen sei und nur im Westfrankenreich diese Tradition Karls des Großen gewahrt blieb, im Ostfrankenreich hingegen keine ‚Kapitularien‘ mehr erlassen wurden [7]. Hinter diesem Verständnis steht die Annahme, dass die ‚Kapitularien‘ Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen einerseits und die Karls des Kahlen andererseits im Wesentlichen zu einer gleichartigen Textkategorie gehören. Darüber hinaus hat sich die ‚Kapitularienforschung‘ meist auf die angeblich eigentliche Ära, nämlich die Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, konzentriert, und man hat in den westfränkischen ‚Kapitularien‘ nur eine Fortsetzung der Praxis Karls des Großen gesehen [8].
Unter Berücksichtigung dieser Prämissen versucht die vorliegende Arbeit, die bisherigen Kenntnisse über die Archivierung der ‚Kapitularien‘ unter Karl dem Großen, Ludwig dem Frommen und Karl dem Kahlen zu überprüfen, um einen neuen Anhaltspunkt über die Schriftpraxis unter den jeweiligen Herrschern zu bekommen. Eine solche Analyse könnte sicherlich auch zu einem besseren Verständnis der Frage beitragen: was waren die Kapitularien?, oder pointierter gesagt: Welche Funktionen hatten die verschiedenen Texte, die bei Wissenschaftlern bisher jeweils als ‚Kapitular( ien )‘ galten [9]?
1.2 Die Forschungsgeschichte zur Archivierung der Kapitularien
Auch wenn schon viele Forscher darauf hingewiesen haben, dass man in einigen Kapitularien Hinweise über das Hofarchiv [10] finden kann, gibt es dennoch keine übereinstimmende Meinung zu der Frage, in welchem Maß sich der Hof der karolingischen Herrscher an der Erstellung der Kapitularien und ihrer Archivierung beteiligt haben könnte. Obwohl man früher eine systematische Erstellung und Archivierung am Hof angenommen hat [11], bezweifeln die meisten Forscher neuerdings die Leistungsfähigkeit des Hofes. Ihnen zufolge besaß der karolingische Königshof nicht die Fähigkeit, Kapitularien systematisch herzustellen, zu vervielfältigen und zu archivieren [12], und deswegen seien die Bemühungen der karolingischen Herrscher um ‚eine systematische Archivierung der Kapitularien am Hofarchiv‘ gescheitert [13]. Viele nennen als Grund dafür das Fehlen einer ‚amtlichen Kapitulariensammlung‘ und die Nichtexistenz der Spuren einer systematischen Archivierung der Kapitularien am Hof. Ferner wird darauf hingewiesen, dass Ansegis von Fontenelle, der eine ‚private Kapitulariensammlung‘ im Jahr 827 zusammenstellte, bei seiner Sammelarbeit keine am Kaiserhof archivierten Materialien benutzte und dass schon zwei Jahre nach ihrer Entstehung diese Sammlung vom Hofe wie ein Gesetzbuch zitiert wurde. Das heißt, Ludwig der Fromme hatte damals keine bessere ‚Kapitulariensammlung‘ zur Hand [14].
In jüngerer Zeit betonen jedoch einige Historiker, dass man die Produktivität des damaligen Königshofs nicht unterschätzen sollte. Unter Hinweis darauf, dass zwei Kopisten auf Befehl des Regensburger Bischofs Baturich binnen sieben Tagen einen Codex mit 108 Blatt abschreiben konnten, hat Stephan Freund davor gewarnt, die Fähigkeit der Hofkanzlei, in der wohl mehr als zwei Schreiber zur Verfügung standen, zu unterschätzen [15]. Aber dabei stellt sich gleich eine Frage: wenn der Königshof wirklich so produktiv gewesen sein sollte, warum gibt es dann keine Spuren einer ‚systematischen Archivierung der Kapitularien am Hofarchiv‘? [16]
Es scheint, dass das Problem bei der Diskussion um die sogenannte Archivierung der Kapitularien am Hofarchiv darin liegt, dass dabei das Vorhandensein der Textkategorie Kapitularien als von vornherein gegeben und ohne weiteres vorausgesetzt und der einzelne Befund auf alle Kapitularien übertragen und somit verallgemeinert wird. Aber wie bereits oben angedeutet, sollte zuerst danach gefragt werden, ob es überhaupt eine zeitgenössische Textkategorie Kapitularien gegeben hat. Es wäre dabei auch wichtig, die Veränderung der Schriftlichkeit und der zeitgenössischen Wahrnehmungen im Laufe der Karolingerzeit in Rechnung zu stellen [17]. Deshalb soll im vorliegenden Aufsatz das allgemeine Bild über die ‚Bemühung einer systematischen Archivierung der Kapitularien am Hofarchiv ( und ihres Scheiterns )‘ überprüft werden, ohne das Vorhandensein einer Textkategorie Kapitularien als von vornherein gegeben vorauszusetzen.
An dieser Stelle ist es notwendig, die methodischen Grenzen dieser Arbeit zu betonen. Im Folgenden werden nur diejenigen Fälle behandelt, die in bisherigen Studien im Zusammenhang mit Kapitularien, besonders ‚ihrer systematischen Archivierung‘, erwähnt wurden. Obwohl die Ergebnisse des Aufsatzes zur Relativierung des herkömmlichen Verständnisses von Kapitularien beitragen, kann dieser nicht das gesamte Archivwesen der Karolingerzeit behandeln.
2. Die Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen
2.1 Die Archivierung der Kapitularien unter Karl dem Großen
Information über das Archiv unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen
Die Zeit Karls des Großen |
|
Frankfurt 794 |
breves über den Verzicht Tassilos |
Aachen 808 ( ? ) |
‚Capitulare missorum de exercitu promovendo‘ |
Aachen 813 |
constitutiones der Synoden |
Die Zeit Ludwigs des Frommen |
|
Aachen 815–816 |
‚Constitutiones de Hispanis in francorum regnum profugis prima und secunda‘ |
Aachen 816 |
‚Institutio canonicorum Aquisgranensis‘ |
Aachen 818/819 |
capitula der Versammlung |
Aachen 823–825 |
capitula quae nunc et alio tempore consultu fidelium nostrorum a nobis constituta sunt |
Tabelle 1 stellt alle Informationen über das Hofarchiv unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen zusammen, die mehr oder weniger mit Kapitularien zusammenhängen. Diese geringe Zahl ist schon eine Überraschung für die ‚( angeblich ) eigentliche Ära der Kapitularien‘. Während die Anzahl der Kapitularien in den MGH-Bänden aus der Regierungszeit dieser beiden Herrscher mehr als 150 beträgt, gibt es nicht mehr als zehn Beispiele für ihre Archivierung. Es folgt eine chronologische Analyse dieser Beispiele.
Das erste Beispiel unter Karl dem Großen befindet sich in Kapitel 3 des Kapitulars von Frankfurt aus dem Jahr 794 [18]. Die ersten drei Kapitel dieses Kapitulars sind im Berichtstil wie eine erzählende Quelle geschrieben [19]. Nach den Kapiteln über den Adoptianismus und die Bilderverehrung findet sich im 3. Kapitel folgende Aussage: His peractis de Tasiloni definitum est capitulum, qui dudum Baioariae dux fuerat, sobrinus videlicet domni Karoli regis [20]. Danach folgt der Bericht über die endgültige Resignation Herzog Tassilos III. von Bayern, und es wird auch ein Beschluss über die Archivierung genannt: Unde tres breves ex hoc capitulo uno tenore conscriptos fieri praecepit, unum in palatio retinendum, alium praefato Tasiloni, ut secum haberet in monasterio, dandum, tertium vero in sacri palacii capella recondendum fieri iussit [21]. Obwohl nicht klar nachvollzogen werden kann, ob mit dem Wort capitulum das c. 3 dieses Kapitulars selbst oder ein anderes, verlorengegangenes Dokument gemeint ist, geht es aber sicherlich nicht um das überlieferte Kapitular von Frankfurt mit allen 56 Kapiteln [22]. Bisher wurde das 3. Kapitel von Frankfurt bei der Diskussion über den ‚Versuch der systematischen Archivierung von Kapitularien‘ gelegentlich herausgegriffen, aber man sollte darin eher einen Sonderfall im Zusammenhang mit der Resignation Tassilos sehen.
Das zweite Beispiel unter Karl dem Großen ist das sogenannte ‚Capitulare missorum de exercitu promovendo‘ im Jahr 808 [23]. In Kapitel 8 wird befohlen, dass vier Exemplare dieses Textes angefertigt werden sollen und eines davon beim cancellarius noster aufbewahrt werde [24]. Es lässt sich stark vermuten, dass von den erwähnten vier Exemplaren weitere Abschriften für missi oder Grafen hergestellt wurden [25]. Aber es gibt keine konkrete Information über die Art und Weise der weiteren Abschriften und zur Übermittlung des Textes. Dieser wird uns merkwürdigerweise nur in einer einzigen Handschrift aus dem 10. Jahrhundert überliefert. Bühler hat den Grund für die geringe Überlieferungsdichte darin gesehen, dass der Text ausschließlich weltliche Bestimmungen enthalte und daher von geistlichen Sammlern der Kapitularien vernachlässigt wurde [26]. Mordek gibt der flüchtigen Blattform der Kapitularien Schuld am Überlieferungsmangel [27], und Ganshof weist darauf hin, dass solche Texte als Dokumente der Verwaltungs- und Gerichtspraxis leicht beschmutzt, verdorben und abgenutzt wurden [28]. Dieser Text wäre keine allgemein, dauerhaft geltende Gesetzgebung, sondern eine Anweisung an missi dominici im Zusammenhang mit der Mobilisierung eines bestimmten Jahres und der damit verbundenen Untersuchung [29], weshalb man vielleicht seine Aufbewahrung unnötig fand. Wenn man die Möglichkeit solcher Textverluste in Betracht zieht, kann man sich vielleicht auch die Existenz weiterer, ähnlich gelagerter Fälle vorstellen: nämlich Versuche zur Vervielfältigung der Anweisungstexte an missi oder Grafen auf Initiative des Kaiserhofs und die Archivierung eines Exemplars beim cancellarius. Dies bedeutet aber nicht, dass man bei allen, oder den meisten Kapitularien Karls des Großen ein solches Verfahren verallgemeinern dürfte [30]. Das Vorhandensein der ausdrücklichen Anweisung über die Vervielfältigung und Archivierung weist eher auf ihre Besonderheit hin [31].
Aus der letzten Phase der Regierung Karls im Jahr 813 liegt ein weiterer Hinweis auf das Hofarchiv vor. Laut den Reichsannalen wurden die Bestimmungen ( constitutiones ) der concilia, die auf Anordnung Karls super statu ecclesiarum corrigendo in Arles, Reims, Mainz, Chalon-sur-Saône und Tours zusammengetreten waren, auf der folgenden Versammlung in Aachen vor dem Kaiser zusammengestellt und ihre Abschriften im Hofarchiv sowie in den oben genannten fünf Städten deponiert [32]. Ähnliches, freilich in Kleinigkeiten abweichend, berichtet auch die Chronik von Moissac und erwähnt konkret die in Aachen entstandenen 46 Kapitel [33], obwohl die Chronik nicht von der Archivierung im Hofarchiv spricht. Beide Berichte zusammennehmend kann folgender Verlauf daraus abgeleitet werden: 1 ) Abhaltung der concilia in fünf Städten, 2 ) Abfassung der 46 Kapitel auf der nächsten Versammlung in Aachen, 3 ) Aufbewahrung der Beschlüsse im Hofarchiv sowie in den fünf Städten. Seltsamerweise ist jedoch die Überlieferungssituation der Kanones dieser fünf Synoden ziemlich schlecht [34], und hinsichtlich der Identifizierung der in der Chronik von Moissac erwähnten 46 Kapitel gibt es noch keine übereinstimmende Forschungsmeinung [35]. Die Reformanstrengungen dieses Jahres stellen, im Unterschied zu der Aktion im Jahr 808, reichsweite, mit großem Aufwand herbeigeführte Tätigkeiten dar, und wenn ein Text in Aachen geschaffen, ein Exemplar davon im Hofarchiv deponiert und andere Versionen in allen Regionen des Reiches verbreitet worden wären, hätten eine Menge Abschriften überliefert werden müssen. Angesichts der schlechten Überlieferungssituation sollten wir vielleicht mit Schmitz die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass in Aachen gar keine offizielle Schrift mit 46 Kapiteln entstanden ist [36]. Die Formulierung der Reichsannalen deutet nicht ausdrücklich an, dass in Aachen eine neue ‚Schrift‘ als Zusammenstellung der fünf Beschlüsse hergestellt wurde [37]. Selbst wenn wirklich capitula mit 46 Kapiteln in Aachen abgefasst wurden, so waren sie wohl nicht zur systematischen Verbreitung bestimmt, sondern ein Nebenprodukt der Beratung. Das, was im Hofarchiv sowie den fünf Städten archiviert war, wäre somit einfach eine additive Zusammenstellung der Bestimmungen der fünf concilia [38]. Insgesamt sollte bei diesem Fall die Verallgemeinerung des ‚Versuchs der systematischen Archivierung von Kapitularien‘ vermieden werden, weil die Praxis der getrennt in mehreren Städten tagenden Synoden eine neue Erscheinung in der gesamten Konziliengeschichte war [39].
2.2 Die Archivierung der Kapitularien unter Ludwig dem Frommen
Das erste Beispiel für die Archivierung eines Textes unter Ludwig dem Frommen sind die in Diplomform abgefassten constitutiones für Hispani im Jahr 815 und 816 [40]. Das erste Dokument von 815 bestimmt, dass für jedes der Bistümer, in denen spanische Flüchtlinge angesiedelt waren, drei Exemplare anzufertigen waren und darüber hinaus noch ein Exemplar im archivo palatii nostri aufbewahrt werden sollte [41]. In der Bestimmung vom Jahr 816 sind die sieben Bistümer genannt, in denen jeweils eine Abschrift der constitutio aufbewahrt werden sollte. Darüber hinaus findet sich wiederum die Bestimmung, ein Exemplar von diesen Abschriften im archivo palatii nostri aufzubewahren [42]. Obwohl diese beiden Dokumente als Kapitularien im MGH-Band ediert sind, waren sie in Form eines Diploms abgefasst und wurden daher manchmal nicht als Kapitularien betrachtet [43]. Wie bereits oben betont, wird in der vorliegenden Arbeit eine strenge Definition der Kapitularien vermieden. Die Tatsache, dass diese beiden Dokumente eindeutig Elemente einer Urkunde aufweisen, wie z. B. Protokoll und Eschatokoll, legt jedoch stark nahe, dass sie innerhalb der Kategorie Urkunden verstanden werden sollten. Jedenfalls beziehen sich die Bestimmungen beider Dokumente auf die Sondersituation im Südwesten des Reiches und erlauben keine Verallgemeinerung [44].
Der zweite Fall unter Ludwig dem Frommen ist die ‚Institutio canonicorum Aquisgranensis‘, die 816 auf der Versammlung von Aachen zusammengestellt wurde [45]. Erwähnungen des Hofarchivs liegen in Briefen an Erzbischöfe vor, die durch missi dominici übermittelt wurden [46]. Darin spricht der Kaiser von der Zusendung von Kanoniker- und Kanonissenregeln, die im Hofarchiv ( penes palatium nostrum ) abgeschrieben wurden, und befiehlt den Erzbischöfen, sie vor der Provinzialversammlung vorzulesen und für jede Kanonikergemeinschaft wortgetreu [47] abzuschreiben. Dort wird explizit angeordnet, dass ein Exemplar davon im „Schrank“ des Kaiserhofs hinterlegt werden solle [48], um einer nachlässigen Abschrift vorzubeugen. Diesen Briefen darf die Intention Ludwigs entnommen werden, authentische, amtliche Texte mit gleichem Wortlaut reichsweit zu verbreiten. Nach der Anfertigung des amtlichen Dokuments auf der Versammlung von Aachen ließ der Kaiser ein Exemplar im Hofarchiv hinterlegen, Abschriften durch missi dominici ( oder die Teilnehmer der Versammlung ) in jede Region übermitteln und mit Hilfe der kirchlichen Metropolitanverfassung in alle Ecken und Winkel des Reiches verbreiten [49]. Diese Kanonikerregel ist in vielen Handschriften überliefert, weshalb wir die Anwendung dieses Verfahrens vermuten dürfen [50]. Eine Initiative, einen mehr als 100 MGH-Seiten langen Text systematisch zu vervielfältigen und zu verbreiten, gab es unter Karl dem Großen überhaupt nicht, und deutet auf eine Weiterentwicklung der Schriftlichkeit in der Regierungstätigkeit hin [51]. Andererseits lässt sich aus diesem Fall keine ‚systematische Archivierung, Vervielfältigung oder Verbreitung der Kapitularien‘ allgemein ableiten. Das gerade Erläuterte bezieht sich nicht auf Kapitularien, sondern nur auf die Kanonikerregel von 816.
Das nächste Beispiel bezieht sich auf eine Reihe von Bestimmungen von 818/819, die auch im Hofarchiv Ludwigs archiviert worden sein dürften. Die Reichsannalen berichten, dass nach Weihnachten eine Versammlung zu Aachen gehalten, viel über den Zustand der Kirchen und Klöster verhandelt wurde und legibus etiam capitula quaedam pernecessaria, quia deerant, conscripta atque addita sunt [52]. Aus dieser Versammlung sind tatsächlich einige Beschlüsse überliefert [53]. Für die vorliegende Analyse interessiert ein Dokument, das als Vorrede gilt [54]. Am Ende dieses Dokumentes erklärt Ludwig, dass er drei Arten von Bestimmungen zusammenstellen ließ, nämlich das, was Geistliche und Mönche beobachten sollten, was weltlichen Gesetzen hinzugefügt und was in capitula eingefügt werden solle [55]. Danach folgt der Hinweis auf die Archivierung: [ … ] libuit nobis ea quae congesta sunt ob memorie firmitatisque gratiam in unum strictim congerere et subiectis capitulis adnotare et in publico archivo recondere [ … ] [56]. Wie Ludwig erklärt, in unum strictim congerere, können diese drei Dokumente nur in verbundener Form funktionieren [57] und sind tatsächlich meistens gemeinsam überliefert [58]. Im Unterschied zur Kanonikerregel vom Jahr 816 liegen hier keine genaue Information darüber vor, wie diese capitula in jede Region übermittelt wurden, aber aufgrund der Rubriken der Nr. 138 [59] und Nr. 139 [60] darf davon ausgegangen werden, dass diese Texte für die Amtsträger des Reiches bestimmt waren. Wahrscheinlich haben die Teilnehmer der Aachener Versammlung oder die missi dominici sie jedem Amtsträger übermittelt [61]. Aus der Tatsache, dass viele Handschriften diese Textgruppe überliefern, lässt sich auf die Verwirklichung dieses Verfahrens und die Archivierung eines Exemplars im Hofarchiv schließen [62]. Im Unterschied zu den in Diplomform abgefassten constitutiones von 815–816 oder der Kanonikerregel von 816 passt dieser Fall mehr oder weniger zum traditionellen Bild der Kapitularien als Herrschererlasse. Man muss sich allerdings auch in diesem Fall vor einer Verallgemeinerung hüten. Hier findet sich kein Hinweis auf einen Versuch des Kaisers, außer diesen Texten von 818–819 auch seine anderen Kapitularien im Hofarchiv aufzubewahren.
2.3 Die ‚Admonitio‘ Ludwigs des Frommen: Ein Versuch der systematischen Archivierung von Kapitularien?
Die ‚Admonitio ad omnes regni ordines‘ [63] von 823–825 beinhaltet ein bemerkenswertes Kapitel und wird daher oft als Beweis für das Bemühen um eine systematische Archivierung der Kapitularien am Hofarchiv betrachtet [64]. Im letzten Kapitel des Textes findet sich folgende Bestimmung:
26. Volumus etiam, ut capitula quae nunc et alio tempore consultu fidelium nostrorum a nobis constituta sunt a cancellario nostro archiepiscopi et comites eorum de propriis civitatibus modo, aut per se aut per suos missos, accipiant, et unusquisque per suam diocesim ceteris episcopis, abbatibus, comitibus et aliis fidelibus nostris ea transcribi faciant et in suis comitatibus coram omnibus relegant, ut cunctis nostra ordinatio et voluntas nota fieri possit. Cancellarius tamen noster nomina episcoporum et comitum qui ea accipere curaverint notet et ea ad nostram notitiam perferat, ut nullus hoc praetermittere praesumat [ … ] [65].
Es bleibt die Frage, was mit der Formulierung capitula quae nunc et alio tempore consultu fidelium nostrorum a nobis constituta sunt genau gemeint wurde. Die bisherige Forschung hat fast übereinstimmend die hier erwähnten capitula als Kapitularien Ludwigs des Frommen verstanden. Soweit ersichtlich nennt dabei jedoch niemand den Grund für eine solche Schlussfolgerung. Sie dürfte sich vielleicht aus der Tendenz herleiten, dass man das Wort capitula fast automatisch als Kapitularien versteht und darin eine bestimme Textkategorie sieht. Aber wie in der Einleitung bereits angesprochen, bedeutet das Wort capitula ganz allgemein ‚kapitelweise geschriebene Text( e )‘, und so sollte das Wort nicht ohne weiteres als Kapitularien übersetzt werden. Natürlich erscheint in diesem Kontext der Begriff mit einigen Zusätzen und weist sicherlich auf eine bestimmte Gruppe von Texten hin. Die Frage ist aber, in welchem Ausmaß diese capitula mit dem modernen Fachbegriff ‚Kapitularien Ludwigs des Frommen‘ übereinstimmen.
In Abgrenzung zur bislang meist vorherrschenden Meinung möchte ich diese erwähnten capitula als ‚Admonitio‘ selbst und als eine Reihe von Texten aus den Jahren 818–819 verstehen [66]. Wie gerade dargestellt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Texte von 818–819, im Unterschied zu anderen Kapitularien, im Hofarchiv archiviert wurden, und dies gilt als ein Grund für eine solche Annahme. Darüber hinaus ist die Formulierung der ‚Admonitio‘ suggestiv. Kapitel 21 de iniustis teloneis lautet: [ … ] de quibus, qualiter ab omnibus observandum esset, et capitulis constituimus et creberrimas admonitiones fecimus [ … ] [67], und Kapitel 17 eines Textes von 818–819 behandelt dieses Thema ausführlich [68]. Ebenso werden in Kapitel 23 der ‚Admonitio‘ die sogenannten nona et decima behandelt; es enthält folgende Formulierung: [ … ] unde et genitor noster et nos frequenter et in diversis placitis admonitionem fecimus et per capitularia nostra qualiter haec observarentur ordinavimus [ … ] [69], und weiter in Kapitel 24 über die Erneuerung der Kirchen: [ … ] illud volumus omnino ut subeat, quod in nostro capitulari de hac re communi consultu fidelium nostrorum ordinavimus [70]. Diese beiden Themen entsprechen dem Kapitel 5 des anderen Textes von 818–819 [71]. Die Bestimmungen der ‚Admonitio‘ setzen die Kenntnis der Texte von 818–819 somit voraus [72], und daher hat der Kaiser in Kapitel 26 der ‚Admonitio‘ bestimmt, diese Textgruppe systematisch zu verbreiten [73].
2.4 Das sogenannte Leges-Scriptorium Ludwigs des Frommen
Die bisherige ‚Kapitularienforschung‘ hat, meist stillschweigend, Kapitularien als eine Textkategorie begriffen, und aus dieser Annahme dürfte sich die Vorstellung ergeben, dass die capitula quae nunc et alio tempore consultu fidelium nostrorum a nobis constituta sunt in Kapitel 26 der ‚Admonitio‘ auf die Kapitularien Ludwigs hinweisen. Eine solche Folgerung galt vielleicht als selbstverständlich und wurde deshalb bis heute nicht hinterfragt. Im Folgenden soll dieses Problem weiter erörtert werden.
Die sogenannten Leges-Handschriften Ludwigs, die am Hof selbst oder in enger Beziehung zum Hof entstanden sein sollen, geben einige Hinweise, um das zeitgenössische Verständnis der Textkategorien zu begreifen. Rosamond McKitterick behauptet, aus der Tatsache, dass diese Handschriften außer den sogenannten Stammesrechten auch Kapitularien beinhalten, lasse sich ableiten, dass Kapitularien unter dem Kanzler systematisch hergestellt worden seien. Ihrer Meinung nach hätte sich die Kanzlei unter Ludwig dem Frommen stark an der Herstellung der Kapitularien beteiligt. Wenn ihre Behauptung zuträfe, müsste nicht nur die traditionelle Tendenz, die Produktivität des Königshofs zu unterschätzen, sondern auch das bisherige Ergebnis der hier vorliegenden Arbeit vollständig revidiert werden, weil ihre Auffassung zu der Annahme führen würde, dass die Kapitularien in der Kanzlei Ludwigs systematisch hergestellt, abgeschrieben und archiviert worden seien.
Bei genauerer Betrachtung der Leges-Handschriften ergibt sich aber ein anderer Schluss. Wie Hubert Mordek herausgearbeitet hat [74], beinhalten diese Handschriften nur wenige Kapitularien [75]. Wenn aber die Textkategorie ‚Kapitularien‘ nicht als von vornherein gegeben vorausgesetzt werden darf, darf auch nicht aus den Leges-Handschriften die systematische Behandlung der Kapitularien am Hof abgeleitet werden. Die Tatsache, dass die Leges-Handschriften nur wenige Kapitularien beinhalten, suggeriert eher, dass die traditionellerweise als Kapitularien betrachteten Texte damals nicht als eigene Textgruppe betrachtet wurden.
Wenn Kapitularien durch die Initiative des Hofes wirklich systematisch behandelt wurden, wären wohl Handschriften überliefert, die die Kapitularien systematisch sammeln. Aber es gibt keinerlei Spuren einer solchen Handschrift vor der Entstehung der privaten Kapitulariensammlung des Ansegis [76]. Die Komposition der Leges-Handschriften legt nahe, dass damals die heute als Kapitularien betrachteten Texte nicht systematisch archiviert oder abgeschrieben wurden. Wie in der Einleitung bemerkt, tendiert die Forschung aufgrund dieses Befundes dahin, die Leistungsfähigkeit des Hofes zu bezweifeln. Vielleicht sollte daraus jedoch nicht ‚das Fehlen der systematischen Behandlung der Kapitularien‘, sondern ‚das Fehlen der Textkategorie Kapitularien‘ abgeleitet werden. Diese Situation, nämlich das Fehlen der Kapitulariensammlung, kann erklärt werden, indem angenommen wird, dass die Zeitgenossen diese von uns als Kapitularien betrachteten Texte nicht pauschal als eine mehr oder weniger homogene Textgruppe verstanden.
2.5 Zwischenergebnis
Als Zwischenergebnis lässt sich also festhalten, dass es in der Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen keinen einzigen ( überlieferten ) Versuch gab, Kapitularien systematisch zu archivieren. Obwohl man unter Karl dem Großen dreimal, nämlich 794, 808 und 813, Spuren der Archivierung von Dokumenten im Hofarchiv findet, müssen diese als Sonderfälle betrachtet werden. Unter Ludwig dem Frommen finden sich zuerst 816 und 818–819 Versuche der systematischen Verbreitung eines Textes; 823–825 versuchte der Kaiser sogar, auch die vorausgegangenen Texte ( konkret jene von 818–819 ) systematisch zu verbreiten und zu archivieren. Man sollte in solchen Maßnahmen jedoch nicht Spuren des ‚Versuches der systematischen Archivierung von Kapitularien‘ sehen. Eine solche Maßnahme, nämlich ein Versuch, mit dem Exemplar aus dem Hofarchiv durch missi dominici oder andere Amtsträger wie Erzbischöfe und Grafen einen Text in jede Region des Reiches zu verbreiten, kann nur bei den oben genannten Sonderfällen in Frage kommen, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass dies bei allen Kapitularien versucht wurde.
Shigeto Kikuchi bezeichnet die Jahre 779, 789, 802/803, 813, 818/819, 825 und 829 als „Wendepunkte des Kapitularienwesens und/oder des Missatswesens“ unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen [77]. Weiterhin zeigte Karl Ubl auf, dass es vor dem legislatorischen Schub im Jahr 802 nur einen um das Jahr 789 gab [78]. Darüber hinaus beginnen einige Forscher zu verdeutlichen, dass wir die bisher undatierten Kapitularien als Gruppen begreifen dürfen, die jeweils zur gleichen Zeit produziert wurden [79]. Diese Ergebnisse suggerieren, dass es in der Karolingerzeit keine alljährliche Gesetzgebungstätigkeit mit entsprechender Verschriftlichung und systematischer Übermittlung gab. Eher lassen sich in der Regierung jedes Herrschers lediglich einige wenige legislatorische Schübe finden. Außerdem sollte davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit geschriebenen Texten bei jedem legislatorischen Schub ziemlich unterschiedlich war. In diesem Falle aber darf das traditionelle, simple Bild, dass Kapitularien auf einer Reichsversammlung mit einem ‚Konsens‘ von weltlichen und geistlichen Großen erlassen wurden, nicht mehr beibehalten werden [80]. Man sollte dabei vielleicht sogar nicht von Sonderfällen sprechen, wenn man die folgende Angabe von Kikuchi ernst nimmt: „[ … ] texts which we consider as ‚capitularies‘ or ‚capitulary-like texts‘ [ … ] had their own various raisons d’être and purposes [ … ].“ [81] Bei der politischen Kommunikation in dieser Zeit darf kaum von einer einheitlichen Praxis ausgegangen werden, und deshalb sollte jeder Fall als Sonderfall betrachtet werden.
Anhand der Ergebnisse der oben genannten Analyse kann das traditionelle Bild der ‚eigentlichen Ära der Kapitularien‘ und das daraus entstandene Bild ‚Karls des Großen als großer Gesetzgeber‘ nicht mehr ohne weiteres beibehalten werden. Karl und Ludwig hatten überhaupt nicht die Absicht, diese unterschiedlichen Kapitularien im Hofarchiv systematisch zu sammeln. Aber das Fehlen von Spuren einer systematischen Archivierung oder einer ‚amtlichen Kapitulariensammlung‘ bedeutet nicht automatisch das Scheitern des Archivierungsprojekts und die Unfähigkeit des Hofes. Vielmehr lässt sich aus der dichten Überlieferung der Texte von 816 und 818–819 eher schließen, dass der Hof Ludwigs des Frommen dazu in der Lage war, die am Hof entstandenen Texte systematisch zu verbreiten und zu archivieren, sofern dies beabsichtigt wurde.
3. Von der Zeit Ludwigs des Frommen zu der Karls des Kahlen
3.1 Die Kapitulariensammlung des Ansegis von Fontenelle
Mit ein paar Ausnahmen dürften die meisten Texte, die bisher als Kapitularien betrachtet wurden, bei den Empfängern der Texte archiviert worden sein, z. B. bei den missi dominici, die die Aufgabe übernahmen, diese in jede Region zu vermitteln. Zwar sollte nicht davon ausgegangen werden, die Aufbewahrung der empfangenen Texte sei immer die Pflicht der Empfänger gewesen [82], doch ist kaum anzunehmen, dass Texte bedenkenlos weggeworfen wurden, die eine Form der politischen Kommunikation darstellten und in denen sich die Autorität eines Herrschers widerspiegelte [83]. Es kann also angenommen werden, dass im Laufe der Zeit diese verschiedenartigen Texte ( d. h. die bisher als Kapitularien betrachteten Texte ) in regionalen Archiven gesammelt wurden. So wäre es gut erklärbar, dass eine Sammlung dieser Texte nicht auf Initiative des Hofes, sondern der Region hin entstand. Vor der Analyse der Zeit Karls des Kahlen soll jedoch kurz die Kapitulariensammlung des Ansegis von Fontenelle Beachtung erhalten, weil sie zu der Entstehung einer Textkategorie Kapitularien wesentlich beigetragen zu haben scheint.
Es ist allgemein anerkannt, dass diese Sammlung eine ‚Privatarbeit‘ war, in dem Sinne, dass Ansegis sie nicht auf einen Anstoß von Kaiser oder Hof hin verfasst hat [84]. Diese Sammlung umfasst vier Bände ( und Anhänge ) und beinhaltet Kapitularien Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Lothars ( als Mitkaiser ). Ansegis ordnete die Kapitel nach Herrschern und Themen an: das erste Buch enthält kirchliche Kapitel Karls des Großen, das zweite Buch kirchliche Kapitel Ludwigs des Frommen und Lothars; das dritte enthält weltliche Kapitel Karls des Großen und das vierte weltliche Kapitel Ludwigs und Lothars. Weil viele Kapitularien sowohl kirchliche als auch weltliche Kapitel enthalten, kommt es in dieser Sammlung dazu, dass die Kapitel eines bestimmen ‚Kapitulars‘ – oder genauer gesagt, die Kapitel der in den MGH-Bänden als ein bestimmtes ‚Kapitular‘ erfassten Kapitelliste – über mehrere Bücher und Anhänge verstreut sind. Jene Kapitel, die gewissermaßen als ‚aide mémoire‘ aufgezeichnet worden waren und keinerlei Sinn ergaben, sind in den Anhängen gesammelt [85].
Die Sammlung beinhaltet ziemlich verschiedenartige Kapitel, und gibt keine Angaben zu Datum und Entstehungsort eines jeden Kapitels. Diese Situation lässt sich unter Einbeziehung der Vorrede dieser Sammlung erklären. Danach hat Ansegis capitula, die er gesammelt hatte, in diversis membranulis ( „auf verstreuten Pergamentblättchen“ ) gefunden [86]; deshalb darf angenommen werden, dass er die eigentliche Funktion der gefundenen Texte nicht klar erkennen konnte [87]. Die von ihm gesammelten Pergamentblättchen dürften nicht immer eine Vorrede oder Überschrift mit Angaben zu Datum oder Entstehungsort beinhaltet haben [88]. Ich habe früher eine Hypothese vorgeschlagen, dass die von Ansegis gesammelten Texte in ihren ursprünglichen Entstehungsphasen nicht als eine bestimmte Textkategorie wahrgenommen wurden, also nicht als eine Textkategorie Kapitularien begriffen werden sollten, und die jeweiligen Texte verschiedenartige Entstehungskontexte und Funktionen hatten [89]. Die Sammlung enthält nicht nur Texte, von denen man annimmt, dass sie in Form von endgültigen Beschlüssen einer Versammlung erlassen wurden, sondern auch Memoranda für Vermittlung der Beschlüsse, Agenda einer Versammlung oder Notizen aus einer Diskussion der Versammlung [90]. Ansegis gibt an, dass er inspiriert wurde, Texte zu sammeln, die er auf verstreuten Pergamentblättchen gefunden hatte, damit „sie nicht dem Vergessen anheimfallen.“ [91] Viele der von ihm gesammelten Texte lagen in lokalen Archiven, hatten ihren Zweck schon erfüllt und wären vielleicht tatsächlich in Vergessenheit geraten, wenn er sie nicht neu zusammengestellt hätte. Indem er sie nach eigenen Kriterien in Bände einteilte, ihnen ein einheitliches Inhaltsverzeichnis gab und die unverständlich erscheinenden Kapitel in Additamenta verwies, führte er sie zu einer einheitlichen Kapitelsammlung zusammen. Das Ergebnis war eine Sammlung mit dem Aussehen einer Sammlung kaiserlicher Erlasse.
Allerdings wird manchmal darauf hingewiesen, dass sie keine umfassende Sammlung und die Zahl der aufgenommenen Kapitularien ziemlich gering sei [92]. Doch es gab vor ihr keine Sammlung der Kapitularien in solchem Umfang. Besonders bemerkenswert ist, dass Ludwig der Fromme sie im Jahr 829, also zwei Jahre nach ihrer Entstehung, auf der Versammlung von Worms verwendete [93]. Daraus lässt sich erneut folgern, dass es am Hof selbst keine Sammlung derartiger Texte gab und die Sammlung des Ansegis, welche die verschiedenartigen, kapitelweise geschriebenen Texte nach Herrschern und Themen angeordnet hatte, als nützlich erschien. Allerdings gibt es auch nach 829 keinen Hinweis auf eine umfängliche Verschriftlichung der Beschlüsse unter Ludwig dem Frommen wie 818–819 oder 825 geschehen [94], vielleicht wegen des Bürgerkriegs. Jedoch erfuhr die Sammlung des Ansegis schnell weite Verbreitung im ganzen Frankenreich, in einigen Handschriften sogar mit der Hinzufügung der Texte von 829 [95].
3.2 Kontinuität und Zäsur
Bei der Betrachtung der Situation unter Karl dem Kahlen muss das Problem der Zäsur der Personen besonders in Rechnung gestellt werden. Es dauerte 14 Jahre von der letzten umfänglichen Verschriftlichung der Beschlüsse unter Ludwig dem Frommen bei der Versammlung von Worms um 829 bis zur Versammlung von Coulaines, wo das angeblich ‚erste Kapitular‘ Karls des Kahlen verfasst wurde [96]. Benedikt von Aniane, der unter Ludwig dem Frommen eine führende Stellung einnahm, starb schon 821 [97], und Jonas von Orléans, der höchstwahrscheinlich als Verfasser der Akten von Paris 829 zu gelten hat [98], im Jahr 841. Lupus von Ferrières dürfte sich mit einigen frühen Kapitularien Karls des Kahlen beschäftigt haben, aber der erste bekannte Hinweis auf seinen Kontakt zum Kaiserhof erscheint erst 836, also sieben Jahre nach der Versammlung von Worms [99].
In diesem Zusammenhang kann Hinkmar von Reims als einzige Ausnahme vermutet werden, der schon 822 in der Nähe des Hofes auftritt. Er tritt jedoch während der Regierungstätigkeit Ludwigs in den 820er Jahren nicht hervor, und es liegen keine Informationen über seinen Anteil an der Versammlung von Worms 829 vor [100]. In der Zeit der Entstehung der Sammlung des Ansegis hatte er anscheinend noch keinen Bezug zum Hof. Im Hinblick auf seine führende Position im Westfrankenreich sollten seine Kenntnisse der Regierungspraxis unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen ausführlich untersucht werden [101]. Doch hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass die uns bekannten Hinweise zu Hinkmars Beteiligung an Reichsversammlungen und Kapitularien Karls des Kahlen erst nach seiner Erhebung zum Erzbischof erscheinen.
Obwohl die bisherige Forschung manchmal auf die Zäsur von 829 hingewiesen hat, wurde der Veränderung der Schriftlichkeit im Bereich der Kapitularien zwischen der Zeit Karls des Großen oder Ludwigs des Frommen einerseits und der Karls des Kahlen andererseits fast keine Beachtung geschenkt. Wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass sich unter Karl dem Kahlen nur wenige Personen mit der Praxis vorangehender Herrscher auskannten, sollte durchaus die Eventualität einer grundsätzlichen Veränderung der Schriftlichkeit berücksichtigt werden. Im Folgenden wird dieser Punkt durch die Betrachtung der Bestimmungen für das Hofarchiv behandelt.
4. Die Zeit Karls des Kahlen
4.1 Die Kapitularien Karls des Kahlen und ihre Archivierung
Wie bereits angemerkt, lassen sich die Fälle unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen nicht als ‚Versuch der systematischen Archivierung von Kapitularien‘ betrachten. Im Folgenden sollen die Bestimmungen für das Hofarchiv unter Karl dem Kahlen betrachtet werden, im Hinterkopf behaltend, dass in dieser Zeit, im Unterschied zur Epoche Karls des Großen, die sogenannte Kapitulariensammlung des Ansegis schon entstanden war.
Das erste Beispiel unter Karl dem Kahlen, in dem das Hofarchiv erwähnt wird, ist das Kapitel 11 des ‚Capitulare missorum Silvacense‘ von November 853 [102]. Dort weist der König seine missi an, Capitula avi et patris nostri aus „unserem Schrein“ oder von „unserem Kanzler“ zu bekommen. Aus der Tatsache, dass in diesem Kapitular das Kapitel des Ansegis unter präziser Stellenangabe zitiert wird [103], darf gefolgert werden, dass es die Sammlung des Ansegis war, die missi beim Hofarchiv erhalten sollten. Darüber hinaus lesen wir in Kapitel 14, welches sich nur in der Pariser Handschrift findet [104], Genaueres über das Verfahren der Abschrift und den Ausdruck more praedecessorum vestrorum. Aus diesen Worten lässt sich nicht schließen, dass die wirkliche Praxis unter seinen Vorgängern am Hof Karls dem Kahlen genau bekannt gewesen wäre. Es ist eher wahrscheinlich, dass Karl und sein Hofkreis aus dem entsprechenden Kapitel der Sammlung des Ansegis auf die Praxis unter seinem Vater zurückschlossen. Es geht höchstwahrscheinlich um das Kapitel 26 der ‚Admonitio‘ von 823–825, das in der Sammlung des Ansegis als 2–24 erscheint.
In der ‚Constitutio‘ von Quierzy 861 [105] findet sich eine Bestimmung mit der Anordnung, einen Text aus dem Hofarchiv heranzuziehen. Hier geht es nicht um die Sammlung des Ansegis, sondern um diese ‚Constitutio‘ selbst, die beim cancerarius archiviert, durch missi in jede Region geschickt und bekanntgemacht werden sollte [106]. Das hier angeordnete Verfahren ähnelt dem des Kapitels 26 der ‚Admonitio‘ Ludwigs, und dies dürfte den Ausdruck in der ‚Constitutio‘ wie ex more oder ex hoc praedecessorum nostrorum constitutione erklären.
Ein drittes Beispiel der Archivierung bietet Kapitel 36 der capitula von Pîtres 864 [107]. Das Kapitel besteht aus dem wörtlichen Zitat des Kapitels 26 der ‚Admonitio‘ Ludwigs des Frommen mit der Angabe seiner Kapitelnummer in der Sammlung von Ansegis [108]. Bestimmt wird, dass die capitula, quae [ … ] a nobis constituta sunt, die beim cancellarius aufbewahrt werden, durch die Vermittlung der Erzbischöfe und Grafen im ganzen Reich verbreitet werden sollen. Aber wie oben ausgeführt, hat Ludwig der Fromme mit dem Ausdruck capitula, quae [ … ] a nobis constituta sunt, nur auf einen Teil seiner Kapitularien ( oder genauer gesagt, der Texte, die wir heute als seine Kapitularien betrachten ), nämlich eine Reihe von Beschlüssen der Versammlung von 818–819 und die ‚Admonitio‘ selbst, hingewiesen. Im Gegensatz dazu scheinen, wie im Folgenden gezeigt wird, die capitula, quae [ … ] a nobis constituta sunt in Kapitel 36 von Pîtres jene Texte zu bezeichnen, die mit den Kapitularien Karls des Kahlen fast übereinstimmen. Karl der Kahle dürfte durch die wörtliche Zitierung des Kapitels geglaubt haben, dass er die Maßnahme seines Vaters wiederholte, aber faktisch änderte sich die Bedeutung der Formulierung vollständig. Selbst zu dieser Zeit hätte das Wort capitula für sich genommen „kapitelweise geschriebene Text( e )“ bedeutet, aber wenn es als capitula, quae a nobis constituta sunt verwendet wurde, hatte es wahrscheinlich die Bedeutung von „die von uns erlassenen Edikte“ und der Gegenstand, auf den es sich bezog, kam dem modernen Fachbegriff Kapitularien sehr nahe. Unter Karl dem Kahlen scheint es also, außer dem Bemühen um die Verbreitung der Sammlung des Ansegis, auch die systematische Archivierung und Verbreitung seiner Kapitularien auf Initiative des Königshofes gegeben zu haben.
4.2 Der systematische Umgang mit Kapitularien unter Karl dem Kahlen
Zuerst kann angemerkt werden, dass uns relativ viele Handschriften der Sammlung des Ansegis aus dem Westfrankenreich des 9. Jahrhunderts überliefert sind [109]. Wie bereits ausgeführt, beabsichtigte Karl der Kahle mit dem ‚Capitulare‘ von 853 eine systematische Verbreitung der Sammlung des Ansegis; der Überlieferungsstand dieser Sammlung stellt ein Indiz für die Verwirklichung dieser Bestrebungen dar. Unter den aus dem Westfrankenreich überlieferten Ansegis-Handschriften ragen die der sogenannten Reimser Gruppe hervor, welche wahrscheinlich in Reims in der Zeit Hinkmars ihren Ursprung haben [110]. Wenn man seine führende Position am Hof Karls des Kahlen in Betracht zieht, dürfte man die Verbreitung der Handschriften auf die Initiative des Hofes zurückführen [111]. Darüber hinaus wird, nach Gerhard Schmitz, manchmal eine Ansegis-Handschrift von Reims aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts bei den Formulierungen der obengenannten capitula von Pîtres 864 benutzt [112]. Schmitz spricht zu Recht vom Aufstieg der Reimser Gruppe zu offiziellem Rang [113]. Außerdem finden sich in Kapitularien Karls des Kahlen einige Kapitel mit einem Verweis auf Buch- und Kapitelangaben bei Ansegis, jedoch ohne wörtliches Zitat [114]. Der Verfasser solcher Kapitel setzte sicherlich das Vorhandensein der Sammlung des Ansegis bei den Empfängern der Texte voraus; dies lässt eine gewisse Verwirklichung des Bemühens um die Verbreitung der Sammlung von Ansegis vermuten [115].
Karl der Kahle bemühte sich also, die Texte, die für ihn als die Kapitularien seiner Vorgänger galten, in der Form der Sammlung des Ansegis im ganzen Reich zu verbreiten. Darüber hinaus wollte er auch seine eigenen Kapitularien systematisch erfassen. Indizien dafür sind die unter ihm entstandenen Handschriften aus dem Westfrankenreich, in denen seine Kapitularien chronologisch gesammelt wurden [116]. Die Tatsache, dass eine solche Handschrift mit der oben genannten ‚offiziellen‘ Version der Ansegis-Sammlung kombiniert wird [117], lässt die Herstellung einer solchen Sammlung auf Initiative des westfränkischen Hofs vermuten. Im Unterschied zur Sammlung des Ansegis entstanden im Westfrankenreich sozusagen ‚offizielle Kapitulariensammlungen‘. Daraus lässt sich folgern, dass capitula, quae [ … ] a nobis constituta sunt in Kapitel 36 von Pîtres gerade die Texte waren, die solche ‚offiziellen‘ Sammlungen beinhalteten, und dass Karl der Kahle versuchte, seine früheren Bestimmungen mit Hilfe solcher Sammlungen in jeder Region zu verbreiten [118].
Die Bemühungen Karls des Kahlen um eine systematische Behandlung der Kapitularien lassen sich auch aus der Erwähnung früherer Kapitularien in seinen Texten ablesen. Im Gegensatz zur Zeit seiner Vorgänger finden sich unter ihm Erwähnungen vergangener Kapitularien mit der Angabe der Entstehungsorte [119]. Ein Beispiel ist das erste Kapitel der capitula von 854, die Karl beim Treffen mit Lothar I. in Attigny seinen missi dominici gab; dort steht: De missis pro latronibus, scilicet ut addantur et suppleantur missi, qui illa peragant, quae in capitulis continentur, quae supra in Silvaco illum edidisse praescripsimus [120]. Auch in dem von Bischöfen und anderen fideles Karl dem Kahlen überreichten ‚Consilium optimatum Karolo II. Datum‘ von 856 [121] wird eine Reihe von capitula Karls mit Angaben zu ihrer Entstehungssituation erwähnt, und ähnliche Beispiele lassen sich leicht finden [122]. Daraus ergibt sich eine neue Situation, in der sowohl der Hof Karls des Kahlen als auch die Empfänger der Texte vergangene Bestimmungen mit Informationen zu den Entstehungsorten aufbewahrten [123]. Da dies unter Karl dem Großen kaum vorstellbar ist [124], muss eine grundlegende Veränderung der Schriftlichkeit zwischen der Zeit Karls des Großen und der seines Enkels angenommen werden.
4.3. Die Wahrnehmung unter Karl dem Kahlen: more praedecessorum ac progenitorum
Bisher wurde ausgeführt, dass unter Karl dem Kahlen Kapitularien mehr oder weniger als eine bestimmte Textkategorie betrachtet wurden und es ein Bestreben gab, sie systematisch zu behandeln. Die Sammlung des Ansegis, die zunächst als eine ‚private‘ Sammlung entstanden war und ziemlich verschiedenartige Texte zusammengestellt hatte, erlangte unter Karl dem Kahlen den Status als ‚offizielle Kapitulariensammlung‘ Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. Ihr Nachfolger Karl der Kahle war bemüht, seine eigene Kapitulariensammlungen herzustellen und sie systematisch zu verbreiten. Eine solche Praxis hatte es unter seinem Vater oder Großvater nicht gegeben, und darüber hinaus hatte man in ihrer Zeit Kapitularien nicht als eine einheitliche Textkategorie wahrgenommen. Die bisherige Vorstellung, die Kapitularien Karls des Kahlen als eine Fortsetzung der Praxis unter Karl dem Großen anzusehen, muss daher vollständig revidiert werden.
Im Übrigen setzen nicht nur moderne Forscher die vermeintliche Praxis unter Karl dem Großen mit der Karls des Kahlen gleich. Wahrscheinlich dachte auch Karl der Kahle selbst, dass seine Kapitularien entsprechend der Praxis seiner Vorgänger erlassen wurden, wie oben bereits angedeutet wurde. Einige Hinweise darauf finden sich am Ende des Aufsatzes.
Zunächst sei darauf hingewiesen, dass sich unter den Kapitularien Karls des Kahlen zahlreiche Beispiele für die Erwähnung der Artikel des Ansegis finden, wie oben an einigen Beispielen dargelegt wurde [125]. Daraus ist erkennbar, dass Karl der Kahle seine Kapitularien in der Tradition der in der Sammlung des Ansegis befindlichen Beschlüsse sah. Der Wortlaut der capitula von Pîtres 862 und 869 zeigt deutlich eine Gleichsetzung dieser capitula mit denen seiner Vorgänger [126]. Die Herstellung seiner eigenen Sammlungen von Kapitularien ist auch in diesem Zusammenhang zu verorten. Darüber hinaus finden wir in den ‚Annales Bertiniani‘ von Hinkmar von Reims den Ausdruck „nach dem Beispiel seiner Vorgänger und Vorfahren“ in Bezug auf die Verschriftlichung der Beschlüsse einer Versammlung [127].
Hinter solchen Formulierungen lässt sich der Gedanke vermuten, es als eine traditionelle Praxis zu begreifen, capitula auf einer Versammlung mit einem ‚Konsens‘ von Großen [128] zu erlassen. Daraus lässt sich folgern, dass Karl der Kahle und sein Hof geglaubt haben, dies sei die unveränderte Praxis seit der Zeit Karls des Großen, und aus solchen Verfahren rühre die Sammlung des Ansegis her [129]. Zwar könnte ( und sollte ) man in einem Ausdruck wie „nach dem Beispiel seiner Vorgänger und Vorfahren“ eine bloße rhetorische Formel Karls des Kahlen zur Legitimation seiner Herrschaft sehen [130]; es scheint jedoch sehr wahrscheinlich, dass er und seine Umgebung wirklich der Meinung waren, sie folgten einer traditionellen Praxis.
5. Schluss und Folgerungen
Es wurde herausgearbeitet, dass es unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen keine ‚Bemühung um eine systematische Archivierung der Kapitularien im Hofarchiv‘ gab. Im Gegenteil: Erst der Hof Karls des Kahlen bemühte sich, Kapitularien, die man in seiner Zeit als eine bestimmte Textkategorie betrachtete, systematisch zu erfassen. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass Karl der Kahle und Mitglieder seines Hofkreises die Kapitularien seiner Vorgänger wie seine eigenen Kapitularien als eine bestimmte Textkategorie betrachteten. Es kann nicht genau bestimmt werden, in welchem Ausmaß die von Karl dem Kahlen als Erlasse seiner Vorgänger betrachteten Texte mit den von modernen Forschern als Kapitularien betrachteten Texten übereinstimmen. Sicher ist, dass die in der Sammlung des Ansegis aufgenommenen Texte unter Karl dem Kahlen als Erlasse seiner Vorgänger galten. Karl der Kahle, der die Sammlung des Ansegis intensiv benutzte, bemühte sich, auch seine eigenen Beschlüsse mehr oder weniger systematisch zu verbreiten und zu archivieren. Dies dürfte, neben der Sammlung des Ansegis, auch zur Entstehung der Vorstellung beigetragen haben, die kapitelweise geschriebenen, in Beziehung zu fränkischen Herrschern stehenden Texte, die wir heute als Kapitularien bezeichnen, als eine kohärente Textkategorie zu begreifen.
In der Realität veränderte sich jedoch die Praxis der Schriftlichkeit zwischen der Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen einerseits und der Karls des Kahlen andererseits vollständig. Im Gegensatz zur Zeit Karls des Kahlen gab es unter seinem Großvater keinen Impuls, die künftig von Ansegis in einer Sammlung zusammengestellten Texte als eine Textkategorie zu begreifen, und daher auch keine Bemühungen um eine systematische Archivierung und Verbreitung der Kapitularien. Zwar gibt es unter Ludwig dem Frommen Spuren von Bemühungen um die Archivierung einiger Texte und ihre systematische Verbreitung durch missi dominici, aber dabei handelt es sich nicht um Kapitularien im heutigen Sinn. Erst unter Karl dem Kahlen finden sich bewusste Bemühungen um die systematische Archivierung und Verbreitung seiner eigenen Kapitularien. Es gab somit eine grundlegende Veränderung der Schriftlichkeit zwischen der Zeit Karls des Großen und der Karls des Kahlen, zumindest im Bereich der Kapitularien, weswegen die Kapitularien Karls des Kahlen nicht als bloße Fortsetzung der Praxis unter Karl dem Großen betrachtet werden sollten.
Das Ergebnis ist ein doppeltes: Es gab eine vollständige Veränderung der Schriftpraxis zwischen der Zeit Karls des Großen und der Karls des Kahlen, aber Letzterer glaubte, dass er die Praxis seiner Vorgänger fortsetzte. Andererseits wurde in diesem Kontext bislang nicht behandelt, wie und warum diese Veränderung stattfand. In diesem Zusammenhang ist das Vorhandensein der Sammlung von Ansegis und der als ihre Fortsetzung entstandenen Sammlung von Benedictus Levita beachtenswert, die beide sicherlich als eine Sammlung der Erlasse Karls des Großen und Ludwigs des Frommen erschienen. Darüber hinaus sollte auch die besondere Situation im Westfrankenreich bzw. die Rolle Hinkmars von Reims in Betracht gezogen werden. Er hat sich nicht nur an den meisten Kapitularien Karl des Kahlen, sondern auch an der ‚offiziellen Version der Sammlung von Ansegis‘ und an den Kapitulariensammlungen Karls des Kahlen beteiligt. Überdies verwendete er in den ‚Annales Bertiniani‘ den Ausdruck „nach dem Beispiel seiner Vorgänger und Vorfahren“ mit Bezug auf die Verschriftlichung der Beschlüsse einer Versammlung. Diese Punkte müssen noch weiter analysiert werden; die vorliegende Arbeit hat nur einen kleinen Teil der karolingischen Schriftpraxis behandelt.
© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- The Letters of Gregory the Great and Cassiodorus’ ‘Variae’ *
- Die ‚Scintillae de canonibus uel ordinationibus episcoporum‘
- Piety and Nepotism at Early-Carolingian Freising
- Die sogenannten Kapitularien und ihre Archivierung in der Karolingerzeit *
- Eternity and Prophetic Cognition
- Das ‚Breviarium Erchanberti‘ – der Beginn der St. Galler Historiographie?
- Überlegungen zur frühmittelalterlichen Textilproduktion als Frauenarbeit anhand der Hubenlisten des Lorscher Codex und anderer Polyptycha
- Annulling Inherited Contracts
- Vom Götterstammbaum zur Familie der Könige
- Heilige Frauen ergreifen Partei II
- Mediävistische Wissenschaftsgeschichte
- Knowledge History of the Middle Ages
- Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache
- Orts-, Personen- und Sachregister
- Tafeln
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- The Letters of Gregory the Great and Cassiodorus’ ‘Variae’ *
- Die ‚Scintillae de canonibus uel ordinationibus episcoporum‘
- Piety and Nepotism at Early-Carolingian Freising
- Die sogenannten Kapitularien und ihre Archivierung in der Karolingerzeit *
- Eternity and Prophetic Cognition
- Das ‚Breviarium Erchanberti‘ – der Beginn der St. Galler Historiographie?
- Überlegungen zur frühmittelalterlichen Textilproduktion als Frauenarbeit anhand der Hubenlisten des Lorscher Codex und anderer Polyptycha
- Annulling Inherited Contracts
- Vom Götterstammbaum zur Familie der Könige
- Heilige Frauen ergreifen Partei II
- Mediävistische Wissenschaftsgeschichte
- Knowledge History of the Middle Ages
- Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache
- Orts-, Personen- und Sachregister
- Tafeln