Heinz Rölleke ist am 2. Juni 2023 in Neuss-Hoisten gestorben. Am 6. November wäre er 87 Jahre alt geworden. Er war einer der profiliertesten Grimm- und Märchenforscher und weit über die Grenzen seiner Fakultät, seiner Universität, seines Faches und seines Landes bekannt. Seine Publikationsliste umfasst über 80 Bücher und über 600 Aufsätze bzw. Miszellen, hinzu kommen 78 Rezensionen. Er war Herausgeber der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe und Mitherausgeber der Lasker-Schüler-Ausgabe. Bis ins hohe Alter blieb seine Schaffenskraft ungebrochen. Am letzten Tag seines Lebens, dem 1. Juni 2023, erschien in den Musenblättern seine letzte Miszelle: „Laß uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbar auch. Das berühmte ‚Abendlied‘ des Matthias Claudius“.
Heinz Rölleke wurde am 6. November 1936 in Düsseldorf geboren, studierte – nach einer Lehre zum Verlagskaufmann – von 1959 bis 1964 an den Universitäten Köln und Zürich Germanistik, Philosophie und Geschichte. Die in der Lehre erworbenen Fähigkeiten machte er sich im Studium zunutze, indem er die Vorlesungen mitstenographierte und anschließend mit der Schreibmaschine abschrieb. Das so erworbene und gefestigte, bis ins hohe Alter präsente Faktenwissen war so immens, dass ihm gelegentlich ein „unfairer Wissensvorsprung“ vorgeworfen wurde. Seine 1966 veröffentlichte Dissertation trug den Titel Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl und war – wie Richard Brinkmann einmal bemerkte – zwar „schon nicht mehr à la mode“, zeigte jedoch „eine sehr phrasenlose und nüchterne Sachlichkeit“ und ging „ohne viel methodologisches Vor-Gerede mitten in die Sache“. Diese Feststellung darf für sein Gesamtwerk gelten: Heinz Rölleke war zeitlebens ein faktophiler Philologe, der sich auf einem soliden literaturwissenschaftlichen Fundament souverän bewegte, ohne sich in den Jargons oder Sackgassen moderner, hergeliehener Kurzzeittheorien zu verlieren oder sich davon irritieren zu lassen.
Der Weg, den Heinz Rölleke in den späten 1960er Jahren, während der zweiten Etappe seiner wissenschaftlichen Qualifikationsphase, einschlug, war sehr mutig. Mit einem beachtlichen Editionspensum positionierte er sich trotz – oder wegen? – der Allgegenwart der Werkimmanenz und in der nachfolgenden Theoriebildungsphase der Germanistik als Editionsphilologe. Er gab in wenigen Jahren ein halbes Dutzend textkritisch revidierter Ausgaben heraus: Lessings Fabeln (1967), Edward Schröders Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg (1968), Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1970), Herders Volkslieder (1975) und die historisch-kritische Edition der Oelenberger Handschriften der Kinder- und Hausmärchen (1975). Mit solchen Arbeiten war man in der textorientierten Literaturwissenschaft der 1960er Jahre schnell dem Vorwurf des Positivismus und der Faktenhuberei ausgesetzt. Und wirklich bekam Heinz Rölleke während der Arbeit an seiner Habilitationsschrift, einer historisch-kritischen Ausgabe von Des Knaben Wunderhorn, den Gegenwind eines führenden Vertreters der ganz auf die Formensprache von Dichtung abgestellten Literaturwissenschaft, Paul Böckmann, deutlich zu spüren.
1971 wurde er als Assistent in der Kölner Mediävistik habilitiert und 1974 an die neu gegründete Gesamthochschule Wuppertal berufen. An seiner für diese Zeit und diesen Ort ungewöhnlichen, aber maßgeschneiderten Denomination, Deutsche Philologie einschließlich Volkskunde, hatte er, wie er gerne erzählte, durchaus selbst mitformuliert.
Auch mit seinem Forschungsgegenstand hatte Heinz Rölleke nun eine Berufung gefunden: Während der Arbeit am Wunderhorn und an den Oelenberger ‚Urfassungen‘ der Kinder- und Hausmärchen (KHM) stellte er fest, dass die verfügbaren Ausgaben dieser kanonischen Texte der deutschen Hochromantik nur in unzureichender Textqualität vorlagen und ihre literarischen sowie außerliterarischen Kontexte nicht hinreichend erforscht waren.
Seine Forschungen trafen auf eine wieder aufflammende Irritation über die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Krieges und den damaligen Bemühungen der Alliierten, den Märchen eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben, erschien 1972 Otto F. Gmelins Buch Böses kommt aus Kinderbüchern. Die Märchen, so Gmelin, konfrontierten Kinder mit überlebten Tugenden, lenkten von der Wirklichkeit ab und erzögen sie zur Passivität. Es ist kein Zufall, dass Heinz Röllekes Aufsatz „Grimms Märchen als sprachliches Kunstwerk“ (2004) gleich eine doppelte Reminiszenz an den Entstehungskontext seiner philologischen Märchenforschung enthält. Indem er die ästhetisch-erzieherische Bedeutung der KHM herausarbeitete, hielt er sowohl den auf Formensprache und Werkimmanenz abgestellten Kollegen der sechziger Jahre als auch dem „Märchenkritiker im Gefolge der 68er Jahre“ vor, dass Generationen deutschsprachiger Kinder hier bei diesen Märchen ihre erste und prägende Begegnung mit der Literatursprache erhalten hatten.
Heinz Röllekes philologische Untersuchungen der Oelenberger Manuskripte und der Handexemplare der KHM, die penible Examination der Handschriften und ihrer materialen Qualitäten sowie die Abgleiche der verfügbaren Daten brachten eine Reihe von neuen Erkenntnissen zur Entstehungsgeschichte der Grimm’schen Märchen hervor. Durch eine solche Autopsie der Quellen gelang Heinz Rölleke ein literaturwissenschaftlicher Paukenschlag, der nicht nur die Fachwelt aufhorchen ließ. Er konnte den von Herman Grimm in die Welt gesetzten und von Johannes Bolte sowie Wilhelm Schoof fortgepflogenen Mythos der „Alten Marie“, einer vermeintlichen Märchenbeiträgerin in der Kasseler Wild’schen Apotheke, aufklären. Hinter jener im Handexemplar als „Marie“ bezeichneten Beiträgerin verbarg sich nicht die Wirtschafterin Marie Müller (1747–1826), sondern die 1788 geborene, junge Marie Hassenpflug, deren Vorfahren überdies nach Frankreich zurückverfolgt werden konnten. Die Offenlegung derartiger soziokultureller Zusammenhänge veränderte den Blick auf die Kinder- und Hausmärchen, deren europäische Erzähltraditionen sich an diesem Beispiel – fast symbolisch – gegenüber der mythologischen Sichtweise der Brüder Grimm materialisierten. So bedeutend und richtig diese Entdeckung war, führte sie in den folgenden Jahrzehnten zu einem regelrechten Abschreibungsfuror, der Teile des Werkes der Brüder Grimm oft ungerechtfertigt und gelegentlich mit einer Portion moralischer Gegenwartshybris als verschwiegene französische Tradition oder gar als reaktionäres Konstrukt abtun wollte. Gelegentlich musste Heinz Rölleke selbst mit einem Donnerwort eingreifen und die ins Kraut schießenden Phantasien – etwa über Dorothea Viehmanns französisches Märchenrepertoire oder philologisch nicht haltbare archetypische Symbolauslegungen – zurechtstutzen.
Heinz Rölleke war die komplizierte Textgeschichte der KHM wie kaum einem anderen bewusst. Bei jeder neuen Auflage der sieben Großen und zehn Kleinen Ausgaben der KHM wurden von Wilhelm Grimm textliche Veränderungen an den Märchenerzählungen vorgenommen. Die wichtigen dieser Auflagen edierte Heinz Rölleke neu und machte sie damit einem interessierten Märchenpublikum und einer breiten Leserschaft zugänglich. Nach der Edition der Ältesten Märchensammlung der Brüder Grimm im Jahr 1975 folgten 1977 weitere Märchen aus dem Nachlaß der Brüder Grimm, 1980 die kommentierte Große Ausgabe letzter Hand, 1982 die zweite Auflage der Großen Ausgabe von 1819, 1985 die zehnte Auflage der Kleinen Ausgabe von 1858 und die dritte Auflage der Großen Ausgabe von 1837, 1986 die Faksimile-Ausgabe der Handexemplare der Erstausgabe, schließlich 1987 Unbekannte Märchen der Brüder Grimm. All diese Editionen erschienen in mehreren Auflagen. Weitere Monographien zum Umfeld der Brüder Grimm behandelten unter anderem die Wandlungen des Märchens vom Fischer und seiner Frau, den unbekannten Bruder Ferdinand oder führten in die KHM oder die darin enthaltenen Redensarten oder Quellen der Brüder Grimm ein.
Die Zahl der Aufsätze Heinz Röllekes ist so hoch, dass selbst seine Arbeiten zum engeren Forschungsfeld der Kinder- und Hausmärchen kaum zu überschauen sind. Sie wurden sowohl in Zeitschriften als auch in Sammelbänden veröffentlicht, die wiederum in mehreren Auflagen erschienen sind. Der erste einschlägige Aufsatz aus dem Jahr 1972 widmete sich einer unbekannten Fassung von Allerleirauh und bis an sein Lebensende blieb er den KHM-Forschungen mit über 100 Aufsätzen treu. Konzentrierten sich diese Studien zunächst auf die Herkunft, die literarischen Quellen, die Urfassungen oder die Beiträger und ihren biographischen Kontext, ließ sich in den 1980er Jahren eine thematische Erweiterung beobachten, indem den Ursprüngen von Volkssprachlichem, Redensarten und Zitaten, Figurentypen oder Motiven in den Märchen der Brüder Grimm nachgegangen wurde. Ein nicht unwesentlicher Teil seiner Publikationen sind Miszellen, in denen er literaturhistorische Funde ausbreiten, Zitatquellen oder sprachgeschichtlichen Erwägungen nachgehen konnte. Im Wirkenden Wort, für das er seit 1978 als Mitherausgeber, seit 1990 als Herausgeber verantwortlich war, stand ihm viele Jahre der erste Platz im Heft zur Verfügung. Zuletzt publizierte er vorwiegend in den Wuppertaler Musenblättern.
Gesundheitlich eingeschränkt, musste Heinz Rölleke seine rastlose Vortragstätigkeit in der Coronazeit aufgeben. Auch hier hat er Herausragendes geleistet. Er konnte seine Themen nicht nur verständlich und für ein breites Publikum packend darstellen. Sein Erzähltalent, sein großartiger Humor und sein Gespür für Anekdotisches fügten sich mit seinem umfassenden Wissen zu einer Vorstellung, die jedem, der sie einmal gehört und gesehen hat, in Erinnerung bleiben muss. – Es gibt auch keinen Zweifel, dass seine Forschungen und sein Werk die Zeiten überdauern werden.
Holger Ehrhardt
Kassel
About the author
Professor für Germanistik
© 2023 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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