Zusammenfassung
Der Beitrag möchte auf einzelne Handlungssequenzen in der deutschen Literaturgeschichte aufmerksam machen, die als Mosaiksteinchen einer mittelhochdeutschen, vorgrimmschen Dornröschen-Tradition lesbar sein könnten. Mit einem diachronen Blick werden epochenspezifische Umbesetzungen und Umakzentuierungen zur Diskussion gestellt. Zugleich legt eine methodische Reflexion über das motivgeschichtliche Einschlägigsein Unsicherheiten und Zweifel offen, was als Dornröschen-Parallele überhaupt gelten darf.
Abstract
This article draws attention to early plot sequences in German literature that it might be possible to read as fragments of a pre-Grimm, Middle High German Sleeping Beauty tradition. A diachronic perspective facilitates discussion of period-specific reconfigurations and reaccentuations. At the same time, methodological reflection on the problem of determining relevance when retracing the history of motifs leaves room for uncertainty and question marks over what really counts as a Sleeping Beauty parallel in the first place.
1 Einleitung
„[S]o gut wie nichts zu gewinnen“ sei aus der deutschen Überlieferung bezüglich der Stoffgeschichte Dornröschens,[1] resümiert die neuere Forschung schulterzuckend; es seien alle Versuche misslungen, „die deutsche Dornröschen-Version von zwei französischen Fassungen des späten 17. Jahrhunderts abzukoppeln und damit sozusagen einen genuin deutschen Überlieferungsstrang an den beiden französisierten Druckfassungen vorbei erweisbar zu machen“.[2] An diesem wissenschafts- und forschungsgeschichtlich so bemerkenswerten Geständnis eines Scheiterns, an diesem entschlossenen Gestus, eine unproduktive und vielleicht auch ein Stück weit unzeitgemäß gewordene Diskussion abzuschließen, möchte der vorliegende Beitrag ansetzen und auf einen Text des deutschen Mittelalters aufmerksam machen, der die abgeschlossene – zugeknallte und verriegelte, würde man fast sagen – Diskussion einen Spaltbreit wieder öffnen könnte: die anonyme Feenerzählung Die Königin vom Brennenden See. Es ist nicht ganz ungefährlich, einmal verabschiedete Themen zurückzurufen, aber es will mir scheinen, dass dieses Mosaiksteinchen einer vorgrimmschen Dornröschen-Tradition trotz aller methodischen Risiken nachgetragen zu werden verdient.
Es geht dabei nicht – das sei vorab deutlich gesagt – um die Entdeckung und Zelebrierung von Ursprüngen zur triumphalen Selbstvergewisserung einzelner nationaler Literaturen im Agon der Frühdatierungen. Es interessieren vielmehr in der vormodernen Literatur vagierende Märchenmotive, die im Mittelalter, oft einzeln, die Membrane verschiedener Texte passierten und vor der Festschreibung durch die französische Aufklärung und die deutsche Romantik weniger stabil und variationsoffener waren. Leitend ist demnach eine zweifache Neugier, die Zielsetzung ist in sich gedoppelt: Zum einen wird im Dienste der Erzählforschung ein Proto-Dornröschen oder ein Dornröschen im Plusquamperfekt – so ließe sich vielleicht diese Vorstufe nennen – zur Diskussion gestellt, zum anderen wird die für die Mediävistik relevante Frage nach der Märchenaffinität von mittelhochdeutschen Texten wieder berührt.
Abschnitt 2 ruft die Ergebnisse in Erinnerung, wie Dornröschens Trajektorie im europäischen Erzählen bisher nachgezeichnet wurde. Abschnitt 3 legt am Beispiel von Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer einige methodische Dilemmata offen, unter welchen Voraussetzungen man eine epische Handlungssequenz als Dornröschen-Spur, als bekanntzumachendes schlummerndes Vergangenheitssegment aus Dornröschens Vita überhaupt klassifizieren darf. Abschnitt 4 stellt den Zentraltext, die jenseits des Scheinwerferlichtes des mediävistischen Kanons stehende Königin vom Brennenden See mit ihren literaturgeschichtlichen und inhaltlichen Grundkoordinaten vor. Der letzte Abschnitt bündelt exemplarische Überlegungen, wie dieses Vorwissen unser Dornröschen-Verständnis bereichern kann. Insofern ist das Ziel des vorliegenden Beitrages, so die methodische Standortbestimmung, deutlich bescheidener als in der jüngeren und jüngsten quellenorientierten Märchenforschung, die sich nicht nur gegen das „Grimm’sche Oralitätsaxiom“[3] auflehnt, sondern auch die zeitliche Priorität des Märchens im Falle von Motivübereinstimmungen mit der Schriftliteratur verneint und die Syntax der Einflussnahme, wer wen beeinflusst hat, umdefiniert. In diesem Sinne versuchte Maren Clausen-Stolzenburg, ausgehend von Eilharts von Oberg Tristrant, Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat und Konrads von Würzburg Trojanerkrieg zu zeigen, wie bestimmte „Erzählketten“ in einer Abfolge literaturgeschichtlich fixierbarer Stationen in Grimms Werk angekommen sind;[4] Simone Loleit zeichnete unmittelbare Märchengenesen aus frühneuzeitlichen Nicht-Märchen nach.[5] Insbesondere Lothar Bluhm setzte sich in zahlreichen Aufsätzen und zuletzt auch monographisch synthetisiert für „eine Praxis des ‚palimpsestuösen Lesens‘ von Märchen“ ein, die „Literatur aus Literatur“ oder sogar „Literatur aus Literatur aus Literatur“ darstellen und ihr „literarisches Erbe mehr oder minder verdeckt mit sich führ[en]“.[6] So legte Bluhm mehrere – graduell differenzierte, von wörtlich übernommenen bis intensiv überarbeitete – Vorlagen der Brüder Grimm offen und kartographierte Grimms Textkenntnisse anhand von erhaltenen Exzerpten, nachweisbaren Bänden in ihrer Bibliothek, sonstigen wissenschaftlichen Publikationen oder Erwähnungen konkreter Werke im Briefwechsel. Demgegenüber geht es im vorliegenden Rahmen nicht darum, ob die Brüder Grimm Die Königin vom Brennenden See in irgendeiner Form kannten; eingenommen wird die Perspektive eines heutigen, der Diachronie gewogenen, aber der linearen Teleologie abgeneigten Interpreten.
2 Rückblick auf die Forschungsdiskussion: Hervorstechende Ergebnisse
Die Stationen von Dornröschen lassen sich nach Konsens der Märchenforschung folgendermaßen angeben:[7] Die Brüder Grimm haben KHM 50 Dornröschen von Perraults La Belle au bois dormant von 1697 übernommen,[8] Perrault wurde seinerseits von einem zweifachen Vorbild inspiriert,[9] zum einen von der mittelalterlichen Geschichte über Troylus und Zellandine im altfranzösischen Perceforest, zum anderen von der neapolitanischen barocken Version dieser Geschichte in Giambattista Basiles[10] Pentamerone. Der Perceforest,[11] um 1340 in Frankreich in Prosa verfasst, vollständig gedruckt 1460 und anonym überliefert, ist einer der längsten mittelalterlichen Romane in Europa überhaupt und eine Fundgrube für die Erzählforschung aufgrund „der Fülle der in ihm enthaltenen Märchentypen und -motive“.[12] Es handelt sich um ein Monument der epischen Extensivität, um einen ambitionierten Versuch, die Vorgeschichte der Artuswelt zu erzählen, also einen vor-arthurischen und vor-christlichen Kosmos zu schildern, der die berühmten Artusromane ‚zurückspult‘, als Britannien in zahlreichen beinahe periodischen Höhen und Tiefen erst einmal erobert werden musste und es galt, die Stammlinien illustrer Artusritter zu eröffnen. In der literaturgeschichtlichen Wirklichkeit nach den mittelalterlichen ‚Klassikern‘ verfasst und lange als epigonale Makulatur abqualifiziert sowie abwertend den „secondhand ‚Arthuriana‘“[13] zugerechnet, ist der Perceforest in der Chronologie der erzählten arthurischen Welt vor den kanonischen Romanen zu verorten, sodass das außerliterarische Danach ein innerliterarisches Davor darstellt. Hierbei macht die interessierende Liebesgeschichte von Troylus und Zellandine nur einen Bruchteil aller Figuren und Handlungsstränge aus, erscheint nur als eine Mäandre in der Architektur des Großromans. Sie wird auch nicht in einem Atemzug erzählt, sondern zieht sich über viele Kapitel hin, mit zahlreichen Unterbrechungen, Digressionen und Schauplatzwechseln unter dem Signum des entrelacement.[14]
Zu Beginn ist Troylus ein tapferer Ritter, der verzweifelt versucht, sich zu verlieben: Von seinen Männerfreunden und Kampfkollegen aufgrund der fehlenden Liebschaft verspottet und abgewiesen, legt der Unerfahrene eine befremdlich invertierte Logik an den Tag. Ausgehend von der topischen Situation der Artusepik, dass ein verliebter Ritter durch den Anblick oder den Gedanken an die Geliebte an Stärke gewinnen und besser kämpfen kann, will Troylus unbedingt eine Dame finden, um durch entsprechende Blicke oder Phantasien seine Rittererfolge und Kampfleistungen aufzubessern. Es zeichnet sich also eine sehr eigentümliche Lesart des ohnehin verwickelten Verhältnisses zwischen Liebe und Rittertum ab: Statt unermüdlich Aventiuren zu meistern, um der Liebe würdig zu werden, will Troylus lieben, um ritterliche Herausforderungen erfolgreicher zu bewältigen. Umso erleichterter ist er, als ein junger Ritter namens Zellandin ihm seine Schwester Zellandine vorstellt und es ihm gelingt, sich in sie zu verlieben. Allerdings ist das Glück nicht von Dauer, denn Zellandine wird nach der Krönung von Perceforest, zu der alle Vornehmen eingeladen waren, heimgeschickt, woraufhin der liebeskranke Troylus aussegelt, um sie in den Niederlanden (Zelland) zu suchen. Nach einer gefährlichen Meerüberfahrt und der ersten, humoristisch gebrochenen Begegnung mit dem Phänomen von Flut und Ebbe, die ihn sogar auf einen Baum schleudern, erfährt er von der rätselhaften Krankheit, die Zellandine in der Zwischenzeit befallen hat: Sie ist in einen tiefen Schlaf versunken. Nach einer Wahnsinnsepisode, in der die Mutter seines Rivalen, der ebenfalls Zellandine liebt, ihm mit Zaubermitteln den Verstand geraubt hat, sowie nach demütigendem Narrendasein am Hof in Zelland wird er bei einem Nickerchen im Venus-Tempel von der Liebesgöttin höchstpersönlich unterwiesen, wo sich Zellandine befindet und wie er sie heilen kann. Im Rahmen einer interessanten Verschachtelung des Schlafmotivs erfährt also der Held im Schlaf, wie die Geliebte vom Schlaf zu erlösen ist.
Mithilfe eines Riesenvogels, der ornithologischen Gestalt des Dämons Zephir[15] als Personifikation der Genealogie im Perceforest, der bravouröse Ritter mit vornehmsten Damen verkuppelt, um die Geburt exzellenter Helden zu fördern, wird Troylus in den Turm gebracht, in dem Zellandine nackt schläft. Entflammt in Leidenschaft, nach einer minnekasuistischen Disputation mit Frau Vernunft und Frau Lust, gewinnen die Einflüsterungen der Letzteren die Oberhand – und er lebt sein Begehren an der schlafenden Frau aus.[16] Trotz des allegorischen Streitgesprächs, mit einem parodistischen Unterton: „Eros, not amour courtois dominates the story.“[17] Rechtzeitig vor der Entdeckung wird Troylus von Zephir abgeholt. In sehr raffinierten, kleindosierten Analepsen erfährt der Rezipient Zellandines Diagnose: Am Tag vor ihrer Geburt hatte eine gekränkte Fee geweissagt, dass sie sich an einer Faser verletzen wird, wobei von einer anderen, wohlgesonnenen Fee dieses Todesurteil im letzten Moment zur nichtletalen Schlafverdammnis abgeschwächt werden konnte. Während ebendieser hypertrophen Schlafversunkenheit, infolge von Troylus’ erotischer Ekstase, empfängt und gebiert die ahnungslose Zellandine ein Kind,[18] das einmal aus Versehen an ihrem Finger statt an ihrer Brust saugt – und die unheilvolle Faser herauszieht.
Zellandine erwacht und kann sich nicht erklären, wieso sie den Übergang von Jungfrau zu Frau und von Frau zu Mutter verschlafen hat; ihr Vater und ihre Tante trösten sich hingegen mit dem Glauben, dass Mars, dem man die Heilung des Mädchens anvertraut hatte, es höchstpersönlich geschwängert haben muss, und deuten diese vermeintliche göttliche Zuwendung als erfreuliches Privileg der eigenen Familie. Wie in einem Puppentheater zieht Zephir abermals die Fäden und entführt den Neugeborenen, den die Fee Morgane aufziehen soll. Zellandine steht ihrerseits kurz vor einer ungewollten Eheschließung, die ihr Vater arrangiert hat, als Troylus wieder auftaucht, sie über die verschlafenen Vorgänge aufklärt und entführt. Am Königshof des Perceforest findet mit der Erlaubnis ihres Bruders Zellandin die Hochzeit statt und somit wird das epische Päckchen vorerst mit einem Happyend eilends zugeschnürt.[19]
Schon bei dieser komprimierten Handlungssynopse lassen sich gravierende Unterschiede zwischen Grimm und Perrault auf der einen und dem mittelalterlichen Prätext auf der anderen Seite feststellen, die die Forschung gründlich aufgearbeitet hat. Unübersehbar ist beispielsweise der Perspektivenwechsel: Nicht die schlafende Schöne, sondern ihr Erlöser steht hier im Zentrum der Geschehnisse, wobei im Zuge dieser männlichen Dominanz die Erweckung einer Frau aus dem Zauberschlaf nur eine von vielen Stationen im ritterlichen Curriculum bzw. in Troylus’ Jugendgeschichte darstellt, eine Aventiure unter mehreren, der dementsprechend zahlreiche Ereignisse wie Meerüberfahrt, Flutgefahr, induzierter Status- und Identitätsverlust nicht nur als bloßes Präludium, sondern als gleichwertige Bewährungsproben vorausgehen.[20] Dass die verzauberte Frau und der ‚Reanimationsprinz‘ sich von früher kennen und die märchenhafte tabula rasa-Eheschließung nach dem Erwachen, vom Bett zum Altar, somit wegfällt, wurde mehrfach diskutiert, ebenso wie der genealogische Bezug zu Lancelot: Da Benuic, der im Schlaf empfangene Sohn, als Vorfahr von Lancelot figuriert, steht die Geschichte von Troylus und Zellandine im Dienste eines größeren Projektes, durch ungewöhnliche Zeugung und Erziehung – bekanntlich Konstituenten der Vita eines werdenden Helden –[21] nicht nur Lancelot, sondern im Sinne eines infiniten Regresses auch seine Ahnengalerie zu nobilitieren.
Aus dieser Perspektive lesen sich die Geschehnisse um die schlafende Schöne im Perceforest also als narrative Vorsorge, auf die Konstruktion der Lancelotfigur von langer Hand hinzuarbeiten;[22] man kann beispielsweise kaum umhin, Benuics enfance bei der Fee Morgane als Präfiguration von Lancelots Aufwachsen bei der Frau vom See zu erkennen. Weniger Aufmerksamkeit gefunden – vor allem aufgrund des monströsen Umfangs des Romans – hat hingegen das dichte Verweisnetz, in das die Geschichte von Troylus und Zellandine eingebunden ist. Paradigmatisch verknüpft ist sie mit zahlreichen anderen Episoden, in denen Männer immer wieder in das Dilemma geraten, ob sie schlafenden Frauen beiliegen sollen[23] – eine Problematik, die im Kontext des Romans umso relevanter ausfällt, als die Hauptvoraussetzung für die Entwicklung des ritterlichen Ethos das von Perceforest verhängte Vergewaltigungsverbot ist, sodass der Text die Kriminalisierung der Vergewaltigung geradezu als Aitiologie der Kultur inszeniert, nicht einvernehmliche sexuelle Aktivitäten umgekehrt als Rückfall in einen vorzivilisatorischen Zustand.[24] Somit partizipiert Zellandines Zauberschlaf an einer leitmotivischen Konfliktkonstellation, die im späteren Märchen von Perrault und Grimm überhaupt keine Rolle spielt; einen Großteil des Proto-Dornröschens macht also eine sexualethische Diskussion aus, die in den kanonischen europäischen Märchenversionen ersatzlos fehlt.[25]
Nur halbherzig und lapidar haben die Brüder Grimm den französischen Ursprung des Märchens notiert, das ihnen die damals knapp 20-jährige, mütterlicherseits aus Frankreich stammende und mit Perraults Contes de ma mère l’Oye aufgewachsene Marie Hassenpflug[26] beigesteuert hatte: „Dies scheint gz ,lies: ganz oder gezogen‘ aus Perrault’s Belle au bois dormant.“[27] Vielmehr versuchten sie auf Biegen und Brechen, eine germanische ἀρχή des Märchens nachzuweisen, wofür Das Sigrdrifalied[28] aus der Edda herhalten musste:
Die Jungfrau die in dem von einem Dornenwall umgebenen Schloß schläft, bis sie der rechte Königssohn erlöst, vor dem die Dornen weichen, ist die schlafende Brunhild nach der altnordischen Sage, die ein Flammenwall umgibt, den auch nur Sigurd allein durchdringen kann, der sie aufweckt. Die Spindel woran sie sich sticht und wovon sie entschläft, ist der Schlafdorn, womit Othin die Brunhild sticht.[29]
Diese rückwärtsgewandte forensische Suche nach Motivresponsionen als „Splitter des ja nicht schriftlich überlieferten germanischen Mythos“[30] wurde als allgemeine Prämisse in der Vorrede zum zweiten Band der Kinder- und Hausmärchen von 1815 festgeschrieben:
Der innere gehaltige Werth dieser Märchen ist in der That hoch zu schätzen, sie geben auf unsere uralte Heldendichtung ein neues und solches Licht, wie man sich nirgendsher sonst könnte zu Wege bringen. […] In diesen Volks-Märchen liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren gehalten.[31]
Allerdings gilt dieses quellenkritische Manöver heute als gescheitert[32] und die These ist unter den ihr auf- und angelasteten schwerwiegenden Gegenargumenten zusammengebrochen – etwa dass Brünhild sich mit dem Schlafdorn nicht selbst sticht, sondern dass es sich dabei um eine Strafe von göttlicher Seite für ihren Ungehorsam handelt. Des Weiteren gehen die Walküre und der Erlöser gerade keine Liebesbeziehung ein, nachdem dieser die Waberlohe – schwankend zwischen Feuerzaun und Schildkette – durchdrungen und mit seinem Schwert die Brünne der Schlafenden, als Erweckungsoperation, aufgeschnitten hat; stattdessen rezitiert die muntere Brünhild strophenlang arkane Weisheiten.[33] Unabhängig von allen inhaltlichen Einwänden ist die Bedeutung des Sigrdrifalied-Arguments für die Textgeschichte der KHM unbestreitbar: Der erkannte Nexus zur nationalen Erzähltradition trotz geringer Abweichungen von Perrault war für Dornröschen lebensrettend. Während etwa Der gestiefelte Kater oder Blaubart in der zweiten Auflage von 1819 aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von der französischen Überlieferung ausgeschieden wurden, konnte KHM 50 Dornröschen dem Schicksal der Tilgungsopfer entrinnen und seinen Platz in der Sammlung behalten.
Kaum zur Kenntnis genommen hat die Forschung hingegen eine Parallele, die zu einem fernen stoffgeschichtlichen Verwandten Sigurds gezogen wurde: Seifried de Ardemont.[34] Diesem Text wurde in zweierlei Hinsicht ein unglückliches Schicksal beschieden. Zum einen gehört er zur „Literaturgeschichte des Nichtüberlieferten“,[35] indem er dem Dichter Albrecht von Scharfenberg zugeschrieben wird, uns aber nur in der späteren Bearbeitung Ulrich Füetrers vorliegt. Zum anderen wird er von einem neuzeitlichen Paratext in den Schatten gestellt: Während Panzers Begriff und Definition der gestörten Mahrtenehe, die dieser in der Einleitung zur Seifried-Ausgabe 1902 formuliert hat, in keinem altgermanistischen Beitrag zu Feenerzählungen fehlen,[36] blieb der Seifried-Text selbst weitestgehend unbeachtet, sodass der abtrünnige Paratext unabhängig von ihm rezipiert wurde. Dieser Seifried stößt auf eine Dornenhecke, bevor er die Wiese Mundirosas, seiner künftigen Feengeliebten, betreten darf:
Secht, all sunst tag vil menngen | verirrt si paide [Seifried und Waldin] riten, | durch stawden, in gedrenngen, | von scharffen doren si vil arbait liten. (BdA II [wie Anm. 34] 3605,1–4)
Sy sahen über die hayde | ain perg an massen hoch. | dar riten dy hellden baide. | ain willd gehag gedürnt sich darumb zoch, | dar was et weder strass noch weg nicht gende. (BdA II, 3615,1–5)
Eben diese Dornenhecke ist der Forschung als Dornröschen-Sigle ins Auge gestochen. Reinhold Spiller, der 1883 seine Studien über Albrecht von Scharfenberg und Ulrich Füetrer publiziert hatte, stellte in einer Abhandlung Zur Geschichte des Märchens vom Dornröschen 1893 fest:
Auf dem Dornröschenmärchen beruht ferner eine kleine Episode des Artusromans Seifried de Ardemont, wo beschrieben wird, wie Seifried mit Waldin einen hohen, von einem Dornhag umgebenen Berg übersteigend zu einer blühenden Heide kommt, auf welcher ihm die von Rittern und Damen begleitete jungfräuliche Königin Mundirosa entgegenreitet […].[37]
Friedrich Panzer, der 1947 die erste kritische Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen veröffentlichen wird, schrieb bereits 1902 in der Einleitung zu seiner Seifried de Ardemont-Edition:
In unserem Epos haben wir erst die brennende Heide, dann den Dornenhag, letzteres gewiss eine Entlehnung aus dem Typus Dornröschen, die Albrecht wohl schon in seiner Quelle gefunden hat. Und auch der Name der Elbin in Seifried, Mundirosa, stammt jedenfalls von der gleichen Seite.[38]
Es ist vor allem deswegen bedauerlich, dass diese Überlegungen nicht weiterverfolgt wurden[39] und den Vorbehalten gegen die verrufene Quellenjagd der älteren Forschung zum Opfer gefallen sind, weil sie auch zu anderen potentiellen Parallelen führen können – und, noch grundsätzlicher, den Blick für einige methodische Dilemmata der Motivarchäologie schärfen.
3 Heuristik: Der Stachel des Zweifels
Seifried de Ardemont ist, in der uns vorliegenden Form, kein völlig eigenständiger Text, sondern stellt seinerseits einen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen dar: dem zweiten Teil von Füetrers Buch der Abenteuer als Molekül aus mehreren Texten. Daher blitzt die Frage auf – das wäre der Folgedenkschritt –, ob nicht auch dieses größere Ganze zu Dornröschens vorgrimmscher Vergangenheit etwas beizutragen hätte. Beim Buch der Abenteuer handelt es sich um eine „Anthologie der Artus-Gral-Erzählungen“,[40] um ein monumentales Retextualisierungsprojekt, um einen epischen Folianten, der, gegen Ende des 15. Jahrhunderts am Münchner Hof entstanden, in 11 655 formalästhetisch anspruchsvollen Titurelstrophen und in einem bereits archaisch gewordenen klassischen Mittelhochdeutsch eine Synopse der vorgängigen literarischen Tradition bzw. eine Summe der Ritterschaft bot.[41] Dreigliedrig angelegt, widmet dieses spätmittelalterliche Ungetüm seinen ersten Teil dem Jüngeren Titurel, in den Konrads Trojanerkrieg, der Parzival, die Crône und der Lohengrin inseriert sind, während den dritten Teil ein strophischer Lannzilet nach dem eschatologisch orientierten Vorbild des Prosa-Lancelot ausmacht. Das hier interessierende ander buoch stellt hingegen eine „kompositorische Alternative“ zu den beiden syntagmatisch und teleologisch organisierten umrahmenden Teilen dar[42] und enthält neben dem Seifried de Ardemont noch sechs[43] Einzelromane: Wigoleis nach Wirnts Wigalois, Melerans nach Pleiers Meleranz, Iban nach Hartmanns Iwein, sowie Persibein, Poytislier und Flordimar ohne Autornennung und ohne bekannte Vorlage.
Lange in Einzelausgaben zerstückelt, liefert dieses „ungeliebte zweite Buch“[44] ein forschungsgeschichtliches Paradebeispiel dafür, wie die Edition Vorurteil und Befangenheit heraufbeschwören und somit die literaturwissenschaftliche Interpretation steuern kann, sodass über viele Jahrzehnte hinweg jeder der sieben Artusromane als Solitär betrachtet wurde und die interpretatorische Erschließung in separate Mikrountersuchungen ausfranste. Es zeigt sich auch umgekehrt, wie die fortlaufende Strophenzählung in der erst 1997 erschienenen Gesamtausgabe als scheinbar hermeneutisch impotentes Kriterium die Untersuchung von Kohärenz, Serialität und paradigmatischen Verbindungen anzuregen vermochte.[45] Nachdem Bastert die Zusammengehörigkeit zwischen Buch I und Buch II durch eine genealogische Paspel, dass jeder Titelheld der Romane des zweiten Buches an Artus angesippt wird, endgültig nachgewiesen hatte,[46] erkannte Raumann einen Nexus, der die Binnenromane untereinander zusammenhält: das Erzählmuster der gestörten Mahrtenehe.[47] Der zweite Teil vom Buch der Abenteuer lässt sich tatsächlich als Labor für Feenerzählungen ansehen; es ist eine epische Welt, die von potentiellen Feengeliebten geradezu überbevölkert ist und in der an allen Ecken und Enden der Handlung dem menschlichen Helden die (freilich nicht immer ergriffene) Möglichkeit gegeben wird, eine Mahrtenehe einzugehen.[48]
Neben dieser makrostrukturellen Handlungsrezeptur teilen sich die Binnenromane auf der Mikroebene auch wiederverwendbare, ‚gemeinnützige‘ Mehrweg-Motive im Sinne von Leuchttürmen der Kohärenzstiftung.[49] Bereits Kurt Nyholm konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Füetrer hätte „die von ihm benutzten Epen in Bezug auf Motive ganz einfach verzettelt und geordnet“.[50] Eine systematische Aufarbeitung steht noch aus und wäre in der Füetrer-Forschung zu leisten. In diesem Rahmen kann ich im Einklang mit dem vorliegenden Erkenntnisinteresse nur die scharfen Spitzen zusammentragen, die unheilvollen Stiche und die zerstochenen Liebesbeziehungen. Tatsächlich scheint es mir sinnvoll, die Aufmerksamkeit auf erzählte Stichunfälle zu richten, die die Texte auf Dornröschen hin öffnen – als Alternativvorschlag zu Maren Clausen-Stolzenburgs Ansatz, die in einem anderen Handlungswinkel nach vormodernen Parallelen suchte und in der trotz aller ergriffenen Maßnahmen sich erfüllenden Prophezeiung anlässlich der Geburt des Kindes eine Entsprechung zwischen KHM 50 und Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat behauptete.[51] Einschlägig ist in diesem Sinne vor allem der Persibein, einer der drei herrenlosen Romane ohne Autorsignatur im zweiten Buch der Abenteuer, bei dem man „wegen des sehr kumulativen Vorgehens im Bereich der Motive und Strukturen“ die Möglichkeit erwogen hat, dass er von Füetrer selbst stammen könnte.[52] Der Titelheld stürzt an einer Stelle in eine parodistisch angelegte Szene hinein – seine Frau Blubena[53] tritt mit dem Fuß auf einen Dorn und beginnt zu bluten; der gefürchtete Held wird beim Anblick der Blutspuren selbst von Furcht überwältigt und fällt in Ohnmacht:
nw hört, wie dy geherte | von aim doren scharff da kam zw not, | daran si trat mit zarten fúeßlein claine. | des ward ir spor nach plúet gefar, | auch liess zerzerrt si vallen ain reißlein raine. ‖ Diss vannd der valsches plosse, | da pey plúet var ir schla. | durch rew mit iamer grosse | hiet er sich selb vil nach verderbet da | (er dacht, das im sein fraw da wär erstorben): | in unmacht saig er zu der erd | unnd was von hertzen laid auch schier verdorben. (BdA II [wie Anm. 34] 4839,3–4840,7)
Interessanterweise wird Persibein im Laufe der Handlung noch einmal mit einer stacheligen Herausforderung konfrontiert und schneidet dann deutlich besser ab. Seine Schlussaventiure besteht nämlich darin, die Fee Engiselor aus einem Lähmungszauber[54] zu befreien, den ihr Widersacher Wagold durch eine Spange bewirkt hatte. Persibein bewährt sich bravourös als Spangenzerschmetterer:
Enmitten saß dy klare | geleich dem zartten enngel, | mit raid, weit, golld farbem hare, | ir wat geziert mit menngem golldes stenngel. | si entpfieng den hellden mit schönen wortten súessen: | ‚o wol mir! ewer sällden kunfft, | ia, ob ir wellt, mag mir vil traurens púessen!‘ ‖ ‚Fraw, was euch frewden pfenndet, | das wirt euch, ob ich mag, | vil schier von mir gewenndet! | ewer schwär ist gar meiner frewden schlag!‘ | si sprach: ‚werfft weg das fürspan, das hie liget! | des zawber mich sunst pinndet, | das trawren het mein frewden obgesiget.‘ ‖ Vil schnell ers dannen zucket, | warff es so auf das lannd, | das es lag klain zerstucket. | hie mit entschlossen ward des zawbers pannd. | sy sprach: ‚got hallt euch, herr, ich múeß et hynnen; | von schulld ich holldes hertz euch trag, | des pring ich euch, ob ich das mag, noch innen!‘ ‖ Sunst fúr si all zw hannde, | hin, er enwesste, wo. (BdA II, 4899,1–4902,2)
Die paradigmatische Verbindung wird durch eine gemeinsame, in beiden Episoden auftretende Figur zusätzlich unterstrichen: Kurie, die Schwiegermutter der verzauberten Fee, die Persibein um Hilfe bittet, ist dieselbe, die ihn über den Irrtum aufgeklärt und Blubena mit verletztem Fuß, aber lebend gefunden hatte.
Gleichwohl trüben nicht zu ignorierende Bedenken die Freude über solche aufgespürten Textbelege bei Füetrer – Einschlägigkeit ist in der Literaturwissenschaft nicht messbar oder quantifizierbar und es kann doch nicht sein, dass jedes einer weiblichen Figur zugeordnete stachelige Requisit gleich als bestechende Dornröschen-Spur gefeiert wird. Ich möchte einige Fragen ins Rollen bringen. Eindeutige Antworten sind nicht zu erwarten, es geht eher um ein Protokoll von Unsicherheiten und Zweifeln. Angefangen sei mit der Problematik der Doppelcodierung des Stacheligen in KHM 50, die für die Beurteilung des Seifried de Ardemont von Relevanz sein könnte. Bekanntlich stellt in Grimms Dornröschen eine scharfe Spitze im Singular (Spindel) zum Zeitpunkt t1 das die Frau verwundende und die Katastrophe herbeiführende Mittel dar, während andere scharfe Spitzen im Plural (Dornen) zum Zeitpunkt t2 die bereits verwundete Frau als Schutzhülle vor Männern bewahren und wiederum die männlichen Eindringlinge verwunden. Letzteres haben die Brüder Grimm im Sinne der Kontrastbildung akribisch ausgemalt – das Vegetabile[55] als das einzig Wachsende, Lebenstrotzende und Aktive gibt einen eindrücklichen Kontrapunkt zum kollektiven Zauberschlaf ab:
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.[56]
Im Seifried de Ardemont findet sich das Stachelige dagegen in einzelner Ausfertigung – eine Dornenhecke als Zugangsrestriktion (kombiniert mit einer Feuerkulisse), die unqualifizierte Freier abwehrt. Aber reicht nur die eine Hälfte, um von einer Dornröschen-Spur zu sprechen? Sind die Stachel völlig gleichranging oder besteht eine Hierarchie der Stiche? Ist nicht der unheilvolle Stich in den weiblichen Körper intuitiv als Mehr-Dornröschen erkennbar als die schützende Dornenhecke, die sich gegen männliche Körper richtet?[57] Oder legt der Name der Protagonistin, in den die Rosendornen immerhin eingeschrieben sind, gerade die Priorität der Dornenhecke nahe? Auf den ersten Blick verbietet die Textgeschichte, den Namen als Argument zu belasten, kommt er doch in der aufgezeichneten Urfassung (also in der Ölenberger Handschrift von 1810) gar nicht vor, sondern wurde erst nachträglich eingefügt.[58] Auf den zweiten Blick zeigt sich ein onomastisches Vexierspiel, das diese textgeschichtliche Gewissheit erschüttert, indem sich ‚Mundirosa‘ (so heißt die hinter der Dornenhecke gehütete Feengeliebte des Titelhelden) im Seifried de Ardemont, alias Rosamundi/Rosy Munda (so die Variante ihres Namens in der Kapitelüberschrift vor BdA II, 3615), ‚Dornröschen‘ als beunruhigend ähnlich entlarvt.
Die Verunsicherung wird durch den Befund zusätzlich erhöht, dass in einer englischen Übersetzung des 19. Jahrhunderts Grimms ‚Dornröschen‘ mit ‚Rosamond‘ übersetzt wurde.[59] Ist vor diesem Hintergrund die kanonische These überhaupt noch haltbar, dass Grimm den Namen einem (thematisch völlig anders ausgerichteten) Märchen des Grafen Antoine Hamilton aus der Blauen Bibliothek von 1790 entnommen haben?[60] Können der Figurenname und die Dornenhecke im Seifried de Ardemont mit vereinten Kräften in den Augen bzw. in den Armen des Motivfahnders, des Motivjägers, des Motivarchäologen die Abwesenheit der weiblichen Stechwunde aufwiegen?
Eine weibliche Stechwunde ist im ersten Persibein-Beispiel mit Blubenas Fehl-Tritt auf den Dorn wiederum gegeben, jedoch mit der Irritation verknüpft, dass dieser nicht als Übertretung eines Tabus oder eines Verbotes, auch nicht als Eintreten einer Prophezeiung erscheint: Dass Blubena sich auf keinen Fall stechen dürfe, dass ein Stich existentielle Folgen hätte, wurde an keiner Stelle explizit ausgesprochen. Nicht nur ist das Unheil unangekündigt, sondern es geht genaugenommen nicht vom Stich selbst aus und wird von der falschen Deutung der Blutspuren, von einer vorschnellen Semiose hervorgerufen. Leidendes Opfer ist weniger die verletzte Frau als der fehlinterpretierende Mann. Wenn man diese Einwände zusammenrechnet, drängt sich eine andere weltliterarische Assoziation in den Vordergrund und die Abweichungen von der Choreographie des Unheils in Dornröschen erscheinen plötzlich als Anspielungen auf die Geschichte von Pyramus und Thisbe. Thisbe, die sich zuerst zum vereinbarten Treffpunkt für das nächtliche Stelldichein einfindet, muss „mit zitterndem Fuß in eine finstere Höhle“ vor einer Löwin fliehen (obscurum trepido pede fugit in antrum)[61] und verliert auf der Flucht ein Kleidungsstück, das die grimmige Löwin mit Blut besudelt und zerreißt.
Blubena flieht vor zwei Löwen, mit denen Persibein kämpfen wird, in eine Höhle, sticht sich auf der Flucht an einem Dorn, hinterlässt mit dem verletzten Fuß Blutspuren und verliert ihren (unbegründet zerrissenen) Schleier.[62] Dass Pyramus sich aus Trauer über die totgeglaubte Geliebte ersticht, während Persibein ‚nur‘ in Ohnmacht fällt und rechtzeitig aufgeklärt wird, überschreibt den vorgegebenen tragischen Ausgang des mutmaßlichen Prätextes mit einem kleinen Episodenhappyend.[63] Der verletzte Fuß während eines Aufenthaltes im Naturraum zitiert möglicherweise auch Eurydikes Schlangenbiss im Orpheus-Mythos an, aber wieder mit einer optimistischen, gutmütigen und (ironisch?) verharmlosenden Färbung, indem Blubenas Wunde bei Weitem nicht letal ist. Eine Obergrenze für intertextuelle Aufladung existiert natürlich nicht und die Intertextualität kennt keine Mengenangaben und Anteilberechnungen, aber mutet nicht vor dem Hintergrund der zusammengestellten Beobachtungen der Pyramus und Thisbe-Bezug deutlich dominanter an als der leisere Dornröschen-Anklang? Oder ist das Persibein-Beispiel für die Erzählforschung gerade deswegen wertvoll, weil es die Möglichkeit auslotet, wie Dornröschen-Komponenten mit antiken Zitaten amalgamiert werden?
Nochmals andere Fragen wirft die spätere Episode um Engiselor auf, die von einem Bindezauber zu handeln scheint: Wenngleich ein unheilbringendes stacheliges Requisit eine Frau in einen Passivitätszustand wirft – was sich als treffende Umschreibung von Dornröschens Schicksal liest –, unterbleibt eine schmerzhafte haptische Öffnung des weiblichen Körpers und entscheidend ist nicht die scharfe Spitze, sondern das Geschlossen- bzw. Eingestecktsein einer Spange. Es geht im Grunde um einen Analogiezauber, indem das Fesseln, Knoten, Festhalten, Umschnüren, Verschränken, Ein- oder Umschließen eines Dinges die Bewegungen der betroffenen Person hemmt[64] – so die Verständnisfolie, die den Dornröschen-Bezug überblendet. Demnach muss das Requisit auch bei der Rettung betätigt werden: Während der Prinz Dornröschen wachküsst und die böse Spindel nach dem Unfall keine Erwähnung mehr findet, geht Engiselors Erlösung eigentlich als eine Lösehandlung vonstatten. Indem Persibein die geheftete Spange abnimmt, öffnet und zerbricht, kann er den Bindezauber wörtlich brechen. Somit wird auch die durative Dimension anders gestaltet: Ist Dornröschens Berührung mit der Spindel schnell und punktuell, was die auffällige Disproportion zur Langfristigkeit der Folgen auftut, verlängert sich auf der Zeitachse Engiselors Kontakt mit der Spange und das Unheil währt so lange, wie auch dieser perpetuierte Kontakt währt. Das erinnert immerhin an die Geschichte im Perceforest – dessen eventuelle Rezeption im deutschen Sprachraum völlig im Dunkeln liegt –, wo Zellandine durch die Entfernung der Faser aus ihrem Finger(-nagel), also eines steckengebliebenen Fremdkörpers, in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde.
Allerdings war jede Faser für Zellandine potentiell gefährlich, wie auch jede Spindel Dornröschen bedrohte („Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden“ – KHM 50 [wie Anm. 56] 258). Engiselor hat dagegen kein grundsätzliches Problem mit scharfen Metallgegenständen, sie ist auch von anderen vergleichbaren Gegenständen umgeben, die ihr nichts anhaben können. Ihre Dingwelt ist nämlich sehr reich, sie trägt als Kleidungsaccessoires, wie der Erzähler nicht zu betonen versäumt, zahlreiche völlig harmlose Goldbroschen, genannt golldes stenngel (BdA II [wie Anm. 34] 491,4 – so ein beliebter Reim auf engel); nur eine einzige, eben von ihrem Widersacher verzauberte Spange kann ihr schaden und wird zur Abgrenzung von den anderen ordinären Schmuckstücken mit einem eigenen Signifikanten als vürspan (BdA II, 492,5) bezeichnet. Verflüchtigt sich nicht die Dornröschen-Parallele, wenn die Frau und der Stachel nicht unter sich bleiben, wenn sich eine dritte Instanz, wie hier der böse Zauberer, mit eigener Intention und Agenda in die Interaktion zwischen weiblicher Figur und Ding einmischt und das Ding für die Austragung eines zwischenmenschlichen Konfliktes beansprucht? Wird nicht allgemein die Problematik von Zaubergegenständen angesprochen, wenn ein scharfes Requisit nicht als Gattungskategorie mit all ihren Dingvertretern entsprechend taxonomischer Reichweite, sondern als konkretes, manipuliertes Einzelexemplar einen Schaden verursacht? Jedenfalls ist Engiselors vürspan ein passendes Überleitungsstichwort zum nächsten Abschnitt, der nach diesem Fegefeuer der heuristischen Reflexion das versprochene Zentralbeispiel vorstellen soll – eine Dornröschen-Parallele mit weniger dornigen Einwänden, behaftet mit weniger Aber. Denn vürspan ist synonym mit glufe, und an einer glufe verletzt sich die Königin vom Brennenden See.
4 Neue Quelle: Dornröschen vom Brennenden See
Die Königin vom Brennenden See, ein unikal überlieferter anonymer Erzähltext von knapp 3000 Versen, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, vielleicht erst im 15. Jahrhundert entstanden[65] und seit weniger als 50 Jahren, dank Paul Sapplers Edition von 1977 in den Wolfram-Studien, der Germanistik zugänglich ist,[66] folgt dem Erzählmuster der gestörten Mahrtenehe. Der französische Königssohn Hans verirrt sich während der Jagd im Wald und stößt auf eine unbekannte Burg, auf der eine namenlose, freilich stark verchristlichte und vermenschlichte ‚Fee‘ residiert. Der erotischen Annäherung geht die schemakonforme Aufstellung einer verbindlichen Bedingung voraus, was der Mann unterlassen muss; die übernatürliche Partnerin setzt die Klauseln des Kommunikationskontrakts fest. Auferlegt wird Hans ein Verwundungstabu – er dürfe die Burgherrin nicht blutig machen:
die werd sprach: ‚ich tuon dir kund, | mit warhait ich dir das vergich: | wie licht du machest pluotig mich, | so wär es so umb mich gewant, | das ich mich müst schaiden zuo hant | und als min gesind | voran fieren mit mir geswind, | darzuo was richait ist by mir. | mit warhait will ich sagen dir: | und wurden unns och kind beschert, | es wär lind oder hert, | die fieren mit mir auch von dan | und müstest die auch hinder dir lan. | magstu davor behüten mich, | vil geren so will ich nemen dich‘. (KvBS [wie Anm. 66] 756–770)
Die sinnliche Qualität, dass es sich um eine taktile Restriktion handelt, unterscheidet diesen Fall von den üblichen Sicht-, Rühmungs- und Fragetabus im Gattungskorpus der mittelhochdeutschen Feenerzählungen, die auf visuellen oder sprachlich-akustischen Voraussetzungen fußen. Hans verpflichtet sich bereitwillig zum Gehorsam und das Protagonistenpaar heiratet. Nach zehn Jahren zersticht ein Nadelunfall in der Kemenate die Eheidylle. Beim Ankleiden wird die weibliche Figur von ihrem Mann freundlich umarmt und verletzt sich während dieses innigen Moments an einer glufe, einer Schmucknadel/Gewandnadel/Stecknadel am Hals:[67]
ain tage stund die künigin | für ainen spiegel wunneklich | und hat schon gestichet sich, | als sy wolt gen kirchen gaun. | da kam der küng wolgetaun | und erwüst die werd | mit lieplicher geperd; | fraintlich trukt er sy an sich | und kust die minniklich. | nun hett die fraw tugenthaft | mit glufen schon zwo stuchen behaft; | des ward sy trurig und unfro. | die ain begriff die werde do | under der kelen vil klaine, | das die edel raine | gar ain wenig plieten ward. (KvBS, 980–995)
Trotz der Harmlosigkeit der Wunde (vil klaine; gar ain wenig – KvBS, 993, 995) reichen die wenigen Blutstropfen, um die Katastrophe heraufzubeschwören: Hans wird widerwillig heimgeschickt, die Königin und ihre beiden gemeinsamen Söhne werden ins unzugängliche Land vom Brennenden See entrückt. Nach langer Suche mit zahlreichen Herausforderungen gelingt es Hans schließlich, seine verlorene Familie zu finden, und es wird eine euphorische Wiedervereinigung gefeiert: Die Feenerzählung von der Königin vom Brennenden See mündet nach dem Tabubruch in einen Liebes- und Abenteuerroman.
Exkurs
Dieses Werk ist nicht völlig entkoppelt von den vorherigen Beispielen. Dass Die Königin vom Brennenden See einen Text aus Texten darstellt und einen hohen intertextuellen Koeffizienten besitzt, ist hinlänglich bekannt. Obwohl Paul Sappler und Gudrun Felder zahlreiche Bezüge zu mittelhochdeutschen Prätexten aufgedeckt haben,[68] ist die erstaunlich große Ähnlichkeit des Suchteils der Königin vom Brennenden See mit dem Suchteil des Seifried de Ardemont bislang übersehen worden. Genaue quellenkritische Aussagen, ob und in welcher Form der Anonymus vom Brennenden See Füetrers verlorene Seifried-Vorlage oder ihre Verwandten kannte, können nicht getroffen werden, es lassen sich aber im aktuellen Aggregatzustand, in dem uns die Texte vorliegen, einige auffällige Übereinstimmungen protokollieren. Zunächst springt die toponymische Titelassonanz zwischen dem Brennenden See und Ardemont als dem Flammengebirge (lat. ardor + mons) ins Auge bzw. ins Ohr.[69] Ein anderweltliches Feuer umgibt nämlich neben dem Refugium der Königin vom Brennenden See, als wasserresistentes, ewigbrennendes Feuer (KvBS, 1079–1081; 1995–1997; 2168–2174), auch die durch die bereits erwähnte stachelige Dornenhecke zusätzlich eingegrenzte Wiese, auf der Seifried Mundirosa kennenlernt – diesmal als Feuer, das nicht brennt (BdA II [wie Anm. 34] 3594 f.).[70] Im ersten Fall ist das nichtlöschbare Feuer also ein Teil der Zugangsbeschränkungen zum Raum der Wiederbegegnung der Eheleute, im zweiten Fall hingegen ist das nichtbrennende Feuer ein Teil der Zugangsbeschränkungen zum Raum ihrer Erstbegegnung. Darüber hinaus verbindet Hans und Seifried eine gemeinsame Choreographie der Suche nach der infolge des Tabubruchs in ein unbekanntes Land entrückten Fee. Nachdem der Erstere gegen das Verwundungstabu und der Letztere gegen das Rühmungstabu seiner Geliebten verstoßen hat, fragen sich nämlich beide durch und wenden sich vor allem an Einsiedler als Wissensinstanzen und Navigationshilfe, wodurch die Feenerzählungen geistliche Intarsien aufweisen.[71] In diesem interrogativen Furor sucht Hans, stets an einen weiteren ‚Schalter‘ verwiesen, zwei bereiste Ritter und drei Einsiedler auf (KvBS, 1445–2020), während Seifried einem einzigen Einsiedler begegnet, der ihm gleich weiterhilft (BdA II, 3742–3748). Sowohl Hans als auch Seifried lassen sich sodann, wie Herzog Ernst, in eine Maultierhaut einnähen und von Greifen über eine unpassierbare Raumgrenze tragen. Hans kommt selbst auf diese rettende Idee, um auf die andere Seite eines hohen Gebirges versetzt zu werden (KvBS, 2043–2154), der weniger einfallsreiche und zudem suizidbereite Seifried muss demgegenüber dem Vorschlag des Einsiedlers folgen, um einen tiefen See zu überqueren (BdA II, 3749–3757). Nach dem Greifentransport stoßen beide Helden auf einen Nicht-ganz-Menschen, der ihnen über eine weitere Wassergrenze hilft. Hans lernt nämlich einen gutmütigen Riesen kennen, der ihn mit seinem feuerfesten Schiff über den Brennenden See transportiert (KvBS, 2184–2251); Seifrieds Helfer ist ein Waldmensch namens Althezor, der ihm ein Floß zur Verfügung stellt (BdA II, 3758–3778). Nach all diesen Peripetien und der Ankunft in der Stadt werden die Protagonisten jeweils von einem freundlichen Bürger für das bevorstehende Turnier ausgestattet (vorerst inkognito als Diener: KvBS, 2258–2489; ohne Identitätsfiktion: BdA II, 3779–3787), bei dem Hans seine Frau vor der erzwungenen Wiederverheiratung rettet und Seifried Mundirosas geplante Moniage abwendet. Und so wie Hans im Land vom Brennenden See zeitlebens bleibt, verlässt auch Seifried das Land Ardemont, das er von Anfang an in seinem Namen trägt, nie wieder. Diese Responsionen der Suchepopöen müssten weiterdiskutiert und ausgemessen werden, aber für den vorliegenden Zusammenhang ist es von Bedeutung festzuhalten, dass zwei Texte, die für die Vorgeschichte von Dornröschen-Motiven in Frage kommen, quellenkritisch auch untereinander verbunden sind.
Die Gattungsbezeichnung ‚Märchen‘ für Die Königin vom Brennenden See wäre demgegenüber problematisch, wenngleich einzelne Märchenmerkmale nicht zu übersehen sind. Über das wissenschaftsgeschichtlich signifikante Genre der Motivindices hinaus, die die stofflichen Elementarteilchen des Erzählens katalogisiert haben, durchdachten vor allem Friedrich Wolfzettel und Fritz Peter Knapp den Status von Märchenpartikeln in vormodernen Texten systematisch und einzelfallübergreifend.[72] Als autonome Erzählform im Mittelalter nicht vorhanden, fungiert das Märchen nach Wolfzettel als eine „virtuelle Intergattung“, die in Form von märchenhaft-folkloristischen Motiven in die verschiedensten bestehenden Gattungen diffundiert; gerade infolge der Absenz eines festen gattungstypologischen Wohnsitzes, infolge dieser lange andauernden ‚Obdachlosigkeit‘ in der Literaturgeschichte ergab sich eine Omnipräsenz von vagierenden Märchenatomen, ein „märchenhaftes Gesamtkolorit der Literatur“.[73] Zu beobachten sind also Bauformen einer späteren Gattung, nicht die Gattung selbst. Und bezeichnenderweise kann man sie als solche nur im Rückspiegel identifizieren, es ist eine vielleicht auch andernorts hervortretende Epistemik des Nachgangs: Die fraglichen Elemente werden als Vorformen erst für das Auge der Nachwelt sichtbar, wenn man die „Gattung Grimm“,[74] das Märchen der Neuzeit kennt.
Die Gründe für diese „Märchenphobie mittelalterlicher schriftlicher Texte“,[75] dass das „,märchenhafte‘ Mittelalter ‚märchenlos‘ geblieben ist“,[76] liegen in der christlich skandalösen Konfiguration des Märchenwunders, das nicht als Produkt göttlichen Wirkens markiert wird, sondern in „einer gleichsam herrenlosen Zeichenwelt“ ohne die Opposition von Transzendenz und Immanenz, mit einer flächenhaften Selbstverständlichkeit levitiert.[77] Diese Haltung exemplifiziert auch Hans selbst in der Königin vom Brennenden See, indem er sich stellenweise als typischer Märchenheld über nichts wundert.[78] Als Musterbeispiel eignet sich seine Reaktion auf das Verschwinden der Burg nach dem Tabubruch, gleichsam wie beim Schließen eines Aufklappkinderbuchs: „bedächtiklich so sach er wider | und welt der feste nemen war. | da sach er bald hör und dar | uff und nider das gefild; | do was es worden alles wild, | als da nie kain hus wär gesin“ (KvBS [wie Anm. 66] 1146–1151). Hans rätselt nicht über diese schlagartige Veränderung in der Topographie, fragt nicht nach Urheber oder Ursache, verfällt nicht in eine Agonie des Unverständnisses, sondern stellt „in sinem muot“ lapidar fest, „was dir vor sait die frawe clar, | das ist alles sampt war‘“ (KvBS, 1152–1154) – und reitet los. Als Märchenheld ausgewiesen wird Hans auch durch die onomastische Distribution: Er ist die einzige Figur in der erzählten Welt, die einen Namen trägt und auf die alle übrigen, namenlosen Figuren, netzwerkanalytisch betrachtet, geradezu magnetisch bezogen werden und nur dazu da sind, um mit ihm zu interagieren.[79]
Zudem handelt es sich bei ‚Hans‘ um einen Namen, der eher als Gattungs- und weniger als Eigenname anmutet[80] und in deutschen Märchen immer wieder vorkommt, also als vokativische Hohlform für einen Märchenhelden dient,[81] im konkreten Fall eigentlich gar nicht vereinbar mit seiner behaupteten französischen Herkunft. In diesem Zusammenhang intrikat, aber in seinem Irritationspotential bislang unbeachtet, ist des Weiteren der Eröffnungsgestus der Königin vom Brennenden See: Das erste Wort lautet hievor – „Hievor in Frankrich was | ain küng werd […]“ (KvBS, 1 f.). Diesem Präpositionaladverb wohnt eine deiktische Dimension inne, es beschwört eine Vorzeitigkeit herauf, ohne dass der Referenzpunkt der zeitlichen Ordnung bestimmt wäre. Bekannt sind ja heldenepische Initialformeln, der „epentypisch-voraussetzungslose Einsatz“ Ez saz oder Ez wuohs, der für die „Kontextlosigkeit epischer Erzählformen“ steht;[82] bekannt ist auch der Sonderfall des zweiten Titurel-Fragments mit zahlreichen Verständnisabgründen und Leerstellen, „am Rande des Hermetischen“[83]: „sus [wie?] lâgen si [wer?] unlange [wann?]“,[84] dem die ältere Forschung mit Kopfschütteln begegnete – „str. 132 kann unmöglich liedanfang sein“[85] – bzw. einen Vorspann hinzudichtete[86] und die neuere Forschung einen besonderen Sinn abzugewinnen versucht, etwa als systematisches „Zerschlagen der Syntax“.[87] Wenn man in der Königin vom Brennenden See, die von der Ästhetik des Gebrochenen und Aporetischen der Titurel-Fragmente weit entfernt ist, nicht mit Textverlust rechnet und keine Lakune am Textanfang annimmt,[88] ließe sich dieses hievor mit seiner unbestimmten Vergangenheit vielleicht als Vorgänger des klassischen ‚Es war einmal‘ lesen.[89]
Das heißt, dass Die Königin vom Brennenden See nicht nur im Bereich der Motivik in der interessierenden Nadelepisode, sondern auch auf der Ebene der Figurenmodellierung und der zeitlichen Situierung einzelne Merkmale aufweist, die man für die Vorgeschichte des Märchens in Anspruch nehmen kann. Sie kennt außerdem eine mimetische Vereinfachung durch Abwesenheit von Zweifel und Zwischenwerten, Plot mit Happy Ending bzw. unerwartet glückliche Lebensläufe in einer moralisch und sozial vereinfachten Welt – Letztere sind allerdings keine Exklusivmerkmale, die in anderen Erzählbiotopen ausgeschlossen wären. Gleichwohl sind die Kleindimensionen, ja die Kurzatmigkeit des interessierenden motivischen Dornröschen-Bezugs zu beachten: Er prägt eine einzige Episode, einen Bruchteil des epischen Textes – das gilt auch für die erwogenen Füetrer-Parallelen wie für Perceforest –, wird in eine konkrete Handlungssequenz eingekapselt und greift bei Weitem nicht auf das gesamte Handlungsgefüge aus, wie bereits die streng zentrierten Inhaltszusammenfassungen signalisierten. Man kann im Mittelalter wohl keine eigenständigen Dornröschen-Erzählungen finden – ein Trauerfall für die Heuristik –, Dornröschens Vergangenheit spielt sich in den Schlupfwinkeln geräumigerer epischer Textbauten ab.
5 Analytische Auswertung: Stich-Punkte für einen Vergleich
Was nützt es, Dornröschens Ahnentafel in der deutschen Geschichte des Erzählens zu kennen? Mit welchen Einsichten wird man belohnt, wenn man ein Dornröschen vom Brennenden See in der deutschen Literatur ansetzt? Ich versuche, einige Interpretationsperspektiven exemplarisch aufzuzeigen.
5.1 Phänomenologie des Stacheligen
Die Spindel, die aus unserem kulturellen Gedächtnis nicht wegzudenken ist,[90] kann nach den strengen Regeln des Höfischen die Gestalt von Schmucknadeln/Gewandnadeln/Stecknadeln von nichtspinnenden adligen Damen annehmen.[91] Das hängt mit der Standesklausel der höfischen Dichtung zusammen, die ihren Protagonistinnen nur unter existentiellen Extrembedingungen Handarbeit erlaubt (z. B. damit sie sich im Exil ernähren, wie im Bûsant oder in der Königin von Frankreich). Ihr angestammter Aufgabenbereich ist vielmehr die filigrane Repräsentation. Dementsprechend wird die exorbitante Kleiderpracht der Königin vom Brennenden See beim ersten Auftritt minutiös ausgemalt (KvBS [wie Anm. 66] 179–225) und auch bei den Folgeauftritten fehlen keine Angaben über die Farbe ihres Outfits des Tages (KvBS, 465–472; 695–701; 2310 f.).[92] Dass die zentrale Tabubruchszene als Ankleideritual eingeleitet wird, passt vorzüglich zu dieser textilen und farblichen Dichte der erzählten Welt und ist im Sinne der Kohärenzstiftung nur konsequent. Zugleich macht sich eine feine Variation bemerkbar, die die Tabubruchszene vom Rest der Kleiderpassagen abhebt: Sind jene als Beschreibung eines fertigen Faszinosums angelegt, eines ästhetischen Ergebnisses, wie die bereits herausgeputzte Dame in der Öffentlichkeit einherschreitet, ist diese prozessual ausgerichtet, gewährt einen Einblick in die ‚Vorarbeiten‘, die einzelnen Vorbereitungsschritte sowie die geheimen Handgriffe und zeigt die Dame, während sie im privaten Raum vor dem Spiegel das Gewand ordnet und den Kopfputz mit Schmucknadeln befestigt.
Der Anlass, dass „sy wolt gen kirchen gaun“ (KvBS, 983), wehrt den Vorwurf der Eitelkeit ab. Dabei lässt sich ein tertium comparationis zwischen diesen Schmucknadeln und der Spindel erkennen: Sie beide entstammen dem urweiblichen Textilkosmos und haben an einer vestimentären Dramaturgie teil. Nur der Zeitindex des Einsatzes ist unterschiedlich: Sind Fasern und Spindeln für die Herstellung von Kleidungsstücken verantwortlich, für das Noch-nicht-Kleidungsstück bzw. das Kleidungsstück im Futur, vervollständigen Gewandnadeln bereits fertiggestellte, tragbare Kleidungsstücke bzw. Kleidungsstücke im Präsens. In beiden Fällen handelt es sich um Artefakte und der Unfall findet in einem architektonischen Innenraum, in einer Kammer statt. Das ändert sich, wenn man Blubenas Dornstich aus dem Persibein als einschlägigen Beleg gelten lässt: Der Dorn als vegetabiles Element lässt sich dem Naturraum zuordnen und es tut sich ein Kontrast zwischen Naturstacheln und Kulturstacheln auf.
5.2 Anatomie der Wunde
Bedingt durch das zum Einsatz kommende Requisit des Unheils kann auch die Wunde unterschiedlich platziert sein. Der Königin vom Brennenden See tut kein gestochener Finger weh. Zum einen lässt der Text offen, ob ihre Wunde überhaupt gestochen, geritzt oder gequetscht wurde; dem Rezipienten tritt das Verb begrîfen entgegen („die ain [glufe] begriff die werde do | under der kelen vil klaine“ – KvBS, 992 f.), das als ‚befassen, betasten, fassen, erfassen, erreichen‘[93] allgemein eine Berührungshandlung bezeichnet, ohne die Art des Berührungsreizes zu präzisieren. Mehr noch: Aufgrund der konnotativen Neutralität des Verbs ist gar nicht ersichtlich, dass es sich um eine negative, schmerzverursachende Berührung handelt. Es steht jedenfalls fest, dass die Wunde blutet. Zum anderen ist der betroffene Körperteil abweichend: In der interessierenden Feenerzählung tritt ein Dornröschen mit verletztem Hals hervor.
Das öffnet die komplexe Frage nach der kulturgeschichtlichen Semantisierung der Körperteile, die eine eigene Untersuchung verdiente; in diesem Rahmen können nur einige Grundlinien gezogen werden. Aus KHM 50 geht nicht hervor, welcher Finger gemeint, ob von der rechten oder der linken Hand die Rede ist, was eine Spezialisierung der Interpretamente ermöglichte.[94] In Kombination mit der Altersangabe, dass am Tag des Stiches Dornröschen das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat, stellen sich die reichlich diskutierten phallischen Assoziationen ein, als Bewusstwerdung einer neuen Phase von Weiblichkeit und geschlechtlicher Identität.[95] Allerdings überlagern sich die sexuellen Konnotationen und ergeben kein in sich stimmiges Bild mit eindeutigen Sinnzuweisungen, indem auch die Spindel um die gleiche Deutung konkurriert und der Stich als vorausdeutende symbolische Penetration den Finger vom phallischen Täter zum bloßen Objekt der Penetration abwählt. In eine ähnliche Richtung, aber weniger stark sexualisiert, ginge die Auffassung des Fingers als Ringträger – der Fingerstich als Vorzeichen und Vorzeichnung einer Verlobung oder Trauung. Nicht ausschließen lässt sich auch der archaische Glaube, dass „wenn ein Mädchen sich beim Nähen […] in den F[inger] sticht, […] es an demselben Tage […] einen Kuß [bekommt]“[96] – freilich mit exzessiv vergrößertem zeitlichem Abstand zwischen Stich und Kuss und gesteigerter existentieller Ernsthaftigkeit in der erzählerischen Ausgestaltung.
Diese Initiationsphantasien passen nicht zur Figurenkonzeption in der Königin vom Brennenden See – die Protagonistin ist kein jungfräuliches Mädchen, sondern seit einem ganzen Jahrzehnt Ehefrau und Mutter, als es zum Nadelunfall kommt. Der verletzte Hals ist seinerseits ein Symbol weiblicher Schönheit und somit eine obligatorische Komponente von mittelhochdeutschen Schönheitsbeschreibungen.[97] Entsprechend wird er auch in der Königin vom Brennenden See als heiles, intaktes Faszinosum mit weißem Glanz beim Erstauftritt der Figur gerühmt, bevor in der Tabubruchszene seine Beschädigung zur Sprache kommt: „darob sy schain als milch gesigen | ir kinn und och ir kel“ (KvBS, 215 f.). Diese vorsorglich vorausgeschickte Ersterwähnung ist indes unter anderen gelobten Körperteilen in der descriptio versteckt und von den restlichen Verwundungskandidaten in keiner Weise abgehoben. Im Unterschied zu KHM 50, wo der Finger als Wundstelle von vornherein feststeht, ist das Tabu in der Königin vom Brennenden See allgemeiner formuliert und umgreift den gesamten weiblichen Körper, Blut darf aus keinem Körperteil hervorspritzen. Vielleicht ist der Hals deswegen als Wundstelle prädestiniert, weil er als eine der gefährdetsten, fragilsten Körperstellen gilt, die zur Erwürgung eingedrückt oder auf- bzw. abgeschnitten wird.[98]
Ob auch die metonymische Verbindung von kel mit den Stimmbändern, als Ort der Lautproduktion zum Sprechen oder Singen, eine Rolle spielt, wäre überlegenswert, möglicherweise als symbolisches Verstummen einer sprachmächtigen Frau, die, mit Vorliebe für Imperative, die Spielregeln der Liebesbeziehung festgelegt hatte. Außerdem ist nicht zu verschweigen, dass das Lexem auch philologische Abgründe öffnet. Wenn man dieses schwache Femininum kel als „die biegung, höhlung in der hals und kopf zusammentreffen unter dem kinn“,[99] versteht, mutet die Umschreibung under der kelen, ‚unterhalb des Unterkinns‘, etwas umständlich an, wäre doch an dem halse deutlicher und schlichter. Die Bevorzugung des Signifikanten kel, auf dem als Referenzpunkt für die Wundverortung insistiert wird, ist intrikat, aber die unikale Überlieferung macht es unmöglich zu wissen, ob dieser Ausdruck auch in der Vorlage stand. Formalästhetischer Gehorsam und Reimrücksichten werden die Wortwahl jedenfalls kaum beeinflusst haben, denn under der kelen füllt das Versinnere. Sollte die semantische Differenzierung hingegen aufgegeben und kel als völlig synonym mit hals betrachtet werden (under der kelen nicht als an dem halse, sondern als deckungsgleich mit under dem halse), dann würde die Wunde in Richtung der für eine Nennung zu anstößigen Brust rücken. Verletzt würde nach dieser Lesart das Zentrum der Fruchtbarkeit und Mutterschaft – die Königin ist bereits Mutter zweier Söhne und Feen sind unter anderem über ihre Fruchtbarkeit definierbar –, die Verletzung wäre eine Zweckentfremdung, dass aus der Brust Blut statt Milch fließt. Letztere Verständnisoption ist weniger plausibel; da die Schmucknadeln das Kopftuch der Dame befestigen, wäre eine Positionierung der Wunde am Hals, rein veristisch, wahrscheinlicher. Das flüstert uns die Textlogik zu, die semantische Biographie von kel an sich macht beide Lesarten vertretbar.
Schließlich fällt noch auf, dass in der Königin vom Brennenden See Finger – eigentlich ist von ‚Hand‘ explizit die Rede – in der Tabubruchszene doch vorkommen. Denn bemerkenswerterweise betastet die Frau instinktiv die verletzte Stelle, so ihre erste Reaktion, befühlt das Blut und überzeugt sich haptisch von der hand-greiflichen Katastrophe: „by stund uff der selben fart | graiff si mit ainer hende dar. | do sy des pluotes ward gewar | und sy der warhait recht erfand […]“ (KvBS, 996–998). Im wörtlichen Sinne legt sie den Finger in die Wunde.
5.3 Folgen der Verletzung
Bekanntlich verfällt Grimms Dornröschen, zusammen mit dem gesamten Schloss, nach dem Stich in einen hundertjährigen Schlaf. Dieser hundertjährige Zauberschlaf wurde als Auseinandersetzung mit dem Phänomen „der Zeitlosigkeit, des Aus-der-Zeit-Fallens“[100], das vor allem für Legenden typisch ist, als „märchenhafte Umgestaltung des bekannten Legendenmotivs von der Relativität der Zeit und dem zeitweiligen Verschwinden aus der Wirklichkeit“[101] interpretiert. Dabei wurde vor allem auf die gattungsbedingt verschiedenen Herangehensweisen an ein und dasselbe Thema abgehoben: Während ein Epimenides oder die Sieben Schläfer und andere Gattungsvetter mit Entsetzen oder Gotteslob auf das unfassbare Wunder der Suspendierung der Zeitkategorie reagieren, macht das Märchen „nicht das geringste Aufheben“ um diese Zeitmanipulation.[102] Ist man trotz der Bedenken bereit, Engiselor zu Dornröschens Vorfahren zu zählen, würden sich sogar verschiedene Modulationen der Passivität ausdifferenzieren – neben Todesschlaf oder Koma auch Paralyse mit Sprachfähigkeit. Demgegenüber zeigt Die Königin vom Brennenden See, dass die Berührung mit der scharfen Spitze eines scheinbar harmlosen Gegenstands ein Herausfallen der Frau aus dem immanenten Raum[103] und Verlegung in einen durch Höhe, Feuer, Wasser unzugänglich gemachten Bereich zu zeitigen vermag. Denn bezeichnenderweise muss nach dem Tabubruch nicht nur Hans, wie für seine Gattungskollegen und Leidensgenossen üblich, sondern auch die Frau die Burg verlassen und sich ins unzugängliche Land vom Brennenden See begeben. Genaugenommen wird ein Passivitätszustand, ein Heraustreten aus der Zeit, doch kurz erwogen – die Frau fällt in Ohnmacht, so ihre erste Reaktion auf die Blutstropfen: „do sy des pluotes ward gewar | und sy der warhait recht erfand, | von grossem jamer ir geswand | und saig hin zuo der erde nider“ (KvBS, 998–1001).
Allerdings ist dieser Zustand nicht dauerhaft, denn die Zofen können ihre Herrin durch Wasser ins Gesicht schnell erwecken: „uff hulfen ir die frawen wider | und gussen sonder laugen | ir wasser under augen“ (KvBS, 1002–1004). Die Möglichkeit wird anzitiert und eilends fallen gelassen, der Text entscheidet sich nach kurzem Zögern um. An die Stelle der stichinduzierten zeitlichen Entrückung tritt die stichinduzierte räumliche Entrückung. Vor diesem Hintergrund hat es den Anschein, dass das Einfrieren des Zeitflusses und das Ausbrechen aus der Weltkarte, die Perforierung des zeitlichen und die des räumlichen Kontinuums, das Außerhalb des Zeitlineals und das Außerhalb der Ökumene Synonyme des Unheils sind.
5.4 Personalkonstellation
Sowohl bei Grimm als auch in der Königin vom Brennenden See ist die Wunde von der Frau selbstverursacht und nicht fremdinduziert. Der Anonymus vom Brennenden See nimmt sogar einige Umstände in Kauf, um eine fremde Einwirkung auszuschließen. Denn das Erzählmuster der gestörten Mahrtenehe sieht eigentlich vor, dass der menschliche Partner von seinen Verwandten mit Zweifel infiziert und zum Tabubruch angestachelt wird. Hans hat dagegen gar nicht die Absicht, gegen das Tabu zu verstoßen. Anders als seine Gattungskollegen ist er nicht zerrissen zwischen der menschlichen Heimat und der fremden Feenwelt, leidet nicht unter Zweifel oder Neugierde und kann insgesamt mit ungewöhnlicher Leichtigkeit das Tabu einhalten. Folglich bleibt er verschont von Schuldsymptomen und Reflexionslast. Auch mit syntaktischen Kunstgriffen wird Hans entlastet, indem er als Urheber des Kusses und der Umarmung erscheint („da kam der küng wolgetaun | und erwüst die werd | mit lieplicher geperd; | fraintlich trukt er sy an sich | und kust die minniklich“, KvBS, 984–988), bei der Verletzung indes aus der Subjektrolle ferngehalten wird (KvBS, 999–1006). Das nächste Mal, als der Erzähler seinen Blick auf ihn richtet, steht Hans verlegen beiseite und kann nicht verstehen, was passiert ist – ein eindrückliches Bild der Nichtinvolviertheit: „ach stuond der küng in grösser swär | wie er nit wist die rechte mer“ (KvBS, 1007 f.). An die Stelle der üblichen gewollten und geplanten Auflehnung tritt also ein motorisches Missgeschick, eine unvorsichtige Zärtlichkeitsgeste, ein ungefell (KvBS, 975) – der Tabubruch geht mit einem flagranten Schemabruch einher. Dieser Schemabruch bzw. das, was vor der Folie des Erzählschemas überraschend vorkommt, dürfte nun vielleicht als Dienst an der Dornröschen-Tradition erklärt werden, für die die versehentliche Selbstverletzung der weiblichen Figur, die Reflexivität dieser Handlung konstitutiv zu sein scheint: Die vorgeschlagene Parallele mit dem Sigrdrifalied ist ja, wie oben angesprochen, nicht zuletzt am Einwand zerschellt, dass Odin Brünhild mit dem Schlafdorn sticht, nicht sie sich selbst, was auch bei Engiselor als Gegenargument durchgeschlagen ist, dass Wagold ihr den Spangenschaden zufügt.
Fragt man nach dem ontologischen Status der verletzten Frau, begegnet man bei Grimm einem menschlichen Mädchen, während die Königin vom Brennenden See trotz der energischen Bemühungen, jegliche Dämonievorwürfe abzuwehren, Feenzüge trägt. Insgesamt zeichnet sich die Tendenz ab, dass Dornröschens mutmaßliche Vorfahren in der deutschen Literaturgeschichte vorzugsweise Feenerzählungen bewohnen bzw. in größeren epischen Werken in Episoden auftauchen, die um eine Feenfigur zentriert sind – auch Mundirosa und Engiselor, vielleicht auch Blubena (vgl. Anm. 53) sind bei Füetrer Feen, was ein Fingerzeig für die Heuristik sein könnte. Bei genauerem Hinsehen sind transzendente weibliche Wesen auch den kanonischen Versionen nicht völlig fremd: Bei Grimm werden „weise Frauen“ anlässlich von Dornröschens Geburt eingeladen, Perrault spricht an dieser Stelle explizit von Feen.[104] Eine von ihnen, die gekränkte, ist es denn auch, die den Stechunfall als Prophezeiung bzw. Verfluchung ausspricht, wiederaufgegriffen in einem zweiten performativen Sprechakt, dem Befehl des Vaters, alle Spindeln im Königreich zu verbrennen.[105] Was hier an andere Instanzen delegiert ist, übernimmt die Königin vom Brennenden See selbst, intoniert als Tabu und gerichtet an den künftigen Ehemann, ohne jegliche Begründung und Herleitung. Trotz dieser Eigenmächtigkeit der weiblichen Figur ist nicht zu vergessen, dass, anders als in Grimms Dornröschen, in der Königin vom Brennenden See, wie auch schon im Perceforest, die männliche Perspektive maßgebend ist: Der Erzähler und der Rezipient begleiten den Erlöser. Der Titel Die Königin vom Brennenden See darf nicht täuschen, denn es handelt sich um einen nachträglichen Forschungstitel; in der einzigen Handschrift, Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 170, setzt der Text uneingeleitet ein (fol. 64ra).
Die männliche, stets eindeutig immanente, menschliche Figur spielt eine doppelte Rolle, denn der Erlöser ist zugleich auch der Liebespartner. Die Reihenfolge der beiden Funktionen ist indes variabel. Bei Grimm lernen sich Dornröschen und der Prinz erst bei der Erlösung kennen, Die Königin vom Brennenden See entspinnt hingegen eine Vorgeschichte. Diese Rückverlängerung der Bekanntschaft hatte bereits der Perceforest vorexerziert, wo Troylus und Zellandine schon vor dem Unfall eine Liebesbeziehung eingehen. Die Königin vom Brennenden See überführt die Vorgeschichte sogar in den institutionellen Rahmen der Ehe und amplifiziert ihre zeitliche Ausdehnung, indem Hans und die Königin zum Zeitpunkt des Nadelunfalls bereits seit zehn Jahren verheiratet sind und zwei Söhne haben. Die Position der erzählten Zärtlichkeiten im Handlungskontinuum erweist sich ebenfalls als beweglich: Der Kuss des Prinzen dient bei Grimm als Heilmittel, das Dornröschen aus dem Zauberschlaf herausholt. Im Perceforest eskaliert er zum Koitus, indem Troylus der schlafenden Zellandine beiliegt, ohne sie zu wecken. Die erotische Handlung ist hier nach dem Stich, aber vor der Erlösung situiert, denn der eigentliche Erlöser wird der aus dem Beischlaf hervorgehende Sohn sein. In der Königin vom Brennenden See fallen Verletzung und Kuss/Umarmung zusammen: Gerade während der Umarmung kommt es zur Verletzung, für die Handlung entscheidend ist nicht ein Wachküssen, sondern ein Wundküssen.
Diese Quellenbasis kann helfen, ebensolche Entscheidungsprozesse zu rekonstruieren. Entscheidungen, die von namentlichen und namhaften Autoritäten mit quellenkritischer Raison oder von anonymen Tradenten der Erzählgemeinschaft mit intuitiver Präferenz getroffen wurden und die offenlegen, welche Komponenten aus Dornröschens Vita besonders elastisch, für epochenspezifische Umschriften, Umbesetzungen und Neusemantisierungen empfänglich waren, gegenüber dem Nukleus des stoffgeschichtlichen Immer-Schon – und das speziell innerhalb eines konkreten Sprach- und Kulturraumes, so der große Unterschied zu diatopischen Untersuchungen. Das grimmsche Ergebnis und die aus der deutschen Literaturgeschichte ausgegrabenen Alternativangebote können sich durch ihre Differentialmerkmale gegenseitig beleuchten; der diachrone Blick ist zugleich eine hermeneutische Unterstützung, wird doch das Kolorit einer Geschichte erst durch die Nebeneinanderstellung mit anderen Nuancen klarer erkennbar. Zweifelsohne sind die versuchten interpretatorischen Einstiche in die deutsche vorgrimmsche Dornröschen-Tradition nur erste Vorstiche. Nach der Begegnung mit der Königin vom Brennenden See und den Vielleicht-Parallelen aus Füetrers Buch der Abenteuer wird man aber mit Blick auf Dornröschen so viel festhalten dürfen: Es war nicht einmal. Es war mehrmals in der deutschen Literatur.
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