Zusammenfassung
Das Ddakjibon (딱지본) bezeichnet eine Art populären Lesestoff mit bunten Buchumschlägen in der koreanischen Moderne, der etwa 1900 mit der Einführung der modernen Drucktechnik aufkam. Ddakjibon waren billige, dünne Hefte oder Bücher mit Druckpapier niedriger Qualität. Sie wurden bis in die 1970er Jahre durch kleine Händler und Kolporteuren auf dem Markt bzw. auf der Straße verkauft. Ihre Rezeption erfolgte sowohl durch berufliche Vorleser als auch durch private Lektüre. An diesen unterschiedlichen Lektüreformen soll die Herausbildung des modernen Lesepublikums in Korea und die Übergangsphase von einer semi-oralen bzw. semi-literalen zu einer schriftbasierten Kultur herausgearbeitet werden.
Abstract
Ddakjibon (딱지본) are a form of popular reading material with colourful covers that emerged in Korea with the introduction of modern printing techniques around 1900. Ddakjibon were thin, affordable books or booklets printed on low-quality paper. They were sold by small traders and pedlars at markets and on the streets into the 1970s. They reached their audience through being read aloud by professionals as well as being read silently. The formation of a modern reading public in Korea, and the period of transition between a semi-oral (or semi-literate) and writing-based culture, will be examined with reference to these different ways of reading.
1 Ddakjibon und die koreanische Moderne
Der koreanische Name Ddakjibon ist vom Kinderspielzeug ‚Ddakji 딱지‘ abgeleitet, das aus einem aus verschiedenfarbigen starken Papierbogen gefalteten quadratischen, flachen ‚Kissen‘ besteht, das im Laufe des Spiels – wie Murmeln – geworfen wird, wodurch man neue Ddakji gewinnt oder die eigenen verliert. Und da die farbigen Buchcover der Ddakjibon an die Ddakji erinnern, sind sie so zu ihrem Namen gekommen.
Der Inhalt des Ddakjibons lässt sich hauptsächlich in zwei Gruppen kategorisieren: 1. Romane,[1] sowohl ‚Alter Roman‘ (고소설, Gososeol) als auch ‚Neuer Roman‘ (신소설, Shinsoseol); dazu kommen Übersetzungen und Bearbeitungen ausländischer Romane und Erzählungen; 2. Liedersammlungen; 3. historische Romane, Biographien 4. Sachbücher, zum Beispiel über Landwirtschaft, Briefsteller. Das Ddakjibon wurde umgangssprachlich als ‚Erzählbuch‘ (이야기책, Iyagi Chaeck) bezeichnet, wissenschaftlich hingegen als ‚alter Roman in typographischem Druck‘ (활자본 고소설, Hwaljabon Gososeol). Das Ddakjibon bildete die „Unterhaltungsliteratur, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mode kam“ (Yu 2018, 599). Die Bücher selber, ihre konkrete Gestalt und Gestaltung, sind eine wichtige Quelle für die Geschichte des Lesens in Korea (vgl. dazu Messerli 2010, 457). Das Publikationsformat sowie die Distributions- und Rezeptionsprozesse des Ddakjibons geben Hinweise auf die Modernisierung der Buch- und Lesekultur, außerdem auf das Leseverhalten des Publikums. In dieser Beziehung lassen sich Parallelen zum westlichen Kolportage- und Groschenroman und überdies zum japanischen Goudanhon (講談本) ziehen.
Die koreanische Moderne, die mit der Hafenöffnung aufgrund des Japan-Korea-Vertrag von 1876 begann,[2] war eine Epoche, die durch die Einführung der westlichen Kultur, durch die japanische Kolonialzeit (1910–1945) und damit vom Wechsel und Konflikt unterschiedlicher kultureller Hegemonien geprägt war. Man kann von einer hybriden Kultur sprechen, gekennzeichnet von Aufnahme, Vermischung und Exklusion unterschiedlicher Einflüsse: traditioneller, westlicher (nicht nur durch Missionare) und japanischer. Dies voraussetzend, möchte der vorliegende Beitrag zum einen die Materialität des Ddakjibons als eine Kulturware der Moderne, zum anderen seine Themen und Erzählweisen analysieren und darüber hinaus seine literaturgeschichtliche Bedeutung für die Entstehung der modernen Leserschaft und die Verbreitung der Populärliteratur in der koreanischen Moderne kritisch darstellen.
2 Populärromane in Korea um 1900
2.1 Populärromane als street literature
Laut Roger Chartier ist das Lesen „eine Praxis, die in einer spezifischen Handlung, einem spezifischen Raum und einer spezifischen Gewohnheit verkörpert ist“ (Chartier 1990, 13), die mit „den einzigartigen Bedingungen der Lesergemeinschaft, der Lesetradition und der Lesepraxis“ (Chartier 1990, 13) zusammenhängt. Die Ddakjibon-Romane ‚übernahmen‘ einerseits die Leser und das Lese- und Rezeptionsverfahren der populären Romane der Joseon-Dynastie (1392–1910) der vormodernen Zeit; andererseits unterschieden sie sich davon als ‚Produkte der Moderne‘, die sich einer neuen Drucktechnik verdanken.
Die populären vormodernen Lesestoffe und die Leselandschaft in Korea um 1900 lassen sich anhand von Aufzeichnungen westlicher Missionare und Diplomaten, die sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Korea aufhielten, annähernd skizzieren. So beschreiben der britische Diplomat William George Aston (1841–1911), der französische Diplomat Maurice Courant (1865–1935) und der amerikanische Missionar und Pädagoge Homer B. Hulbert (1863–1949) in ihren Aufzeichnungen auch die koreanische Literatur. Sie vermitteln Einblicke in die Erzähltechniken und in Distributions- und Rezeptionsformen der vormodernen populären koreanischen Romane. So schreibt Aston im Aufsatz Corean Popular Literature (1890):
For the volumes in which the native Corean literature is contained, we must search the temporary stalls which line the main thoroughfares of the capital or the little shops where they are set out for sale along with paper, pipes, oil paper, covers for hats, tobacco pouches, shoes, inkstones crockery – the omnium gatherum [das Sammelsurium], in short, of a Corean ‚General Store‘. (Aston 1890, 104)
Astons Beschreibung entspricht genau dem etymologischen Sinn des Wortes street literature,[3] was im Deutschen Trivialliteratur genannt wird (vgl. Nünning 2013, 766). Unterschiede zur Hochliteratur zeigt die populäre Literatur als Literatur der Straße hinsichtlich der Publikationsformen, der Schriftzeichen, der Leserschaft und der Rezeptionsformen. Das traditionelle koreanische Buch hingegen bot sich dem Lesepublikum in einer eher unattraktiven Form dar:
Little has been done to present them to the public in an attractive form. They are usually limp quartos, bound with coarse red thread in dirty yellow paper covers, after the manner with which we are familiar in Japan. Each volume contains some twenty or thirty sheets of a flimsy grayish paper, […] One volume generally constitutes an entire work. There are no fly leaves, no title-page, no printer’s or publisher’s name and no date or place of publication. Even the author’s name is not given. (Aston 1890, 104)
Aston vergleicht die koreanische mit der standardisierten europäischen Publikationsform und stellt fest, dass dem vormodernen koreanischen Buch Angaben wie der Name des Verfassers, des Verlages, des Erscheinungsortes und das Erscheinungsdatum fehlen. Manchmal gibt es nicht einmal ein Titelblatt. Es handelte sich um dünne Büchlein (20 bis 30 Blatt bzw. 40 bis 60 Seiten), deren einzelne Blätter mit einem Faden zu einem Buchblock gebunden wurden. Der Buchumschlag diente rein funktional lediglich dem Schutz des Buchblocks.
2.2 Populärromane in Hangul: schichtspezifische Lesestoffe und Distributionsformen
Die Leserschaft der populären Literatur, die als handschriftliche Manuskripte oder im Holzschnittverfahren gedruckte dünne Heftchen oder Bücher auf den Markt kam, setzte sich in der Hauptsache aus Frauen, Händlern, Bauern und Arbeitern zusammen. Die Büchlein wurden meist in koreanischen Schriftzeichen, in Hangul, veröffentlicht, wohingegen die chinesischen Schriftzeichen in offiziellen Dokumenten Verwendung fanden. Ähnlich wie das Lateinische als akademische Sprache in Europa, „tendiert die chinesische Silbenschrift […] viel stärker dazu, sich von den oralen Kommunikationsformen zu trennen“ (Giesecke 1998, 31). Das komplizierte Schriftsystem wurde „zur Separierung von Eliten (‚Priesterherrschaft‘) und zur Privatisierung bzw. Geheimhaltung von Informationen ausgenutzt“ (Giesecke 1998, 31). Das bedeutet: Das auf chinesische Schriftzeichen zentrierte Schriftsystem in der Joseon-Zeit führte zu schichtspezifischen Lesestoffen und Leseverfahren. In Bibliographie coréenne (1901) schreibt Courant über die damalige Leserschaft des populären Romans und seine Rezeption, dass das Lesen eines Romans in Hangul für die Mittelschicht schambesetzt gewesen sei. Die Leser und Leserinnen, die Hangul lesen konnten, waren jedoch zahlreich, während nur wenige chinesische Schriftzeichen verstanden.[4] So erklärt Hulbert in The passing of Korea (1906):
These that we have mentioned are written in Chinese characters, but Korea is also filled with fiction written only in the native character. Nominally these tales are despised by the literary class, which forms a small fraction of the people, but in reality there are very few even of this class who are not thoroughly conversant with the contents of these novels. They are on sale in every bookstore in the country, and in Seoul alone there are several circulating libraries where novels both in Chinese and in pure Korean are found by the hundreds. (Hulbert 1906, 311)
Dies beweist, dass in den verschiedenen sozialen Klassen Unterschiedliches und unterschiedlich gelesen wurde und dass es also schon in der Vormoderne schichtspezifische Lesestoffe gab. In der späten Joseon-Zeit verlagerte sich der Lesestoff der gebildeten Klasse von konfuzianischen Schriften und philosophischen Büchern hin zu westlichen und japanischen Büchern, während der Lesestoff breiter Bevölkerungsschichten populäre koreanische Romane waren. Und diese sozialen Schichtungen sind zugleich von unterschiedlichen Schriftsystemen geprägt: Im Fall der Gebildeten in der vormodernen Periode durch chinesische und dann auch durch japanische Schriftzeichen bei den übrigen anderen durch Hangul.
2.3 Das Rezeptionsverfahren des Populärromans: mündliche Kultur und Vorleser
Vor der Verbreitung des westlichen Schulsystems und der Alphabetisierung in Hangul konnten nur wenige Leser selber die Lesestoffe lesen. Noch bis in die 1920er Jahre waren Leseunkundige auf das Vorlesen durch andere angewiesen:
Ein Alter, der Erzählungen vorliest, lebt außerhalb von Dongdaemun. Er sagt Erzählungen wie Sukhyang-jeon [dt.: Die Erzählung von Sukhyang], Sodaeseong-jeon [dt.: Die Erzählung von Sodaeseong], Shimcheong-jeon [dt.: Die Erzählung von Shimcheong] und Seolingui-jeon [dt.: Die Erzählung von Seolingui] auswendig auf, die in der Umgangssprache geschrieben sind. Er las sitzend unter der ersten Brücke in Cheonggyecheon am ersten Tag, unter der zweiten Brücke am zweiten Tag, in Ihyeon am dritten Tag, am Eingang zum Gyodong an den ersten vier Tagen, am Eingang zum Daesa-dong am fünften Tag und vor dem Jongru am sechsten Tag […] Weil der Alte ein guter Vorleser war, versammelten sich Zuschauer um ihn. Wenn er während der Lesung die spannendste und wichtigste Passage erreicht hatte, die ihre Neugier weckte, schloss der Alte abrupt den Mund und sagte nichts mehr. Dann wollten die Leute weiterhören, also warfen sie Geld, drängten ihn und sagten: „Dies ist seine Strategie, Geld zu verlangen!“ (Cho 2010, 119–120)[5]
Vorleser (genannt Jeongisu, 전기수) traditioneller Romane genossen beim Publikum große Popularität. Vorgelesen wurden Familienromane, Liebesromane und Heldenromane, in denen konfuzianische Wertvorstellungen wie Treue und kindliche Pietät gegenüber den Eltern wichtig sind. Nach Hulbert existierte noch eine andere Form, in den Genuss von Literatur zu kommen. Wer wohlhabend war und einen ‚Roman‘ hören und ihn nicht lesen wollte, der bestellte einen Sänger eines Pansoris, „kwang-da[e]“, ins Haus, der von einem Trommler an einer Fasstrommel begleitet wurde:
There remains here in full force that ancient custom which antedates the printing of books, of handing down stories by word of mouth. If a gentleman of means wants to ‘read’ a novel, he does not ordinarily send put to a book-stall and buy one, but he sends for a ‘kwang-da[e]’ [= performer], or professional story-teller, who comes with his attendant and drum and recites a story, often consuming an entire day or even two days in the recital. Is there any radical difference between this and the novel? In truth, it far excels our novel as an artistic production, for the trained accent and intonation of the reciter add an histrionic element that is quite lacking when one merely reads a novel. This form of recital takes the place of the drama in Korea. (Hulbert 1906, 312)
Im Gegensatz zur privaten Lektüre ermöglicht das Recital auch eine kollektive Rezeption, die als Performanz interaktiv ist und visuelle und auditive Gestaltungselemente wie Kostüm, Bewegung, Stimme, Gesang und Musik einschließt. Die Populärliteratur wurde demnach in Form einer gemeinsamen „Lektüre“ mündlich überliefert, was als Übergangsform zwischen einer ausschließlich mündlichen Folklore einerseits und einer nur noch gelesenen andererseits verstanden werden kann. Ihr liegen Texte (Manuskripte oder gedruckte Blockbücher) zugrunde, die in der Performanz re-oralisiert wurden – eine Distributions- und Rezeptionsform, die sich in Korea bis in die 1930er Jahre beobachten lässt. Nach Cheon Jeong-hwan ist die gemeinschaftliche Lektüre ein Phänomen, das vom gemeinsamen Besitz eines Buches, über das familiäre Vorlesen im Empfangszimmer bis zur öffentlichen Lesung eines professionellen Vorlesers auf dem Markt reichte (Cheon 2014, 111–112).
3 Ddakjibon: Ein populärer Lesestoff in der koreanischen Moderne
3.1 Ddakjibon und die Theorie des Massenromans (1929) von Kim Ki-jin
Kim Ki-jin (1903–1985), ein koreanischer Literaturkritiker, beschrieb in seiner Theorie des Massenromans (대중소설론) (1929) den Konsum von Trivialromanen in den 1920er Jahren. Dabei geht er auch auf das Medium Ddakjibon ein und analysiert seine Sprache und erzählerischen Merkmale. Die von ihm untersuchten Ddakjibon sind dem Typus ‚alte Romane‘ zuzurechnen, die in den 1920er Jahren am häufigsten publiziert wurden und deren Popularität bis in die 1930er andauerte. Kim Ki-jin beschreib zunächst die materiellen Merkmale wie Buchumschlag, Druckform, Typographie, anschließend die Konsumtion bzw. Rezeption:
Der Grund, warum sie [die Leser] ein solches Buch [Ddakjibon] kaufen, lässt sich wie folgt erklären: Der bunt gestaltete Buchumschlag erregt die Neugier und das Kaufbedürfnis, und der Großdruck bewirkt, dass die Leser bei der Lektüre im Kerzenlicht keine Augenschmerzen bekommen. Die Romane sind billig und damit dem Kaufvermögen der Unterschichtenleser angepasst, die sich gut ein bis zwei Exemplare auf einmal leisten können. (Kim 1929/2015, 100; Übersetzung K.S.)
Das billige Buch mit dem „bunt gestalteten Buchumschlag“ bezeichnet er als ein Massenprodukt der modernen kapitalistischen Gesellschaft, dessen prächtiges Cover Vermarktungsstrategie sei und auf Massenkonsum abziele. Die Leserschaft des Ddakjibons siedelt Kim bei „Arbeitern und Bauern“ an, deren Bildungsgrad, Geschmack und Interesse die Bücher entsprächen. Kim folgt jedoch dem binären Schema von Hochliteratur und Trivialkultur und sieht letztere als „zweitrangige Literatur“, wenn nicht als „Schundliteratur“ an:
Die Sätze sind einfach und zum Vorlesen geeignet. Der sogenannte ‚sentimentale‘ Text bezaubert sie [die Leser], weshalb sie ihn gerne lesen. Das Unglück und die traurige Geschichte von einem tüchtigen Mann und einer schönen Frau lassen sie weinen, die Erfolgsgeschichte von Reichtum und Ruhm befreit sie für eine kurze Zeit von ihrer elenden Realität und lässt sie sich als himmlische Wesen fühlen. Die erotische und obszöne Geschichte erregt ihr Lustgefühl und lässt sie das Buch nicht weglegen. Oft wollen sie das Buch nicht alleine lesen und lassen ihre Nachbarn mithören, indem sie es spannungsvoll laut vorlesen. (Kim 1929/2015, 101; Übersetzung K.S.)
Als Aufklärer hielt Kim Ki-jin die Liebesgeschichten und Erfolgsgeschichten der alten Romane für „banale“ und „pädagogisch nicht wertvolle“ Erzählungen. Er kritisierte sie aufgrund ihrer Sentimentalität und Unwirklichkeit; sie würden das Denkvermögen des Volkes einschränken. Diese Geschichten, die von der vormodernen konfuzianischen Weltanschauung und deren Moral und sozialen Konventionen geprägt seien, könnten nicht zu realistischen Erkenntnissen und Einsichten und zur Aufklärung des Volks beitragen und verfehlten damit den Zweck von Literatur. Sich wiederholende Motive und Handlungen zeigen im Übrigen einerseits die kulturelle Hybridität der koreanischen Moderne an, die sich in einer Übergangsphase befand, in der sich einerseits das Feudalsystem und die auf dem Konfuzianismus fußende patriarchalische Gesellschaft auflösten, andererseits dass sich durch die neu eingeführte Kultur des Westens und die koloniale Beherrschung durch Japan und dessen Kulturpolitik ein Konflikt- bzw. Konkurrenzfeld der verschiedenen Kulturen und Wertesysteme eröffnete.
3.2 Die Materialität und die Bestandteile des Ddakjibons
Die Buchgröße des Ddakjibons entspricht etwa der heutigen DIN-B6-Größe (125 × 176 mm, mit den Varianten 128 × 188 mm, 136 × 200 mm, 152 × 223 mm und 148 × 210 mm), und es enthält durchschnittlich 100 Seiten. Für den Buchumschlag wird Pappe, für den Buchblock raues Papier verwendet. Die Bucheinbindung erfolgte als Fadenheftung oder Klebebindung, die kostengünstig hergestellt werden konnte. Das traditionelle Buchbindeverfahren in der Joseon-Dynastie bestand darin, fünf Löcher im Buchblock anzubringen und anschließend die Seiten mit einem starken, geflochtenen Faden zu heften. Für Bücher mit dem westlichen Typendruck wurde die westliche Bindung mit vier Löchern realisiert. Ab 1909 wurde das westliche Buchbindeverfahren generell eingeführt (vgl. Ryu 2015, 279). Ddakjibons zeigen sowohl die ältere Bindung mit fünf Löchern als auch die westliche mit vier. Um den fadengehefteten Buchblock wird anschließend der Buchumschlag geklebt. Diese Realisierung der Buchform verfolgt einen praktischen Zweck: Das Buch ist leicht zu tragen und in leserfreundlichem Hangul gedruckt.
3.2.1 Buchumschlag und Cover-Illustration
Cover-Illustrationen wurden als mehrfarbige Lithografien oder Holzschnitte hergestellt. Im Unterschied zum vormodernen Buchcover, das sich auf den Schutz des Buchblocks konzentrierte, zogen die farbenprächtigen Umschlag-Illustrationen der modernen Ddakjibons die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf sich, verhalfen dem Buchmarkt in Korea zu seinem kommerziellen Durchbruch, in welchem fortan die Cover-Illustrationen als visuelle Werbung für das Buch fungieren (vgl. Seo 2009, 52–75). Abgesehen von einigen bekannten Autoren wurde die Text der Ddakjibons anonym verfasst. Die Verfasser wurden vom Verlag temporär angestellt. Die von ihnen zu schreibenden Texte – sei es eine Bearbeitung eines vorhandenen Romans, oder eine Neufassung – wurden vom Verlag vorgegeben.
3.2.2 Buchblock: Mise-en-page, Typographie
Im Buchblock lassen sich das Layout (die Gestaltung der einzelnen Seite) und die Typographie unterscheiden. Spezielle paratexuelle Teile des Ddakjibons sind Kolophon bzw. Impressum und Werbung. Die Mise-en-page des Ddakjibon (Bleisatz bzw. Hochdruck) ist bezüglich der Effizienz revolutionär: Einerseits werden durch die regelmäßige und dichte Zeichendarstellung mehr Zeichen pro Seite darstellbar, andererseits erhöht sich die Lesbarkeit durch die leicht lesbare Schriftart 4 (Hanseong-Schrift). Auch die Verwendung standardisierter Seitenlayouts und die Einführung von Seitenzahlen unterscheidet die neuen Ddakjibons von den traditionellen Lesestoffen. Die allmähliche Etablierung einer Druckkultur löst aber die ältere Manuskriptkultur nicht einfach ab, vielmehr koexistieren sie eine Zeitlang nebeneinander. In den Texten aus den 1910er Jahren wie Parkyeon Pokpo (박연폭포 1913, Verlag: Yuil seogwan), Yeonuigak (연의각 1913, Verlag: Shingu seorim) und Anuiseong (안의셩 1914, Verlag: Parkmun seogwan) werden bereits Wortabstände, Absätze und noch immer chinesische Schriftzeichen verwendet, in den Ddakjibon-Ausgaben derselben Texte in den 1920er und 1930er Jahren nicht mehr. Hier sind eher die immer noch von der mündlichen Kultur geprägten Sätze auffällig, die additiv Satzteil an Satzteil, ohne alle Interpunktion, aneinanderreihen. Die Verwendungen von Wortabstand, Satzzeichen (Punkt) oder Absätzen ist Ausdruck der Schriftkultur, und sie koexistierte in der koreanischen Moderne lange mit der mündlichen Kultur.
![Abb. 1: 안의셩 [Anuiseong], Seoul: 박문서관 [Parkmun seokwan] 1914: National Library of Korea, KMO000073624](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_001.jpg)
안의셩 [Anuiseong], Seoul: 박문서관 [Parkmun seokwan] 1914: National Library of Korea, KMO000073624
![Abb. 2: 박씨부인전 [Parkssibuin-jeon], Seoul: 대창서원 [Daechang seowon] 1920: National Library of Korea, KMO000073996](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_002.jpg)
박씨부인전 [Parkssibuin-jeon], Seoul: 대창서원 [Daechang seowon] 1920: National Library of Korea, KMO000073996
![Abb. 3: 부용의상사곡 [Buyonguisangsagok], Seoul: 신구서림 [Shingu seorim] 1921: National Library of Korea, CNTS-00047818757](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_003.jpg)
부용의상사곡 [Buyonguisangsagok], Seoul: 신구서림 [Shingu seorim] 1921: National Library of Korea, CNTS-00047818757
Im Text von Anuiseong wird der Dialog in direkter Rede durch eine Art Anführungszeichen (『』) kenntlich gemacht; die chinesischen Zeichen werden in Klammern mitgedruckt (Abb. 1). Die Kennzeichnung des Dialogs ist ein Indiz für eine visuell-stumme Lektüre,[6] während sich der Text von Parkssibuin-jeon (박씨부인전, dt.: Die Erzählung von Frau Park) hingegen an der mündlichen Lektüre orientiert und keine sichtbare Trennung der Wörter und keine Kennzeichnung der direkten Rede aufweist (Abb. 2). In Buyonguisangsagok (부용의상사곡) werden chinesische Zeichen im Textlayout verwendet, sodass ein gemischter Text entsteht, auch wenn hier Hangul als die Hauptschrift und die chinesischen Zeichen als zusätzliche Lesehilfe ‚mitgeschrieben‘ sind (Abb. 3). Im Text ohne Wortabstand und ohne Absatz haben die chinesischen Zeichen die Aufgabe, die Satzbestanteile zu unterscheiden und den Sinn zu verdeutlichen. Die Mitschreibung der chinesischen Zeichen belegt die Verschriftlichung in Hinblick auf eine visuelle Lektüre.
Im Text von Parkssibuin-jeon werden keine Wortabstände und keine Schlusszeichen zur Markierung von Satzende verwendet, was die Nähe zur Mündlichkeit signalisiert. Der Leser, der stummes bzw. visuelles Lesen mit Hilfe von Satzzeichen gewohnt ist, hat Schwierigkeiten, den Text zu verstehen. Um das zu können, muss man ihn laut lesen. Diese mündlichen Elemente im geschriebenen bzw. gedruckten Text zeigen, dass der Lektüremodus des Vorlesens – lautes Lesen und gemeinschaftliche Lektüre – zu dieser Zeit noch neben dem stillen Lesen üblich war. Der sprachlich-textliche Wandel des Ddakjibon durch die Typografie lässt sich mit der Wirkung der Erfindung Gutenbergs vergleichen, die durch die Drucktechnik zur Verbreitung von Schriften in den Volkssprachen und zur Etablierung der unterschiedlichen Schriftsprachen in den jeweiligen Ländern führte (vgl. Febvre/Martin 1958, 349–354). Auch in Korea bedeutet die Einführung des typographischen Druckverfahrens eine massenhafte Produktion für viele Leser.
Der in Hangul geschriebene Ddakjibon-Roman hat die volkstümliche gesprochene Sprache mit ihren zahlreichen Onomatopoetika in die koreanische Literatur eingeführt und dadurch ihr Ausdruckspotenzial erweitert. Zugleich beschleunigte der moderne Typendruck die Standardisierung der gedruckten Sprache. Die Schreibregeln wurden von den Lesern rezipiert und beeinflussten dann ihre eigenen Schreibpraktiken.
3.2.3 Verlagswerbung und Kolophon
Die Verlagswerbung ist als Element des Vertriebs und Verkaufs ein Bestandteil des Ddakjibons und steht in den meisten Fällen am Ende des Buchs in Form einer Auflistung weiterer im Verlag vorrätiger Bücher, nebst Informationen über Verkaufs- und Bestellmodalitäten. Im Folgenden seien Verlagswerbung und eine Buchliste, zusammen mit dem Kolophon bzw. dem Impressum des Ddakjibon-Romans Daejangbu (대장부), aus dem Jahr 1926 vorgestellt. In der Verlagswerbung ist Folgendes zu lesen:
Tausend Sorten von alten und neuen Romanen stehen in großer Auswahl zur Verfügung. Den Buchhändlern und den Lesern werden sie nach Wunsch sowohl in kleinen als auch großen Mengen mit Sonderrabatt angeboten. Profitieren Sie erst einmal von einer Bestellprobe. Die Verkaufsstrategie unseres Verlags folgt dem Motto ‚kleine Gewinnspanne, rascher Umsatz‘, ein unkomplizierter und vertrauensvoller Umgang mit Kunden ist uns wichtig. […] Dem Buchhändler in der Provinz wird ein noch größerer Sonderrabatt eingeräumt. (Anonym: 1927; Übersetzung K.S.)
Die Verkaufsstrategie des Verlags lag demnach darin, durch den Verkauf einer großen Menge an Ddakjibon zu einem niedrigen Preis einen Gewinn zu erzielen. Die Tatsache, dass laut Werbung unterschiedliche Sonderrabatte eingeräumt werden, obwohl in der Buchliste ein Fixpreis angegeben ist, zeigt, dass der Verlag den Preis flexibel hielt und auf einen Gewinn durch den Engroshandel abzielte. Außerdem sollte der Buchvertrieb außerhalb von Seoul gefördert werden, indem den lokalen Buchhändlern, die damals für den Einkauf und den Transport von Büchern zuständig waren, spezielle Rabatte gewährt wurden.
![Abb. 4: 옥매화 [Okmaehwa], Seoul: 보급서관 [Bogeup seogwan] 1913: National Library of Korea, CNTS-00047818853](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_004.jpg)
옥매화 [Okmaehwa], Seoul: 보급서관 [Bogeup seogwan] 1913: National Library of Korea, CNTS-00047818853
![Abb. 5: 유츙렬젼 [Yuchungryul-jeon], Seoul: 회동서관 [Hoedong seogwan] 1925: National Library of Korea, KMO000073573](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_005.jpg)
유츙렬젼 [Yuchungryul-jeon], Seoul: 회동서관 [Hoedong seogwan] 1925: National Library of Korea, KMO000073573
![Abb. 6: 안의셩 [Anuiseong], Seoul: 박문서관 [Parkmun seokwan] 1914: National Library of Korea, KMO000073624](/document/doi/10.1515/fabula-2023-0019/asset/graphic/j_fabula-2023-0019_fig_006.jpg)
안의셩 [Anuiseong], Seoul: 박문서관 [Parkmun seokwan] 1914: National Library of Korea, KMO000073624
Das Impressum wurde mit dem Publikationsgesetz (veröffentlicht am 23. Februar 1909) gesetzlich geregelt. In den 1910er Jahren nahm das Impressum eine ganze Seite ein und wurde später zusammen mit der Verlagswerbung gedruckt. Es ist mit dem Impressum damaliger japanischer Publikationen identisch: Die Publikationsinformationen umfassen folgende Angaben (Abb. 4, von rechts nach links):
Druckdatum (nach der japanischen Jahreszählung); Taisho 大正 2. 5. 20.
(= 20. 5. 1913),
Publikationsdatum; Taisho 大正 2. 5. 22. (= 22. 5. 1913),
Buchtitel
Buchpreis
Name des Verfassers bzw. Verlegers (rechts Adresse)
Name des Druckers (rechts Adresse)
Name der Druckerei (rechts Adresse)
Name des Verlags (rechts Adresse)
Die Stempel der kolonialen Zensur
Der eine Stempel der kolonialen Zensur kennzeichnet das Duplikat (複本), das Exemplar, welches man nach der Zensur abgeben musste und das in der Bibliothek des japanischen Generalgouvernements (朝鮮總督府圖書館, im Stempel von links nach rechts, Abb. 5) aufbewahrt wurde, und der andere kennzeichnet das Exemplar zur Archivierung (保轉本), aufbewahrt in der Polizeibehörde des japanischen Generalgouvernements (朝鮮總督府警務局, im Stempel oben links nach rechts, Abb. 6). Im April 1923 wurde die Bücherabteilung in der Polizeibehörde des japanischen Generalgouvernements etabliert, die im Wesentlich aus der Zensurabteilung bestand. Nach Han Ki-hyung zielten die Publikationszensur und das Genehmigungsverfahren der Zensurbehörde darauf ab, die Wissensproduktion in der Kolonie Joseon (Korea) zu überwachen und nötigenfalls zu zensieren (Han 2019, 53).[7]
Berücksichtigt man, dass in den 1920er Jahren mehrheitlich japanische Bücher auf dem Buchmarkt des kolonisierten Korea vertreten waren, die nach der Veröffentlichungsgenehmigung keinerlei Zensur mehr unterworfen waren (Han 2019, 93), und dass Koreanisch lediglich als „eine Regionalsprache“ geduldet wurde, lässt sich die Bedeutung der Ddakjibon-Romane folgendermaßen beschreiben: Einerseits stellten sie eine „koloniale Buchkultur unter der japanischen Zensur“ (Han 2019, 93) dar, andererseits trugen sie zur Verbreitung von Hangul als Umgangssprache der Unterdrückten bei und dienen der Alphabetisierung der Bevölkerung.
3.3 Zur Distribution und Rezeption des Ddakjibons als Massenprodukt
Der moderne Typendruck führte zu einer explosiven Steigerung der Publikationen (sowohl was die Auflagezahl als auch was die Zahl der Titel betrifft) und zu einer Preissenkung der Produkte, was eine massenhafte Distribution der Bücher ermöglichte. In den 1920er Jahren verbreiteten sich allmählich Offset- und Lichtdruck und verdrängen das ältere lithographische Druckverfahren und den Hochdruck mit beweglichen Lettern. Der moderne koreanische Lyriker Choe Nam-seon (1890–1957) weist in der Vorrede zu der Serie Yukjeon Soseol (육전소설, dt.: Sechsgroschenroman), die von seinem Verlag Shinmungwan 1913 publiziert wurde, auf den Wandel des Buchformates, des Buchpreises und des Distributionsverfahren hin:
Zurzeit hat das vereinfachte Buchdruckverfahren dazu geführt, dass massenhaft schlechte Bücher publiziert wurden. Wie kurzsichtig ist es von Vielen, die glauben, aus der Veränderung des Autornamens und des Textes schon früher verbreiteter populärer Bücher Profit schlagen zu können. Das bedauern wir, und wir wählen unter den alten Büchern deshalb sorgfältig diejenigen aus, die es verdienen, weiter vermittelt zu werden, und korrigieren Fehler in Erzählung und Text, um eine schlechte Wirkung zu verhindern. So veröffentlichen wir diesen Sechsgroschenroman, welcher die alte Erzählung erneuert und den Text der heutigen Rechtschreibung anpasst. Das Buch ist hübsch, und sein Preis ist günstig. (Choe 1913, 3, Übersetzung K.S.)
Die oben kritisierten „schlechten Bücher“ beziehen sich auf die wachsende Popularität der Ddakjibon-Romane ab den 1910er Jahren. So wurde Seosanggie (서상기, dt.: Das Westzimmer), die Übersetzung eines chinesischen Romans, von sieben Verlagen gleichzeitig veröffentlicht. Das war der erste kommerzielle Erfolg eines als Ddakjibon neu herausgegeben alten Romans. Okjunghwa (옥중화, dt.: Die Blume im Gefängnis), eine Bearbeitung des koreanischen Klassikers Chunhyang-jeon (춘향전, dt.: Die Geschichte von Chun-hyang) durch Lee Hae-jo (1869–1927), erlangte 1912 große Popularität. Aufgrund dessen begannen die Verleger zahlreich alte Romane zu publizieren. Nach Choe erklärt sich die Menge der veröffentlichten Ddakjibon-Romane in den 1910er Jahren durch den Nachdruck vorhandener Manuskripte (damals ohne Copyright), mitunter auch mehrfach und in jeweils veränderter Form. Demzufolge lässt sich das Produktionsverfahren der Ddakjibons hauptsächlich wie folgt kennzeichnen:
Nachdruck populärer alten Romane, die in Handschriften und/oder als Drucke (Holzschnittdruck, Hochdruck) vorlagen;
Bearbeitungen alter Romane, die in Handschriften und/oder als Drucke (Holzschnittdruck, Hochdruck) vorlagen;
neu verfasste Romane;
Übersetzungen von populären chinesischen oder japanischen Romanen.
Die Verlage und Druckereien, in denen die Ddakjibons publiziert wurden, waren koreanische Privatverlage und Privatdruckereien.[8]
Wegen des Distributionsverfahrens durch ambulante Buchhändler ist es schwer, exakte jährliche Verkaufszahlen der Ddakjibons anzugeben. Nach vorläufigen Recherchen ist jedoch davon auszugehen, dass mehr als 100 verschiedene Ddakjibon-Romane alten Typus von 1913 bis 1916 in 61 Verlagen veröffentlicht wurden und große Popularität erlangten (Koreanische Gesellschaft für alte Romane 2019, 52). Aus den Angaben in Zahl der Veröffentlichungsgenehmigungen von Literatur in Joseon nach Jahr und Art, die 1929 von der Polizeibehörde des japanischen Generalgouvernements veröffentlicht wurden, geht hervor, dass die Popularität des Ddakjibons bis in die 1920er Jahre anhielt. Den Angaben zufolge wurden die Ddakjibon-Romane, die darin als ‚neue und alte Romane‘ (신구新舊 소설) bezeichnet werden (nach Familienstammbüchern) am zweithäufigsten verkauft. Die Popularität der Ddakjibon wird auch für die 1930er Jahre durch eine Veröffentlichung in der Zeitschrift Samcheonri (삼천리) vom Juni 1935 über derzeitige Bestseller und ihre Distributionsweisen deutlich: Jährlich seien 70 000 Exemplare von Chunhyang-jeon, 60 000 Exemplare von Shimcheong-jeon, 45 000 Exemplare von Hongildong-jeon und 15 000 Volkslieddrucke verkauft worden, und zwar von 1 400 bis 1 500 Kolporteuren, die von einem ländlichen Markt zum anderen ziehen würden (vgl. Koreanische Gesellschaft für alte Romane 2019, 100).
Der Verkaufserfolg der Ddakjibons beweist auch den Übergang von der semi-oralen, kollektiven Vorlesekultur zur stummen, privaten Einzellektüre. Samil Undong (dt.: Die Bewegung des Ersten März 1919)[9] führte zu einer höheren Bildungsquote, und in den 1930er Jahren verbreiteten sich die Lesefähigkeit und Literarisierung infolge der Alphabetisierungskampagnen, die auf Volksaufklärung, politische Partizipation und Dekolonisierung abzielten. Die Lesenden konnten nun die Texte selber auswählen und in eigenem Tempo lesen, wobei daneben mündlich-musikalische gemeinschaftliche Rezeptionsformen mit einem beruflichen Vorleser als Performer weiterexistierten.
4 Der Ddakjibon-Roman Okjunghwa (1912) von Lee Hae-jo
4.1 Überlieferungsgeschichte
Okjunghwa von Lee Hae-jo ist eine Variante der Erzählung Chunhyang-jeon, die als eine der beliebtesten alten koreanischen Erzählungen der Joseon-Dynastie überliefert wurde und in der Bearbeitung zur Verbreitung der Ddakjibon-Romane in den 1910er Jahren beitrug. Es handelt sich hierbei um die Liebesgeschichte des Mädchens Seong Chun-hyang, der Tochter einer Kurtisane, und des jungen Mong-ryong, des Abkömmlings einer adligen Familie. Erzählt wird von der Überwindung der strengen Klassenunterschiede durch Liebe und Treue. Geprägt von den konfuzianischen Werten der Joseon-Zeit, verkörpert Chun-hyang das Idealbild der treuen Frau. Die Popularität der Erzählung ist von Beginn der koreanischen Moderne an und durch die ganze japanische Kolonialzeit ungebrochen.
Zu Chunhyang-jeon findet sich kein ‚Ursprungstext‘, aber diese Erzählung weist einen der komplexesten Überlieferungsprozesse in der älteren koreanischen Literatur auf, dessen Ursprung in Schamanengesängen bzw. in der Folklore angenommen wird. Mit den Methoden der modernen Editionswissenschaft[10] lässt sich Chunhyang-jeon als ein Fall betrachten, in dem eine in der mündlichen Kultur entstandene Geschichte schriftlich transkribiert und anschließend in unterschiedlichen Medienformen realisiert sowie in mehreren Versionen erweitert wurde. Bis heute gibt es mehr als 100 Varianten, die je nach Epoche, Region und Performer/Erzähler unterschiedlich ausgeprägt sind.[11]
Hinsichtlich seiner medialen Form kann der Text als die Verschriftlichung einer Aufführung durch einen ‚Gwangdae‘ genannten Performer von Pansori[12] oder als ein Pansori-Roman, der auf der Grundlage von Gesangstexten des Pansori entstanden ist, betrachtet werden. Diese Texte wurden meistens vom Meister auf den Lehrling von Mund zu Ohr überliefert; sie zielen auf mündliche Rezitation. Sehr selten besteht ein schriftlicher Gesangstext, der von einem anonymen Literaten für einen Meistersänger geschrieben wurde. Im Falle der Pansori-Romane waren verschiedene Varianten als Abschriften oder Nachdrucke repräsentative Textgrundlage.
Okjunghwa basiert auf dem Gesang des damaligen Pansori-Meistersängers Park Ki-hong (Geburts- und Sterbedatum unbekannt, aber neunzehntes und zwanzigstes Jahrhundert). Die von Lee Hae-jo besorgte Bearbeitung wurde in Fortsetzungen 1912 in der Zeitung Maeil Shinbo veröffentlicht. Sie gewann so große Popularität, dass sie in demselben Jahr als Ddakjibon-Roman und 1921 bereits in der 17. Auflage publiziert wurde. Sie bildete die Textgrundlage für weitere Ddakjibon-Fassungen und etablierte eine eigene Strömung im zwanzigsten Jahrhundert. Aufgrund seiner großen Popularität wird Okjunghwa für eine der wichtigsten Überlieferungen von Chunhyang-jeon gehalten. Sie belegt die Kontinuität der mündlichen neben der schriftlichen Kultur in der koreanischen Moderne, die Entstehung einer neuen Lesekultur und das zeitgenössische Wissen einerseits über die Tradition, andererseits über die Moderne im Kontext einer kolonialen Publikationspolitik.
4.2 Okjunghwa als Fortsetzungsroman
4.2.1 Das moderne Medium Zeitung in der Kolonialzeit
Die große Popularität von Okjunghwa begann als Fortsetzungsroman: Vom 1. Januar 1912 bis zum 16. März 1912 wurde die Erzählung als Umsetzung eines Pansori-Gesanges in vier Teilen in der Zeitung Maeil Shinbo veröffentlicht. Aufgrund dieses Erfolgs wurde im August desselben Jahres eine Buchausgabe als Ddakjibon im Bakmun Seogwan Verlag publiziert. Um die Popularität von Okjunghwa zu erklären, muss von der Hypothese ausgegangen werden, dass das Lesepublikum sich weder für das Werk eines Autors noch für eine bestimmte Einzelausgabe interessierte, sondern sein Interesse durch die Fortsetzungen in der Zeitung geweckt wurde. In medialer Hinsicht steht also die Popularität von Okjunghwa in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen und der Verbreitung des modernen Mediums Zeitung.
Okjunghwa in der Bearbeitung von Lee Hae-jo ist der erste Fortsetzungsroman, der das Pansori-Text-Projekt von Maeil Shinbo eröffnet. Zudem veröffentlicht Lee nicht nur Bearbeitungen von alten Pansori-Texten, sondern auch seine eigenen ‚neuen Romane‘ in Fortsetzung in Maeil Shinbo. Diese Zeitung wurde zwischen dem 30. August 1910 und dem 16. August 1945 vom japanischen Generalgouvernement herausgegeben und war von 1910 bis 1920 die einzige Zeitung, die in koreanischer Sprache publiziert wurde (in Hangul).[13] Aufgrund dessen ist die in Fortsetzung erschienene Bearbeitung des Pansori-Textes von Okjunghwa als spezifisch koloniale Konstellation und Ausdruck der japanischen Publikationspolitik zu betrachten. Dabei ist es notwendig, die Besonderheiten des Textträgers Zeitung als modernes Medium im kolonialen Korea zu berücksichtigen, dessen Bedeutung sich von derjenigen im Westen und in Japan unterscheidet.
Als eine durch den japanischen Generalgouverneur gegründete und geleitete Zeitung war Maeil Shinbo ein offizielles Medium, das den Koreanern die japanische Kolonialpolitik zu vermitteln hatte. Das Zeitungsgesetz von 1907 und das Publikationsgesetz von 1910 stellten die Redaktion und Leitung der Zeitung unter die Kontrolle des japanischen Generalgouverneurs. Die Lektüre von Maeil Shinbo wurde vom Generalgouverneur nachdrücklich empfohlen (zum Beispiel in der Ausgabe vom 1. Januar 1912, 13). Die Zeitung war ein überaus effizientes Regierungsinstrument der Kolonialzeit, denn sie adressierte das Volk, das nur Koreanisch sprach, und wurde eingesetzt, um die öffentliche Meinung zu formen und ihr die koloniale Ideologie einzupflanzen. Daraus lässt sich schließen, weshalb Okjunghwa auf der Titelseite abgedruckt wurde.
4.2.2 Kommerzieller Erfolg und Popularisierung von Okjunghwa
Bemerkenswert ist, dass die Ideen von Lee Hae-jo als Volksaufklärer mit dem Projekt eines Fortsetzungsromans im Widerspruch stehen. Lee wurde damals als Autor moderner Romane bekannt. In seinem 1910 publizierten Roman Die freie Glocke (자유종) entwickelte er Ideen über die Volksaufklärung in Dialogen, weshalb dieser Roman auch als Diskussionsroman bezeichnet wurde. Darin werden die traditionellen Erzählungen (‚alte Romane‘ wie Chunhyang-jeon) als „obszön, armselig und illusorisch“ kritisiert:
Wenn man Chunghyang-jeon liest, wie kann man Politik lernen? Wenn man Shimcheong-jeon liest, wie kann man Jura lernen? Wenn man Hong Gildong-jeon liest, wie kann man Moral lernen? Chunhyang-jeon ist ein Lehrbuch für Obszönität, Shincheong-jeon ist ein Lehrbuch für Armseligkeit, Hong Gildong-jeon ist ein Lehrbuch für Wahnsinn. Wie können schöne Sitten herrschen, wenn das Volk mit obszönem Lehrstoff unterrichtet wird, wie kann es eine Hoffnung schöpfen, wenn man ihm armseligen Unterrichtsstoff reicht, und wie kann es aufrichtig sein, wenn man es mit Illusionen abspeist? (Lee 2018, 49–50, Übersetzung K.S.)
Die Tatsache, dass Lee Hae-jo nur zwei Jahre nach Erscheinen von Die freie Glocke die Bearbeitung des Pansori-Textes als Fortsetzungsroman übernommen hat, widerspricht im Grunde seiner literarisch-politischen Intention. Es handelt sich allerdings um eine Auftragsarbeit von Maeil Shinbo. Es ist auch ungewiss, ob der Verfasser selbst den bekannten traditionellen Titel des Pansoris, Chunhayng-ga (춘향가, dt.: Das Lied von Chun-hyang), gemäß der zeitgenössischen Mode und ihrer Vorliebe für den ‚neuen Roman‘ in Okjunghwa verändert hat. Neben dem Pansori-Projekt hat er zugleich einen ‚echten‘ ‚neuen Roman‘, Chunoechun (춘외춘, Name der Hauptfigur), als Fortsetzungsroman veröffentlicht. Dies zeigt, dass er den Unterschied zwischen dem ‚alten und neuen Roman‘ sehr wohl kannte und eher nach einer formalen Erneuerung der Literatur strebte.
Die unterschiedliche Schrift-Verwendung innerhalb eines Fortsetzungstextes ist auch ein Indiz für redaktionelle Anweisungen, um die Zahl der Leser und die Verkaufszahlen der Zeitung zu steigern. Während Okjunghwa in der Mischform von Hangul und chinesischen Zeichen gedruckt ist, wurden die folgenden drei Pansori-Texte ausschließlich in Hangul gedruckt. Aus demselben Grund wurde im Roman Okjunghwa, der dank des Erfolgs als Fortsetzungsroman im selben Jahr als Ddakjibon erschien, nur Hangul verwendet. Auch die 1913 erschienenen Yukjeon Soseol von Choe Nam-seon, eine Serie alter Romane, wurden nur in Hangul gedruckt, da als potentielle Leserschaft ein wenig gebildetes Publikum angenommen wurden. Unter den Zeitungsromanen in Fortsetzung wurde Okjunghwa in der ersten Folge in vermischter Form von Hangul und alten chinesischen Zeichen gedruckt. Ab der ersten Fortsetzung wurde er ausschließlich in Hangul gedruckt, was auf die Erweiterung der Leserschaft von Maeil Shinbo hinweist.
Die Erzählung Okjunghwa auf der Titelseite von Maeil Shinbo zog die Leserschaft durch die darin aufscheinende vertraute Kultur an und löste damit eine Sehnsucht nach einem verlorenen Land aus. Dem japanischen Generalgouverneur als Herausgeber gelang es damit, die Verkaufszahlen der Zeitung zu steigern und mit der Schriftwahl allmählich die kolonialen Ideologie zu vermitteln und die Kolonie effizienter zu regieren.
4.3 Die Bearbeitung des Pansori-Texts Okjunghwa von Lee Hae-jo: Zwischen Oralität und Schriftlichkeit
Okjunghwa eignet sowohl die Mündlichkeit der Pansori-Tradition als auch die Schriftlichkeit moderner Druckmedien. Das Pansori ist im Grunde ein Gesamtkunstwerk, das gesprochene und gesungene Sprache, Musik und Schauspielkunst umfasst, also Epos, Drama und Lyrik. Die Bearbeitung von Lee Hae-jo als Fortsetzungsroman in Maeil Shinbo zeigt, wie die mündliche Kultur, die auf dem Vortrag eines Performers/Sängers und der Teilnahme des Publikums vor Ort basiert, durch Verschriftlichung zur individuellen stummen Lektüre fortschreitet. In der Re-Oralisierung eines schriftlich fixierten Textes wurde die alte Erzählung im Hier und Jetzt vergegenwärtigt, indem sie die erzählte Welt vor den Augen des Publikums entstehen ließ. Sie bestätigte die Kraft der alten Erzählung als Gemeinschaftserlebnis und bewahrte, zumindest für eine bestimmte Zeit, die Lebendigkeit der oralen Tradition als Verbindungsglied zwischen traditionellen und modernen Rezeptionsformen (vgl. Messerli 2002, 419–424; 2010, 473–482).
Das wesentliche Charakteristikum des Pansoris als mündliche und gesangliche Kunst liegt in der Improvisation. Da jede Performanz einmalig und nicht wiederholbar ist, entwickelt die Überlieferung unterschiedliche Versionen bzw. Varianten durch Erweiterung, Verkürzung, Umwandlung und Weglassen – je nach den Reaktionen des Publikums während einer Aufführung. Darum steht die Performativität von Pansori in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Rezeptionsprozess des Publikums und beeinflusst den Pansori-Text in Bezug auf Sprache und Stil. Selten wird der Gesangstext vom ‚Gwangdae‘ selbst geschrieben, sondern meist von einem Literaten, so auch der Gesangstext von Park Ki-hong, der als Vorlage von Okjunghwa dient.
Dessen Bearbeitungsverfahren ist bisher ungeklärt und in der Forschung umstritten aufgrund des Fehlens entsprechender Quellen.[14] Im Zeitungsroman steht als Titel des Ausgangstextes: Chunhyang-ga Gangyeon mit dem Hinweis auf den Sänger: „vom Meistersänger Park Ki-hong“, und weiter: „wiedergegeben von Haegwanja[15] sanjeong“. In der Ddakjibon-Fassung wird der Ausgangstext mit Chunhyangga Yeonjeong bezeichnet. In beiden Fällen steht Chunhyang-jeon statt Chunhyang-ga, wobei das chinesische Zeichen 歌 -ga (ein Lied) bedeutet und für den Titel des Pansoris verwendet wurde. Dies bestätigt, dass die Vorlage für die Bearbeitung im Grunde ein Pansori-Text ist, der die musikalischen und aufführungsrelevanten Anweisungen beinhaltet. Die Ausdrücke sanjeong (刪正) und yeonjeong (演訂) bedeuten wörtlich „übernommen und korrekt wiedergegeben“, „gespielt und korrigiert“.
Lees Bearbeitung zielt auf die Verschriftlichung der mündlichen Pansori-Überlieferung und auf „die Kanonisierung einer klassischen Version des Meistersängers“ (Hwang/Baek 2020, 15). Nach Ansicht von Eom Tae-woong war die Bearbeitung ein Versuch, die durch den traditionellen mündlich-performativen Überlieferungsprozess des alten Romans ‚beschädigte‘ literarische Qualität der Erzählung wiederherzustellen. Es handelt sich sowohl um eine Umwandlung der mündlichen Überlieferung eines Meistersängers in einen modernen typographischen Text als auch um eine inhaltliche Verbesserung des Pansori-Textes, der während der Überlieferung „obszön und vulgär“ geworden sei (vgl. Eom 2008, 176–177; Bae 2012, 273). Okjunghwa als ein bearbeiteter Text des Pansoril-Liedes Chunhyang-ga wurde unter Zeitgenossen als die klassisch gewordene Version unter zahlreichen Überlieferungen geschätzt, sodass Okjunghwa als Textgrundlage für die englische Übersetzung, Choon Yang (1917–1918), von James Gale in The Korea Magazine verwendet wurde (vgl. Lee 2020, 192–202).
Bezüglich der Textform unterscheidet sich Okjunghwa vom traditionellen Pansori-Gesangstext und zeigt die Merkmale des ‚neuen Romans‘, indem sich die Oralität der altkoreanischen Literatur mit der Verschriftlichung zu einer hybriden Form verbindet. Neben der Dialogform gehören die Einführung von Absätzen und die Mischung von Hangul und alten chinesischen Zeichen zu den Merkmalen der Schriftlichkeit. Der Ddakjibon-Text von Okjunghwa ist darüber hinaus mit seinen 188 Seiten keine einfache „Abschrift“ des Pansori, sondern eine komprimierte und gekürzte Bearbeitung, die redundante Passagen und Improvisationen auslässt, die als wichtige Merkmale der mündlichen Kultur angesehen werden müssen. Und doch wird in Okjunghwa die Oralität des Pansori-Textes inszeniert. Das lässt sich an einer Erzählpassage (Aniri, 아니리) zeigen:
Aus einem Tag werden zwei Tage, daraus werden mehrere Tage, zehn und noch einige Tage sind vorbei, mit voller Liebe wird die Scham verschwunden sein, was kann man da über seine Liebe alles sagen? Eines Tages flirtet Mong-ryong mit Chun-hyang, ob das ein Liebeslied wird? (Lee 1912, Übersetzung K.S.)
Der Erzähler protokolliert die Geschichte von Chun-hyang und Mong-ryong im Präsens und vermittelt auf der extradiegetischen Ebene die Emotionen der Protagonisten. Teils ist er in der erzählten Welt als auktorialer Erzähler beteiligt, teils hält er Distanz zu dieser als Beobachter und Vermittler der Geschichte. Mittels einer Prolepse sagt er voraus, dass ihre Geschichte mit dem Titel Liebeslied (사랑가) der Nachwelt überliefert werde. Diese Stellung des Erzählers und seine unterschiedliche Beteiligung an der erzählten Welt weisen die für eine mündliche Erzählkultur typischen Merkmale auf. Das folgende Liebeslied beginnt mit dem Einführungssatz des Erzählers: „Mit Aufregung singt Meister Lee“. Narratologisch handelt es sich um das Lied des Protagonisten der intradiegetischen Welt:
(A) Stirbst du, kann ich nicht leben, sterbe ich, kannst du nicht leben. Eohwadungdung, meine Liebe! Stirbt einer von uns, während wir lieben, lass uns miteinander auf das nächste Leben schwören. (B) Stirbst du, was wirst du? Und sterbe ich, was werde ich? (C) Du stirbst und wirst Wasser, weg von aller Milchstraße im Himmel und allen langen Flüssen und weiten Meeren von Osten und Westen auf der Erde, du wirst das Wasser Yin und Yang, das durch sieben Jahre dauernde Dürre nicht trocken wird. (D) Ich sterbe und werde ein Vogel, kein Blauvogel, Pirol, Papagei, Pfau, werde Brautente, [. . . .] und wenn Tag und Nacht sich lieben und spielen, merkst du, dass ich es bin. Dungdung, meine Liebe, Eoheodungdung, meine Liebe! (E) Du stirbst und wirst eine Blume, […] (F) ich sterbe und werde ein Schmetterling […]. Eoheodungdung, meine Liebe! (Lee 1912, Übersetzung K.S.)
Im Lied-Text spricht der männliche Protagonist und sein Gesang enthält die Merkmale der Oralität: direkte Rede, Ellipse und unvollständige Sätze, redundante Beschreibungen, Musikalität, Wiederholungen (Anaphora) und Parallelismen, Verwendung von Ausrufen wie „Eohwadungdung“ bzw. „Dungdung“, die – ohne Bedeutung – als musikalischer Klang eingesetzt werden. Bei A und B zeigt sich die Wiederholung, ebenso bei C und D, E und F in den von Ich-Du geprägten Aufzählungen und Parallelismen, die in der wiederholten irrealen Annahme den Liebesschwur für das nächste Leben, ihre ewige Liebe mit musikalischen Rhythmen hervorheben. Die syntaktische Struktur des Textes steht im Zusammenhang mit ‚der Erinnerung‘, die Walter Ong als eines der Merkmale der mündlichen Kultur präsentierte: Das Gedanken- und Erinnerungssystem in der primären mündlichen Kultur werde durch die syntaktische Struktur des Textes und durch die Rhythmisierung der Sprache unterstützt.[16]
Darüber hinaus werden in Okjunghwa alte chinesische Sprichwörter, Redewendungen und gereimte Wortspiele verwendet, die als komprimierte Metaphern humorvolle Reaktionen des Publikums bewirken. Das Mitlachen bei närrischen Ausdrücken setzt Teilnahme und Resonanz des Publikums voraus, was Ong als „empathetic and participatory rather than objectively distanced“ (Ong 1987, 45) bezeichnet und als ein Merkmal der mündlichen Kultur hervorhebt. Trotz der schichtspezifischen Zugangsmöglichkeit zur aristokratischen Kultur beruht das Wissen des Publikums über alte chinesische Phrasen auf der mündlich überlieferten Transmission.
5 Fazit
Die Popularisierung des Ddakjibon-Romans während der koreanischen Moderne steht in engem Bezug zur Einführung der modernen Drucktechnik, zum kapitalistischen Gesellschaftssystem, der Produktion und dem Konsum von Kulturwaren, zur Einführung des modernen Schulsystems und zur Alphabetisierung, aber auch zur japanischen Fremdherrschaft, die Korea als Provinz Joseon annektierte. Bei der Analyse der Verbreitung der Populärliteratur fungieren diese technischen, sozialen und politischen Wirkungen als eine Prämisse. In diesem Kontext wurden die Materialität und die Bestandteile des Ddakjibons, die schichtspezifischen Lesestoffe und Lesepraktiken, die aufklärerische Kritik der Gelehrten an diesen Populärromanen sowie die koloniale Publikationszensur durch das japanische Generalgouvernement behandelt. Letzten Endes aber sind es die Leser, die durch Konsum bzw. Rezeption des Buches dessen Popularisierung als ein soziales Phänomen erst verwirklichten. Dazu wurde Okjunghwa von Lee Hae-jo, einer der popularisierten Ddakjibon-Romane, bezüglich des medialen Wandels – von der mündlichen Überlieferung als Pansori über den Fortsetzungsroman in der Zeitung bis zur Einzelausgabe als Ddakjibon – exemplarisch beleuchtet und sowohl dessen inszenierte Mündlichkeit als auch Merkmale einer Verschriftlichung am Text analysiert.
Anmerkung
This work was supported by the Ministry of Education of the Republic of Korea and the National Research Foundation of Korea (NRF-2021S1A5A8065267).
Über den Autor / die Autorin
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- Sůva, Lubomír: Der tschechische Himmel liegt in der Hölle. Märchen von Božena Němcová und den Brüdern Grimm im Vergleich (Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie [ZSEN] 6). Ilmtal-Weinstraße: Jonas Verlag, 2021. 286 S.
- IV Submitted Books
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