Im Winter 2023/2024 entluden sich auf deutschen Straßen eine Menge Emotionen. Die Ankündigung der „Ampel“-geführten Bundesregierung, die Agrardieselsubventionierung und KfZ-Steuerbefreiung für land- und forstwirtschaftliche Fahrzeuge abzuschaffen, mobilisierte ein breites landwirtschaftliches Spektrum, über politische und Verbändegrenzen hinweg. Die zelebrierte Zusammengehörigkeit und teils wütende Agitation der organisierten Kundgebungen von bäuerlichen Organisationen erhielten enorme mediale und politische Aufmerksamkeit. Dies lässt sich zum einen auf deren disruptive Protestrepertoires und Mobilisierungsdynamiken unter Einsatz von Landmaschinen zurückführen. Zum anderen geriet zunehmend deren – in einigen Teilen zu beobachtende – rechte Schlagseite ins öffentliche Interesse. In manchen Teilen der Protestbewegung kam es zu einer Wiederbelebung der umstrittenen Embleme Pflug und Schwert,[1] gewaltvoller Symbolik (z. B. Ampeln an Galgen), rassistischen Anspielungen bis hin zu gewaltvollen Aktionen wie der Blockade der Fähre des grünen Vizekanzlers Habeck in Schlüttsiel, oder des politischen Aschermittwochs der Grünen in Biberach im Februar 2024. Häufig wurde in diesem Zusammenhang von einer „rechten Unterwanderung“ oder „rechten Vereinnahmung“ der Landwirtschaftsproteste gesprochen. Diese Perspektive ist wichtig, jedoch schafften es rechtspopulistische Akteure so, den Diskurs über landwirtschaftliche Probleme auf ihre Agenda zu verengen. Unklar blieb dabei häufig, was neben dem protestauslösenden Moment der Subventionskürzungen beim Agrardiesel die Intensität und Emotionalität der bäuerlichen Mobilisierung ausgelöst hat. Was waren die darunterliegenden Agenden, Anliegen und Probleme der Teilnehmenden?
Denn bei genauerem Hinsehen stellten die landwirtschaftlichen Proteste eine diverse politische Landschaft dar. Zum einen waren „die Bauernproteste“ intern selbst stark ausdifferenziert: hier mischten sich nun protektionistische mit freihändlerischen und großindustrielle mit traditionalistisch-bäuerlichen Positionen (Fickel/Anderl 2023). Die ehemals konkurrierenden Achsen der „Wir haben es satt“- und der „Wir machen euch satt“-Demonstrationen, die alljährlich im Rahmen der Grünen Woche stattfanden, bildeten zumindest temporär einen seltenen Schulterschluss. Zudem spielten neuere landwirtschaftliche Bewegungen (wie „Land schafft Verbindung“ respektive „Landwirtschaft verbindet Deutschland“ und die „Freien Bauern“) sowie die Mobilisierung des selbsternannten landwirtschaftsfernen „Mittelstands“ eine zunehmende Rolle. Zum anderen demonstrierten teilweise gemeinsam und parallel auch anti-autoritäre und emanzipative Gruppen für ein nachhaltiges und ökologisches Landwirtschaftssystem. Im Protestwinter 2023/2024 überlappten sich diese Positionen teilweise und temporär und machten so eine differenzierte Analyse ihrer Beweggründe und Auslöser schwierig (aber nötig).
Reaktionen auf Transformationsdruck
Die diversen Landwirtschaftsproteste lassen sich dabei als Ausdruck eines immensen Transformationsdrucks in agrarischen Strukturen verstehen. Dieser ist durch eine Vielzahl von Herausforderungen geprägt, wie z. B. Klimawandel, gestiegene gesellschaftliche Erwartungen in Bezug auf veränderte bzw. nachhaltige Bewirtschaftungsformen, Vermeidung von Pflanzenschutzmitteln und Einhaltung von Tierwohl. Nicht zuletzt spielen der landwirtschaftliche Strukturwandel (Höfesterben) und der demografische Wandel eine Rolle (fehlende Hofnachfolge). Damit ist die Fülle an tiefgreifenden Transformationsanforderungen umrissen, mit denen sich auch die gesamte Gesellschaft auf allen Ebenen konfrontiert sieht. Vor allem die ökologischen Gefährdungen und deren Konsequenzen stehen in der Debatte um eine sozial-ökologische Transformation im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzung und (agrar-)politischer Besorgnis (Dörre et al. 2019: VII).
Von diesen ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen sind Landwirt*innen besonders betroffen. Ihnen wird von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit ein radikaler Wandel hin zu nachhaltigem Wirtschaften nahegelegt. Auf diesen Transformationsdruck reagieren die verschiedenen landwirtschaftlichen Milieus mit konkurrierenden Antworten. Mit diesen umkämpften Reaktionen auf einen landwirtschaftlichen Transformationsdruck und den diversen Artikulationsformen beschäftigt sich der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe. Er eröffnet einen differenzierten Blick auf die landwirtschaftlichen Proteste und zeigt deren Ursprünge, Repertoires und politische Artikulationsformen. Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen betrachten die landwirtschaftlichen Proteste der letzten Jahre (ab 2019) in Deutschland aus (agrar-)soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive und präsentieren hier ihre theoretischen und empirischen Erkenntnisse. Die im Themenschwerpunkt veröffentlichten Artikel wurden einem double-blind peer-review Verfahren unterzogen.[2]
Die Beiträge in diesem Themenschwerpunkt
Einen tiefen empirischen Einblick in die Transformationsorientierungen von protestierenden Landwirt*innen der Bauernproteste im Winter 2023/24 gewähren Hajo Holst, Steffen Niehoff und Martin Franz mit ihrer mixed-methods-Studie. Ihre Analyse kommt zu dem Schluss, dass die Proteste von Landwirt*innen, die eine Ökologisierung der Landwirtschaft skeptisch betrachten, dominiert wurden. Sie lehnen eine aktive Rolle des Staates in der Transformation ab, sehen die Gesellschaft von Stadt-Land-Gegensätzen geprägt und fordern einen agrarpolitischen Rollback. Die Autoren konstatieren, dass die Protestwelle 2023/24 von einer konservativen bis rechtspopulistischen Koalition getragen wurde, die sowohl in „klimawandelskeptischer Transformationsopposition“ als auch in „liberaler Bevormundungskritik“ verortet ist. Jene können wiederum nur in ihrer Nähe zum Rechtspopulismus einerseits und in ihrer Verankerung im Konservatismus andererseits verstanden werden.
Birgit Peuker, Renata Motta, Lea Loretta Zentgraf und Judith Müller untersuchten im Januar 2024 die Protestveranstaltungen von „Wir haben es satt“ sowie kontrastierend die Abschlusskundgebung der Aktionswoche, die vor allem vom deutschen Bauernverband (DBV), LSV sowie den Freien Bauern getragen wurden. Es zeigt sich ein komplexer Befund: zwar waren auf beiden Veranstaltungen u. a. Bäuer*innen anzutreffen, die sich dem Milieu eines kleinbäuerlichen, ökologisch orientierten Milieus zuordnen lassen, insgesamt könnten die Unterschiede in den Einstellungen und Forderungen zwischen „Wir haben es satt“ und den Landwirtschaftsprotesten vom Deutschen Bauernverband, Landwirtschaft verbindet Deutschland und den Freien Bauern allerdings kaum größer sein, wie der Beitrag anhand vergleichender Befragungen auf den Demonstrationen herausarbeitet: es zeigt sich ein tendenzieller Gegensatz zwischen kleinbäuerlichem, ökologischem Landbau mit progressiven politischen Einstellungen auf der einen Seite und industrialisierter, konventioneller Produktion mit konservativen bis rechten politischen Haltungen auf der anderen.
Matthias Kussin und Linus Hähner verdeutlichen in ihrer systemtheoretischen Analyse der Mobilisierungen der Bauernproteste, dass es äußerst produktiv ist, über diese selbstgezogenen Grenzziehungen analytisch nachzudenken, wandelten sich jene doch dynamisch über den Verlauf der Demonstrationen. Insbesondere die sich verschiebenden Beziehungen der agrarischen Verbände zueinander sind hier instruktiv und es zeigt sich, „dass der Bauernverband seine stabilisierende Rolle als konkurrenzfreie Repräsentationsmacht nicht mehr in dem Maße ausfüllt, wie es im historischen Rückblick der Fall war“ (Kussin/Hähner in diesem Heft).
Mit der Frage, welche komplexe sozioökonomische, historische und emotionale Konstellation den Bauernprotesten zugrunde liegt, beschäftigt sich der Beitrag von Janna Luisa Pieper. Sie rekonstruiert auf Basis einer Analyse von bundesweit durchgeführten Gruppendiskussionen und ethnografischen Beobachtungen der Proteste die Tiefengeschichte der transformationsaversen (Frauen) in der Landwirtschaft. Dazu arbeitet sie ein Repertoire von Narrativen der Transformationsabwehr heraus und analysiert detailliert die zugrundeliegende vielschichtige Gefühlsstruktur. Davon ausgehend spannt sie einen Bogen über die teils prekären sozioökonomischen Bedingungen und historischen Bezüge der einstigen Bedeutung des „Bauernstandes“, um zu zeigen, wie sich eine ambivalente und teils explosive Gefühlstruktur – zwischen Selbstaufwertung und Ressentiment – formiert. Dabei lassen sich auch Versatzstücke (rechts-)populistischer Narrative aufdecken. Schließlich zeichnet Pieper nach, wie es vom Gefühlskollektiv zur Konstituierung einer (populistischen) Bewegung im Bauernprotestmilieu kommen kann.
Wie populistische Narrative genutzt werden, zeigt auch Ella Isenberg in ihrer Analyse der Reden auf einer zentralen Kundgebung der Landwirtschaftsproteste am 15.01.2024 in Berlin. Die Abgrenzung des guten Selbst („das Volk“, „der Mittelstand“) vom bösen Anderen („die Berliner Politik“, „die Ampel“) erfüllte eine zentrale Funktion in den Reden und kann so teilweise die Kompromisslosigkeit der Proteste erklären. Populistische Grenzziehungen nach außen und damit die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls nach innen spielten eine zentrale Rolle in der Konstituierung, Eskalation und auch im Abklingen der Proteste.
Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe schließt mit dem Beitrag von Christina Dietz und Bettina Engels, die Strategien progressiver Agrarbewegungen für eine emanzipatorische sozial-ökologische Transformation in den Blick nehmen. Wichtig ist ihnen, dass es „die Bauern“ nicht gibt, sondern dass empirisch durchaus Widerstände gegen und Alternativen zu autoritären, antidemokratischen und pro-kapitalistischen Mobilisierungen in ländlichen Räumen existieren. Fraglich bleibt, ob und inwiefern die Wahl der Strategien mit den Akteurskonstellationen und den Vorstellungen von Transformation zusammenhängt. Damit schließen sie an die Debatte um emancipatory rural politics an, die im deutschsprachigen Raum noch in den Kinderschuhen steckt.
Anhand der Erkenntnisse aus den Beiträgen des Themenhefts identifizieren wir folgende zentrale Schlussfolgerungen:
Diversität der Proteste
Die Beiträge des Themenschwerpunkts verdeutlichen, dass die landwirtschaftlichen Proteste der letzten Jahre vielgesichtig sind. Diese Diversität zeigt sich nach außen, etwa durch die unterschiedlichen Protestveranstaltungen, -bewegungen und -vereinigungen wie „Wir haben es satt“ und die im Winter 2023/24 besonders sichtbaren „Bauernproteste“ (hauptsächlich getragen von DBV, LSV und den Freien Bauern); sowie in ihren deutlich unterschiedlichen Protestformen und -repertoires. Die Diversität zeigt sich aber auch intern: Gerade bei der großen Protestwelle 2023/24 waren ganz unterschiedliche Landwirt*innen auf den Straßen, wie die Beiträge von Holst et al und Peuker et al. belegen.
Solche Analysen der internen Diversität und Aushandlung der Landwirtschaftsproteste sind insbesondere deshalb zentral, weil in einigen Teilen der Protestbewegungen die Grenze nach außen so hart und unnachgiebig gezogen wurde. Als Antagonisten wurden wiederholt „die Berliner Politik“, „die Ampel“ und ihre Repräsentant*innen dargestellt, die wieder im Interesse der arbeitenden Bevölkerung handeln müssten. Diese Gegnerschaft gegenüber der Berliner Politik versuchte Christian Lindner auf der Abschlusskundgebung der Aktionswoche des DBV mit einer eigenen Populismuskonstruktion erfolglos zu durchbrechen, wie Ella Isenberg in ihrem Beitrag zeigt. Er baute wiederum eine Gegnerschaft gegenüber Klimaaktivist*innen und Sozialleistungsempfänger*innen auf, um sich selbst als Teil der Protestierenden zu inszenieren. Dass ihm dies misslang, deutet auf ein Spezifikum der „Bauernproteste“ hin, die sich daher nicht nur als Teil eines breiteren Faschisierungstrends subsumieren lassen.
Bedeutung der Gefühlsstruktur der Landwirt*innen
Die starke Mobilisierungskraft der Proteste im Winter 2023/24 lässt sich auch auf einer affektiven Ebene erklären: Die Protestbewegung vermittelte eine ungeheure positive Affizierung unter den Landwirt*innen. Gefühle von Sichtbarkeit, Zugehörigkeit und Selbstaufwertung wurden angesprochen und heraufbeschworen. Es konnte in Teilen eine regelrechte „Eventisierung“ (Pieper in diesem Heft) der Protestkultur beobachtet werden, die letztlich auch zur großen Beliebtheit dieser Veranstaltungen unter den Landwirt*innen geführt haben dürfte – fernab der politischen Ziele und Hintergründe. Doch zugleich basiert die Protestbewegung auf einer deutlich komplexeren Gefühlsstruktur, wie die Beiträge dieses Themenschwerpunkts klar herausarbeiten. Es lässt sich eine ambivalente affektive Dynamik erkennen, die sich „aus sowohl Verlustängsten, Deklassierungsgefühlen und Wut als auch Aspekte(n) der Selbstaufwertung, Überlegenheit und eine(r) Beheimatung in einem affektiven Kollektiv der ‚traditionellen Landwirte‘“ zusammensetzt, wie der Beitrag von Janna Luisa Pieper herausarbeitet. Dieses Konglomerat von Gefühlen gärte seit langer Zeit und brach sich im Protestwinter 23/24 anhand der angekündigten Haushaltskürzungen im Agraretat der „Ampel“-Regierung Bahn. Es ist wesentlich zu verstehen, dass die beiden Interessenkoalitionen („Wir haben es satt“ und DBV/LSV/Freie Bauern) – trotz ihrer massiven Widersprüche – ein ähnliches Maß der Unzufriedenheit artikulieren und mit den Politiken der EU-Kommission und der Bundesregierung unzufrieden sind (Peuker et al. in diesem Heft). Sie fühlen sich unterfinanziert, missverstanden und mangelhaft anerkannt für die Leistungen, die sie für unsere Gesellschaft erbringen.
Reale Dilemmata liegen den Protesten zugrunde und werden seit langer Zeit ignoriert
Diesen Gefühlen liegen reale Dilemmata zugrunde, wie die Beiträge im Themenschwerpunkt dieses Heftes analysieren. Ein solches Dilemma besteht in einem der zentralen Zielkonflikte, die in der Landwirtschaftspolitik der nächsten Jahre ausgehandelt werden müssen: Wie kann Landwirtschaft so gestaltet werden, dass die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach lokal verankerter, sozial verträglicher, agrar-ökologischer und klimaschonender Produktion erfüllt werden und Landwirt*innen in Deutschland dennoch ein angemessenes Auskommen haben und unterstützende Strukturen vorfinden? Es ist nach wie vor frappierend, wie wenig Aufmerksamkeit diese fundamentalen, strukturellen Probleme erhalten. Zwar haben die Landwirtschaftsproteste die Unzufriedenheit für einen kurzen Zeitraum an die Oberfläche der politischen Debatte gespült, aber die komplexen Fragen von nachhaltiger Produktion, der Zielkonflikte Biodiversität, Tierwohl und industrialisierter Massenproduktion sowie generell das zunehmend ungleichwertige Leben in agrarischen und ländlichen Räumen wurden hierbei nur gestreift.
Mangelnde Kritik am Lebensmittelsystem
Es ist bereits eine analytische Einsicht, dass die Auswirkungen des Lebensmittelregimes, also die internationalen Marktstrukturen des Welternährungssystems, insbesondere die Marktmacht großer Konzerne, in der Protestwelle 2023/24 und ihrer medialen Rezeption kaum zur Sprache kamen. Und das, obwohl es in der Agrarökonomie wenig umstritten ist, dass in den strukturellen Widersprüchen des internationalen Lebensmittelregimes die eigentlichen Probleme der Landwirtschaft liegen und jene Probleme durch die exorbitanten Subventionen der EU nur unzulänglich gestopft werden können (Akram-Lodhi 2022, 278; Clapp 2020). Die Ausnahme ist hier die „Wir haben es satt“-Demonstration, die jedes Jahr zum Anlass der Grünen Woche in Berlin durchgeführt wird. Diese Mobilisierung solidarisiert sich mit internationalen Kleinbäuer*innen und plädiert für eine sozial-ökologische Agrarwende, also eine Abkehr der Monokulturen und der Konzentration von Land und Subventionen in den Händen weniger Höfe, die wiederum zu einer ständigen Expansion gezwungen sind.
Dieses internationale System, das durch seine Widersprüche nicht nur den existenziellen Rückgang von Biodiversität und die Unterernährung von Millionen Menschen in armen Ländern, sondern auch das Aussterben kleiner und mittlerer Höfe in Industrienationen zu verantworten hat, war auf den Demonstrationen der „deutschen Bauern“ kaum ein Thema.
Nicht verwunderlich, wenn man die Mobilisierung für die Proteste durch den DBV nicht nur als Reaktion auf reale Probleme der Landwirt*innen, sondern auch als verbandsstrategisches Kalkül interpretiert. Schließlich büßte der DBV, der auch für die Agrarindustrie lobbyiert, durch die Formierung der Protestbewegung „Land schafft Verbindung“ (LsV) 2019 und die anschließenden Proteste an Bedeutung ein (Kussin/Hähner in diesem Heft). Die damaligen Proteste adressierten auch eine „Repräsentationskrise“ (Fickel/Anderl 2024: 185); viele Landwirt*innen fühlten sich durch den DBV nicht mehr vertreten. Bei der anschließend gegründeten Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) verlor der DBV seine bis dahin fast unangefochtene Sprecher*innenposition für „die deutschen Bauern“ und war nunmehr einer von mehreren landwirtschaftlichen Interessenvertretungen. Das Momentum der geplanten Haushaltskürzungen erfasste der DBV sofort und organisierte in kurzer Zeit Proteste – noch bevor konkurrierende Organisationen wie LSV diese nur für sich reklamieren konnten. Somit nutzte der DBV die Proteste 23/24 geschickt, um die eigene verbandspolitische Relevanz zu steigern.
Gretchenfrage nach der Haltung zu sozial-ökologischer Transformation
Die hier vorgestellten empirischen Studien stellen die Gretchenfrage nach der Haltung von Landwirt*innen zur sozial-ökologischen Transformation. Es stellt sich heraus, dass sich die Orientierung hinsichtlich sozial-ökologischer Transformationsprozesse als entscheidender Differenzierungsaspekt identifizieren lässt, anhand dessen auch politische Haltungen abgelesen werden können. Diese Haltungen, die zwischen den Polen Abwehr und Annahme zu verorten sind, polarisieren die unterschiedlichen Protestbewegungen selbst und auch die Landwirt*innen innerhalb der großen Protestwellen. Einige der vorgestellten Studien zeigen, wie sehr transformationsabwehrende Haltungen mit (rechts-)populistischen politischen Orientierungen und einer entsprechenden Parteipräferenz einhergehen (Holst et al. und Peuker et al. in diesem Heft). Mehrere Beiträge dieses Schwerpunkts kommen zu dem Schluss, dass transformationsaverse Orientierungen sich als Teil einer „antimodernen Bewegung“ (Decker & Brähler 2020: 25) einfügen lassen und Anknüpfungspunkte zu rechtspopulistischen Erzählungen bieten (Pieper in diesem Heft; s. a. Isenberg und Kussin/Hähner in diesem Heft).
(Rechts-)populistische Tendenzen
Die Beiträge des Heftes attestierten (rechts-)populistische Tendenzen bestimmter Teile der jüngsten Bauernprotestwelle 2023/24. Kurz gesagt „lässt sich die Protestwelle als eine von einer konservativen bis rechtspopulistischen Koalition getragene agrarpolitisch rückwärtsgewandte, anti-etatistische und anti-urbane Gegenbewegung zur sozial-ökologischen Transformation begreifen“ (Holst et al. in diesem Heft). Diese Erkenntnis deckt sich mit den Erwartungen aus der Kritischen Agrarforschung, die einen spezifisch ländlich autoritären Populismus herausgearbeitet hat (Scoones et al 2021). Dieser ländlich autoritäre Populismus scheint ein annähernd globales Phänomen zu sein. Um ihn in Gänze herzuleiten und seine Gründe zu verstehen, müsste daher der Blick transnational geweitet werden. Denn auch in anderen europäischen Ländern fanden zeitgleich landwirtschaftliche Proteste statt, formierten sich neue (populistische) Bauernprotestbewegungen (van der Ploeg 2020, s. a. Woods 2003)) und diese kooperierten teilweise über Ländergrenzen hinweg miteinander (wie LSV und die niederländische Farmers Defence Force). Denn Landwirtschaftspolitik in europäischen Ländern ist nicht nur national, sondern findet zu großen Teilen auch auf EU-Ebene statt. Gleichzeitig ist der gesamtgesellschaftliche (internationale) Rechtsruck der letzten Jahre bedeutsam, um die Landwirtschaftsproteste 2023/24 in ihrer Unerbittlichkeit und Wirkmächtigkeit zu verstehen.
Wir möchten hervorheben, dass es keinen Automatismus von Existenzängsten und dem Gefühl mangelnder Anerkennung hin zu (Rechts-)populismus gibt. Die Beiträge des Themenschwerpunkts verdeutlichen allerdings, dass transformationsabwehrende Haltungen den Weg zu (rechts-)populistischen affektgeladenen Rhetoriken ebnen. Dabei ist nicht immer klar abzugrenzen, ob und in welchem Umfang rechte Politiken diese Orientierungen und Abwehrnarrative bereits mitgeformt haben.
Wir hoffen, dass dieses Sonderheft einen Beitrag zum Verständnis der Widersprüche, aber auch der Nöte und komplizierten Kontexte der Landwirtschaft leisten kann. Deren Diversität anzuerkennen heißt, landwirtschaftliche Produktion und Politik, aber auch ihre Verortung als ein gesellschaftliches Konfliktfeld zu adressieren, das mit anderen politischen Fragen interagiert und jene prägt. Der reale Transformationsdruck und seine Härten müssen hier genauso ernst genommen werden wie die historischen und aktuellen Bezüge zu autoritären und antidemokratischen Strängen mancher Landwirtschaftsbewegungen. Die aktuelle Artikulation dieser Themen in der letzten Bauernprotestwelle sollte hierfür Anlass genug sein.
Ein Blick in die Rubriken
Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe wird in Literatur-Rubrik in drei Einzelrezensionen aufgegriffen. Zunächst bespricht Katrin Hirte das „Handbook of critical agrarian studies“, welches einen breiten Überblick zu kritischen Ansätzen der Agrarforschung bietet. Diese stellen die Frage nach den landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen in industrialisierten Gesellschaften und rückt damit auch Bauernproteste und -bewegungen in den Blick. Damit bietet das Handbuch einen Blick auf ein in der deutschen Bewegungsforschung – auch im FJSB – oft vernachlässigtes Phänomen, argumentiert die Rezensentin. Noch tiefgehender widmet sich das Buch „Titans of Industrial Agriculture“ von Jennifer Clapp den landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen. Die Autorin zeichnet darin nach, wie einige wenige Konzerne er geschafft haben, die Herstellung von Maschinen, Dünger, Saatgut und Pestiziden zu dominieren. Das Buch „verknüpft auf gewinnbringende Weise die historische Entwicklung der Agrobusiness-Firmen mit den aktuellen Auswirkungen ihrer Machtposition“, urteilt unsere Rezensentin Johanna Fuchs. Mit den Auswirkungen der Auswirkungen entlang rassifizierter Hierarchien beschäftigt sich das Buch „The Natural Border. Bounding Migrant Farmwork to the Black Mediterranean” von Timothy Raeymaekers, das von Johanna Kocks rezensiert wird. Raeymaekers untersucht darin die Ausbeutung Schwarzer Landarbeiter:innen in Italien und deren Einbettung in kapitalistische Produktionsverhältnisse. Die Rezensentin hebt die „enge Verzahnung von Theorie und Empirie“ des Buchs hervor, dass die komplexe Verzahnung von Kapitalismus, Rassismus und staatlicher Autorität enthüllt. Den zweiten Teil der Literatur-Rubrik bilden zwei Einzelrezensionen, die sich aktuellen Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen widmen. Dominika Tronina bespricht das jüngst erschienene Buch „Movement Parties of the Far Right“ von Pietro Castelli Gattinara und Andrea L.P. Pirro. Das Buch analysiert die Organisation und das Handlungsrepertoire von zehn extrem rechte Bewegungsparteien aus neun europäischen Ländern. Damit bietet es „einen theoretisch fundierten und empirisch reichhaltigen Rahmen zur Klassifikation von Bewegungsparteien, der über die extreme Rechte hinaus Anwendungspotenzial hat“, resümiert Tronina. Deutlich theoretischer ausgerichtet ist das Buch „Recht brechen“ von Samira Akbarian, welches von Lena Herbers rezensiert wird und die Rubrik abrundet. Akbarian entwickelt darin eine Theorie des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation, welche als fester Teil eines demokratischen Rechtsstaats begriffen werden sollte. Ihre Theorie bringt die Autorin mit empirischen Beispielen „gewinnbringend“ zusammen, findet die Rezensentin.
In der Aktuellen Analyse zeichnet Ansgar Klein mit einem breiten Pinselstrich die Entwicklungslinien der eng verzahnten Politikfelder der Engagement- und Demokratiepolitik nach und geht auf Meilensteine seit der „Enquete Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ ein. In der Rubrik IPB beobachtet diskutiert Steffen Heinzelmann die Chancen hybrider Kommunikation im Kontext lateinamerikanischer Umweltkonflikte und zeigt, wie diese dazu beitragen kann „Missstände sichtbar zu machen, Netzwerke zu knüpfen, Unterstützung zu mobilisieren, kollektive Identitäten zu stärken und politische Handlungsspielräume zu verteidigen“.

Foto: Janna Luisa Pieper
Literatur
Akram-Lodhi, Haroon 2022: Food regimes and agrarian questions. In: Henry Veltmeyer & Paul Bowles (Hg.): Essential Guide to Critical Development Studies. Routledge, 275–283.10.4324/9781003037187-41Search in Google Scholar
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Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Editorial
- Diversität der Landwirtschaftsproteste in Deutschland
- Aktuelle Analyse
- Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland. Entstehung und Dynamik der jungen Politikfelder der Engagement- und Demokratiepolitik
- Themenschwerpunkt: Landwirtschaftsproteste in Deutschland Umkämpfte Reaktionen auf Transformationsdruck in agrarischen Strukturen
- Rückwärts in die Zukunft – die Landwirtschaftsproteste 2023/24 und das Greening des landwirtschaftlichen Modernisierungspfades
- Konflikte um die Zukunft der Landwirtschaft: Proteste konservativer und progressiver Bewegungen in der sozial-ökologischen Transformation
- Gegen das System, mit dem System: Die Bauernproteste 2023–24 als Ausdruck neuer Konfliktlinien landwirtschaftlicher Verbände in Deutschland
- Landwirtschaft unter Transformationsdruck – Vom Gefühlskollektiv zur (populistischen) Bauernprotestbewegung
- Die Landwirtschaftsproteste und diskursiver Populismus. Wie populistisch waren die Landwirtschaftsproteste 2023/24?
- Reale Utopien in der Landwirtschaft: Strategien progressiver Agrarbewegungen für eine emanzipatorische sozial-ökologische Transformation
- IPB beobachtet
- Hybride Kommunikation als politische Praxis
- Literatur
- Kritische Agrarische Studien (CAS) – Die „Agrarfrage“ neu gestellt
- Lektionen aus der Geschichte der Agrobusiness-Riesen
- Rassifizierung und Landwirtschaft: Migrantische Arbeit im Black Mediterranean
- Bewegungsparteien der extremen Rechten in Europa
- Verfassungsinterpretation als politische Praxis?!
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Editorial
- Diversität der Landwirtschaftsproteste in Deutschland
- Aktuelle Analyse
- Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland. Entstehung und Dynamik der jungen Politikfelder der Engagement- und Demokratiepolitik
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- Konflikte um die Zukunft der Landwirtschaft: Proteste konservativer und progressiver Bewegungen in der sozial-ökologischen Transformation
- Gegen das System, mit dem System: Die Bauernproteste 2023–24 als Ausdruck neuer Konfliktlinien landwirtschaftlicher Verbände in Deutschland
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- Verfassungsinterpretation als politische Praxis?!