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An den Grenzen der Sprache?

Heideggers Zeuganalyse und die Begrifflichkeitsthese
  • Christoph Demmerling EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 8. März 2016
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Abstract

This paper discusses the question of the role played by concepts in human cognition, perception and action. Taking recourse to Heidegger’s Zeug analysis, it defends the thesis that all human experience is perfused with concepts, though without necessarily being propositionally or linguistically structured. Heidegger’s analysis is used to express a non-linguistical version of the conceptuality thesis, and to differentiate between linguistic and practical modes of commanding a concept.

Die Zeuganalyse, die Heidegger in den Paragraphen 15–18 von Sein und Zeit entwickelt, und mit Hilfe derer er sich von traditionellen Konzeptionen des Weltbezugs menschlicher Wesen verabschieden möchte, ist bereits so häufig rekonstruiert und kommentiert worden, dass eine neuerliche Auseinandersetzung mit diesem Textstück kaum die Mühe zu lohnen scheint.[1] Der Schein trügt. Ich möchte die Überlegungen Heideggers auf die Frage nach der Rolle von Begriffen im menschlichen Denken, Wahrnehmen und Handeln beziehen. Die These, dass Begriffe eine notwendige Bedingung dafür darstellen, denken zu können, wurde und wird häufig im Sinne einer Unhintergehbarkeit der Sprache verstanden. Wenn Begriffe als eine notwendige Bedingung dafür angesehen werden müssen, denken zu können, dann muss auch die Sprache als eine notwendige Bedingung für das Denken betrachtet werden, da Begriffe in der Regel als etwas angesehen werden, was sprachliche Fähigkeiten voraussetzt. Anwenden und auch zuschreiben scheint man Begriffe nur dann zu können, wenn sich mit den Mitteln der Sprache auf sie zugreifen lässt. Was für das in der skizzierten Perspektive konstitutive Verhältnis von Begriff und Denken gilt, wird gelegentlich auf die Wahrnehmung und das Handeln übertragen. So hat zum Beispiel John McDowell in den letzten Jahren die These vertreten, alle Erfahrungen menschlicher Wesen, insbesondere auch Wahrnehmungen, seien mit Begriffen verbunden.[2] Auch diese These wurde häufig so verstanden, als werde mit ihr die Sprachlichkeit menschlicher Erfahrung behauptet.[3] Ich möchte im Folgenden eine Lesart der Zeuganalyse skizzieren, derzufolge Heidegger eine Variante von McDowells These vertritt, dass zu jeder Form von Erfahrung Begriffe gehören. Es wird sich allerdings zeigen, dass sich im Anschluss an Heidegger Differenzierungen erwirtschaften lassen, die in der neueren Debatte nicht berücksichtigt werden. Wer behauptet, dass Begriffe zur Erfahrung gehören, muss nicht behaupten, dass die Sprache dazu gehört. Die Zeuganalyse – so meine These – thematisiert die Verschränkung von sprachlichen und nicht-sprachlichen, nicht aber begriffslosen Aspekten menschlicher Erfahrung. Sie erlaubt es, verschiedene Typen von Begriffen voneinander zu unterscheiden.

In diesem Beitrag geht es zunächst um die Begrifflichkeitsthese und die wesentlichen in ihrem Zusammenhang relevanten Gesichtspunkte (I), bevor einige Überlegungen angeführt werden, die auf den ersten Blick gegen die Begrifflichkeitsthese sprechen (II). Danach skizziere ich meine Lesart der Zeuganalyse (III). Abschließend diskutiere ich in Form eines Ausblicks die systematischen Konsequenzen, die sich aus meiner Relektüre der Zeuganalyse für sprachphilosophische Fragestellungen ergeben (IV).

1 Die Begrifflichkeitsthese

Als Begrifflichkeitsthese bezeichne ich die Auffassung, dass alles, was Menschen wahrnehmen, tun und denken, durch den Umgang mit Begriffen geprägt ist, und dass in alle menschlichen Lebensvollzüge Begriffe eingelassen sind. Jemand, der sich in den letzten Jahren für diese Auffassung stark gemacht hat, ist John McDowell. Ich möchte eine bestimmte Version der Begrifflichkeitsthese verteidigen, eine Version, die nicht sprachlich enggeführt ist.[4]

McDowells ursprüngliche Formulierung der Begrifflichkeitsthese gehört in den Kontext der Philosophie der Wahrnehmung. Die These lautet, kurz gesagt, dass der Inhalt der Wahrnehmung begrifflich ist. Es ist alles andere als klar, welche Position sich hinter der allgemeinen Formulierung dieser These verbirgt. Darüber hinaus hat McDowell seine Position im Laufe der Jahre immer wieder modifiziert, was eine genaue Identifikation seiner Behauptungen ebenfalls erschwert. Ich zitiere einige Textstellen, um den Sinn der These zu vergegenwärtigen:

Begriffliche Fähigkeiten, deren Beziehungen in den logischen Raum der Gründe sui generis ehören, kommen nicht nur in Urteilen […] zur Anwendung, sondern bereits in den natürlichen Vorgängen, die durch die Einwirkung der Welt auf die rezeptiven Fähigkeiten geeigneter Subjekte zustande kommen, d. h. auf solche Subjekte, die die entsprechenden Begriffe besitzen.[5]

Die Rede von der Einwirkung der Welt auf die rezeptiven Fähigkeiten geeigneter Subjekte bezieht sich auf eine Erfahrung durch Wahrnehmung. In der Bemerkung wird explizit gesagt, dass sich begriffliche Fähigkeiten in der sinnlichen Erfahrung finden, und behauptet, dass sie nicht erst durch ein Urteil zur Erfahrung hinzutreten oder auf diese angewendet werden. Ein weiteres Zitat bestätigt dies:

Nach meiner Konzeption herrscht von Anfang an kein Abstand zwischen den begrifflichen Inhalten, die sich am nächsten zu den Einwirkungen der externen Realität auf die Sinnlichkeit befinden, und diesen Einwirkungen selbst. […] Die Erfahrungen, die Einwirkungen der Welt auf unsere Sinnlichkeit, verfügen bereits über diese grundlegendsten begrifflichen Inhalte.

Wenig später heißt es:

Begriffliche Fähigkeiten sind immer schon im Spiel, wenn einem Inhalt verfügbar ist. […] Inhalt ist nichts, was man selbst zusammengefügt hat.[6]

Viele Interpreten haben McDowells Überlegungen im Sinne eines Votums für die Sprachlichkeit bzw. Propositionalität der Wahrnehmung verstanden. So merkt zum Beispiel Michael Ayers an, McDowell denke die Wahrnehmung quasilinguistisch. Arthur W. Collins macht geltend, McDowell stelle sich Erfahrung so vor, als sei sie mit Untertiteln versehen. Ayers, Collins und andere verstehen die Begrifflichkeitsthese im Sinne einer Propositionalitätsthese, was insofern überrascht, als McDowell (gerade auch in den zitierten Bemerkungen) zwischen Inhalten der Erfahrung und dem Inhalt eines Urteils unterscheidet.[7] Noch überraschender ist der Umstand, dass auch McDowell selbst seine ursprüngliche Version der Begrifflichkeitsthese, wie er sie in den Vorlesungen über Geist und Welt entwickelt hat, im Sinne einer Propositionalitätsthese versteht, die er in neueren Arbeiten revidieren möchte. Er merkt an, fälschlicherweise angenommen zu haben, dass man Erfahrungen mit einem propositionalen Gehalt ausstatten müsse, um sie als Aktualisierungen von begrifflichen Fähigkeiten ansehen zu können. Es sei ein Fehler gewesen, Erfahrung als propositional anzusehen und davon auszugehen, dass die Erfahrung alles enthalte, um Subjekte mit einem nicht-inferentiellen Wissen auszustatten. Im Ergebnis scheinen mir McDowells neuere Überlegungen auf eine nicht-lingualistische Fassung der Begrifflichkeitsthese hinauszulaufen.

In dem Aufsatz „Avoiding the Myth of the Given“ unterscheidet McDowell zwischen einer diskursiven und einer intuitiven Form des Inhalts.[8] Diskursiver Inhalt wird mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen modelliert, er ist artikuliert. Nicht-diskursiver Inhalt hingegen ist nicht artikuliert; als begrifflich wird er von McDowell aber deshalb aufgefasst, da er von vornherein auf unsere begrifflichen Fähigkeiten zugeschnitten sein soll und mit ihrer Hilfe diskursiv verwertet werden kann. In diesem Zusammenhang hängt freilich vieles davon ab, wie man den Ausdruck „zugeschnitten“ interpretiert. „Geeignet“, „passend“ oder „maßgeschneidert sein“ – dies sind Wendungen, die sich aufdrängen. Im englischen Text findet sich der Ausdruck „suitable“: „[E]very aspect of the content of an intuition is present in a form in which it is already suitable to be the content associated with a discursive capacity.“[9] Der Inhalt liegt zu unserer Verarbeitung bereit. Der Unterschied zu einer vollmundig empiristischen Sicht der Dinge, der hier akzentuiert werden soll, ist überaus fein, aber er ist wichtig. Es soll gesagt werden: Es gibt kein Außen der Begriffe, die Welt tritt uns in der Erfahrung nicht als etwas Fremdes gegenüber. Der Unterschied zwischen der von ihm anvisierten Position und einer Sicht der Dinge, derzufolge Erfahrung nicht-begrifflich ist (so könnte man die Rede von intuitivem Inhalt verstehen) und Begriffe auf nicht-begriffliche Erfahrungsinhalte angewandt werden (so könnte man die Hinweise darauf verstehen, dass intuitiver Inhalt in diskursiven Inhalt transformiert wird), scheint überaus subtil zu sein und beinahe zu verschwinden. An einer Stelle spricht McDowell auch davon, dass Intuitionen ein Potential für diskursive Aktivitäten besitzen und Inhalte ermöglichen, die über die intuitiven Gehalte im engeren Sinne hinausgehen. Statt die Überlegungen zu zwei unterschiedlichen Arten von Inhalten zu vertiefen, möchte ich mich fragen, ob wir nicht zwei unterschiedliche Typen von Begriffen unterscheiden sollten, um den im vorliegenden Zusammenhang einschlägigen Belangen Rechnung zu tragen. Bevor ich über die Möglichkeit von Begriffen nicht-sprachlicher Art nachdenke, sei vergegenwärtigt, gegen welche Position sich die Überlegungen McDowells eigentlich richten, da dies seine Strategie besser verständlich macht.

McDowell zielt darauf ab, zwei auf den ersten Blick nur schwer zu vereinbarende Intuitionen miteinander zu versöhnen.[10] Auf der einen Seite möchte er einem Gedanken Rechnung tragen, der hinter allen empiristischen Ansätzen in der Philosophie steht, demjenigen nämlich, dass unser Denken auf irgendeine Weise der Verfassung der Welt Rechnung tragen muss, dass das Denken – wie es manchmal heißt – sich gegenüber der Welt verantworten muss. Auf der anderen Seite ist ihm daran gelegen, die Einsicht zu bewahren, dass rational gerechtfertigte Beziehungen nur zwischen Elementen bestehen können, die begrifflich strukturiert sind, dass also Naturvorgänge in Rechtfertigungszusammenhängen keine Rolle spielen. Diese Auffassung ist charakteristisch für eine Kohärenztheorie der Erkenntnis, wie sie beispielsweise von Donald Davidson vertreten wird. Das Problem des Kohärentismus besteht darin, dass Erfahrung in epistemischer Perspektive entwertet und der Inhalt von Wahrnehmung oder Sprache als etwas angesehen wird, was im Prinzip von der Welt unabhängig sei. Damit ist der erkenntnistheoretischen Skepsis Tür und Tor geöffnet. Das Problem der Gegenposition des Fundationalismus besteht darin, einem Mythos des Gegebenen zu verfallen und Erkenntnis im Rückgriff auf Naturvorgänge zu rechtfertigen, d. h., die Idee der Rechtfertigung letztlich zu eskamotieren.[11] Die Skylla der Kohärenztheorie und die Charybdis des Fundationalismus sollten mit Hilfe der Begrifflichkeitsthese – der Inhalt der Wahrnehmung ist begrifflich – umschifft werden.

Von den zahlreichen Einwänden, die gegen die Position McDowells vorgetragen worden sind, betrachtet der folgende Teil des Beitrags einen genauer. Indem ich zeige, dass dieser nicht triftig ist, soll die von mir anvisierte (nicht-lingualistische) Version der Begrifflichkeitsthese deutlichere Konturen erhalten. Der Einwand wurde unter anderem von Hubert Dreyfus formuliert und beruft sich auf verschiedene Überlegungen Heideggers.[12]

2 Grenzen der Begrifflichkeitsthese

Um auf die Grenzen der Begrifflichkeitsthese aufmerksam zu machen, verweist Dreyfus auf die Vollzüge von virtuosen Praktikern, von Könnern. Baseballspieler, Klaviervirtuosen und Hobbyköche müssen zu einer Vielzahl von Wahrnehmungen in der Lage sein, um zu meistern, was sie gerade tun, aber sie benötigen keine Begriffe, um zu tun, was sie tun. Im Gegenteil: Begriffe sind gelegentlich sogar hinderlich, wenn es darum geht, eine Sache besonders gekonnt auszuführen. „[M]indedness is the enemy of embodied coping“ – wie Dreyfus am Beispiel eines Baseballspielers deutlich machen möchte, der sich von dem Augenblick an, in dem er über seine Wurffähigkeiten nachzudenken beginnt, außerstande sieht, diese Fähigkeiten weiterhin gekonnt auszuüben.[13] Dreyfus wertet solche Fälle als Indiz dafür, dass die Begrifflichkeitsthese falsch sei. Man solle nicht von der Begrifflichkeit unserer Erfahrung sprechen, ganz gleich, ob es um die Begrifflichkeit der Wahrnehmung oder des Handelns geht, sondern stattdessen von der Struktur eines bedeutsamen Gegebenen in der Welt ausgehen, mit dem wir auf gekonnte Weise interagieren, ohne dass begriffliche, sprachliche, propositionale oder rationale Fähigkeiten im Spiel sind. Letztere werden Dreyfus zufolge erst dann benötigt, wenn es zu ‚Störungen im Betriebsablauf‘ kommt, wenn irgendetwas im Zusammenhang mit einer Aktivität nicht funktioniert.

Die Vollzüge von Klavier- und Baseballspielern können nicht als Indizien gewertet werden, die gegen die Begrifflichkeitsthese sprechen: Dass Baseballspieler oder Klaviervirtuosen bei ihrem Tun keine Begriffe verwenden, heißt nicht, dass es sich hier um Praktiken handelt, die gänzlich frei von Begriffen sind. Ist einmal ein bestimmtes Stadium der Meisterschaft erreicht, ist es in der Tat nicht mehr erforderlich, Begriffe zu aktualisieren. Anders als dem Novizen ist dem Experten sein Tun in Fleisch und Blut übergangen, was aber nicht bedeutet, dass der Experte der Art nach wie ein Tier ‚handelt‘, indem er seine Aufgaben unüberlegt und spontan bewältigen kann. Was ist falsch an dieser Idee?

Begriffe waren für den Erwerb der Fähigkeiten des Experten ebenso erforderlich, wie sie auch im Kontext seiner Aktivität eine Rolle spielen, auch wenn sie dort nicht explizit zur Anwendung kommen. Klavier- und Baseballspieler machen sich im Voraus klar, was sie tun möchten, und sie denken gegebenenfalls im Nachhinein darüber nach. Ihre Tätigkeit ist in einen Kontext eingebettet, der von Begriffen durchdrungen ist, ohne dass diese Begriffe während der Aktivität aktualisiert würden oder aktualisiert werden müssten.[14] Es ist eigenartig zu sagen, dass ein Klavierspieler Begriffe braucht, um das Spiel zu erlernen oder um auf Störungen im Betriebsablauf zu reagieren, sie aber nicht braucht, wenn er das Spiel beherrscht und es reibungslos verläuft. Der Klavierspieler braucht Begriffe, um das Spiel zu erlernen, und er braucht sie, um zu spielen. Um zu spielen, braucht er die Begriffe allerdings nicht fortwährend zu aktualisieren. Wenn man sagt, dass Begriffe im Zusammenhang mit dem Klavierspiel und beim Baseball eine Rolle spielen, meint man, dass die Spieler in der Regel zuvor mit Hilfe von Begriffen über ihre Tätigkeit nachdenken und sie im Nachhinein mit Hilfe von Begriffen kommentieren. Im Fall von sportlichen Vollzügen wie beispielsweise beim Fußball ist dies in Interviews nach dem Spiel schön zu beobachten. Spieler artikulieren sich und versuchen, ihre Vollzüge zu beschreiben: „Der Ball kam links, ich dachte, versuch mal ihn mit rechts zu nehmen und gleich abzuziehen. Dann war er drin.“ Begriffe sind im Zusammenhang mit einer Aktivität von Bedeutung, auch wenn sie nicht im Fokus der Aufmerksamkeit eines Fußball- oder Klavierspielers stehen und er nicht explizit auf sie zurückgreifen muss, um seine Aktivität ausüben zu können. Letzteres dürfte der Sachverhalt sein, den Dreyfus im Auge hat, aus dem er aber die falschen Konsequenzen zieht.

Auch der Hinweis auf den Verlust von Könnerschaft durch vermehrte Reflexion vermag nicht recht zu überzeugen. Er stützt nicht die These, dass im Zusammenhang mit den betreffenden Vollzügen keine Begriffe am Werk sein können, sondern akzentuiert lediglich den Umstand, dass eine zu starke Konzentration auf das Nachdenken über eine Tätigkeit mit Hilfe von Begriffen jemanden bei der Ausübung einer Tätigkeit behindern kann. Die Konzentration auf das, was man tun muss, im Sinne einer expliziten Vergegenwärtigung der Regeln, denen man zu folgen hat, kann sich lähmend auf die eigenen Vollzüge auswirken, was aber nicht dagegen spricht, dass die betreffenden Vollzüge in einen Rahmen aus Begriffen eingespannt sind. Es ist eben so, dass man sich, wenn man sich auf die Regeln und Begriffe konzentriert, um sich seine Tätigkeit analytisch zu vergegenwärtigen, weniger auf die praktische Seite des eigenen Vollzugs konzentrieren kann.

Statt von der Begrifflichkeit der Wahrnehmung oder des Handelns zu sprechen, schlägt Dreyfus vor, von einer Bedeutsamkeit des Gegebenen auszugehen. Die Rede davon verdankt sich Heidegger.[15] Sie bringt jedoch nichts anderes zum Ausdruck als die recht verstandene (nicht-lingualistische) Begrifflichkeitsthese und stellt keinen alternativen Ansatz dar. Denn was heißt es, dass etwas Gegebenes bedeutsam ist? Die Tasten eines Flügels sind für den Klavierspieler bedeutsam, Lenkrad und Gaspedal besitzen Bedeutsamkeit für den Autofahrer. Tasten und Gaspedal haben einen Aufforderungscharakter. Sie sind bedeutsam in dem Sinne, dass sie ein Angebot darstellen. Auf Tasten und Gaspedal kann angemessen reagiert werden, was der tut, der Klavier spielen oder Auto fahren kann. Um so etwas zu können, muss man erkennen, was die Tasten oder das Gaspedal anbieten, wozu sie da sind. Auch Gegenstände wie Stühle und Scheren sind Angebote: Es handelt sich um Angebote zu sitzen bzw. zu schneiden. Bedeutsam sind die genannten Gegenstände aber nur für den, der in der Lage dazu ist, den Stuhl als Stuhl und die Schere als Schere anzusehen. Einen Stuhl als Stuhl ansehen zu können, involviert einen Begriff. Nicht unbedingt einen, der in propositionalen Zusammenhängen steht und der sprachlich artikuliert ist: Wer einen Stuhl zum Sitzen verwendet, der verfügt – so will ich mich ausdrücken – über einen praktischen Begriff des Stuhls. Als Erfüllungsbedingung für das Verfügen über einen praktischen Begriff kann die angemessene Reaktion auf ein Angebot gelten. So gesehen vertritt derjenige, der von der Bedeutsamkeit des Gegebenen redet, eine nicht-lingualistische Version der Begrifflichkeitsthese. Denn bedeutsam sind die Dinge nicht an und für sich, sondern sie sind es ausschließlich in der Perspektive von Wesen, die sich in Zusammenhängen der skizzierten Art orientieren und mit den dort jeweils einschlägigen Dingen umgehen können. Bedeutsamkeit entsteht unter anderem im Kontext einer Reaktion auf Affordanzen.[16]

Im Folgenden möchte ich mich der Zeuganalyse zuwenden, die Martin Heidegger in Sein und Zeit vorgelegt hat, und die ja auch im Hintergrund der Argumente von Dreyfus steht. Anders als Dreyfus verstehe ich die Zeuganalyse eher im Sinne eines Plädoyers für die Begrifflichkeitsthese. Doch nehmen wir die relevanten Belange zunächst genauer in Augenschein.

3 Heideggers Zeuganalyse und die Grenzen der Sprache

Heidegger zufolge werden durch unseren praktischen Umgang mit Dingen in der Welt bedeutsame Strukturen und Verweisungszusammenhänge geschaffen, auf Grundlage derer wir zu einem Verständnis der Welt gelangen. Wer einen Hammer in die Hand nimmt, um einen Nagel in die Wand zu schlagen, für den bedeutet der Hammer etwas (der Hammer verweist auf etwas) und er hat (vermöge eines praktischen Begriffs) den Aufforderungscharakter oder das Angebot des Hammers verstanden, auch dann, wenn er dies nicht sprachlich ausdrücken kann. Der Hammer fungiert bei Heidegger als Beispiel für Zeug, das dadurch, dass wir mit ihm umgehen, auf etwas anderes verweist. Zeug gibt es niemals im Singular, sondern es gehört zu einem Zeugganzen und bildet einen Verweisungsbzw.

Bewandtniszusammenhang, der auf das Engste mit unseren Tätigkeiten und unserer Lebensform verbunden ist. Zeug verweist auf anderes Zeug und Werke, aber auch auf jene, die das Zeug in Gebrauch nehmen und es in Gebrauch haben. Das Zeugganze umgreift Material, wozu nicht nur Artefakte wie Werkzeuge, sondern auch natürliche Materialien gehören, Benutzer, soziale Praktiken und am Ende die gesamte menschliche Lebensform. Das Beweisziel der Überlegungen Heideggers ist darin zu sehen, dass die Welt als philosophisches Abstraktum, aber auch die objektive Realität, wie sie von der neuzeitlichen Naturwissenschaft beschrieben wird, die durch den Umgang mit Zeug etablierten Bedeutsamkeitsbezüge voraussetzt. Auf die Welt als Ganzes oder einen einzelnen Gegenstand in der Außenwelt kann man sich in theoretischer Perspektive nur vor dem Hintergrund eines normativ strukturierten und öffentlich geteilten Raums beziehen, der durch praktische Lebensvollzüge institutiert wird.[17] (Um eine Terminologie zu verwenden, die augenblicklich in der Philosophie in Mode ist: Heidegger vertritt einen sozialen Externalismus. Es ist der geteilte Weltbezug praktisch tätiger Wesen mit all den Normen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, der dem theoretischen Blick auf eine wertneutrale und ‚sinnlose‘ Natur vorhergeht.)

Dadurch, dass menschliche Wesen gemeinsam mit Zeug umgehen, wird ein Netz von Relationen etabliert, worin alle einzelnen Bestandteile auf andere Bestandteile verweisen. Dies können Aufgaben, Ziele oder Nutznießer sein. Folgerichtig heißt einer der zentralen Begriffe der Zeuganalyse „Verweisung“. Gegenstände, die in Gebrauch sind, verweisen auf andere Gegenstände, verweisen darauf, wozu sie da sind. Der Hammer verweist auf den Nagel, der Nagel verweist auf das Bild, das Bild verweist auf die Wohnung, die Wohnung auf die Mitbewohner. (In Heideggers Ausdrucksweise: Die Struktur des Um-zu ist die Verweisung.) Neben dem Ausdruck „Verweisung“ gebraucht Heidegger auch den Ausdruck „Bedeuten“. Von Bedeuten spricht er in Bezug auf einzelne Verweisungen, bezogen auf das Verweisungsganze verwendet er den Ausdruck „Bedeutsamkeit“.[18] Da Einzelnes immer schon in Verweisungszusammenhänge eingebettet ist, da Einzelnes nur im Rahmen eines Ganzen ist, was es ist, und nur hier seinen Sinn erhält, geht Bedeutsamkeit im Sinne eines Zusammenhangs dem Bedeuten im Sinne des Bezugscharakters einzelner Verweisungen voraus. Bedeuten kann es – folgt man den Überlegungen Heideggers – nur vor dem Hintergrund von Bedeutsamkeit geben.

Auch wenn der Begriffsgebrauch bei Heidegger nicht eindeutig ist – zentral ist der § 18 in Sein und Zeit, markante Formulierungen finden sich aber auch in den Vorlesungen, beispielsweise in Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Wintersemester 1919/1920; zu denken ist zudem an die Marburger Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs aus dem Sommersemester 1925 –, last sich immerhin so viel sagen[19]: Mit dem Begriff der Bedeutsamkeit ist ein Gefüge angesprochen, das als Bedingung bzw. Voraussetzung von Bedeuten im Sinne der (praktischen) Verweisung, aber auch von Bedeuten im Sinne sprachlicher Bedeutung fungiert. Folgt man Heidegger, ist Bedeutsamkeit als Voraussetzung von Bedeuten im Sinne der Verweisung anzusehen und Bedeuten im Sinne der Verweisung muss als Voraussetzung sprachlicher Bedeutung betrachtet werden. Heidegger bemerkt:

Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie „Bedeutungen“ erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.[20]

Es ist wichtig festzuhalten, dass Heidegger insgesamt drei Begriffe verwendet: Bedeutsamkeit, Bedeuten und Bedeutung. Bedeuten ist eine Eigenschaft von Zeug, das (in der Regel implizit) auf etwas verweist. Bedeuten ist auch eine Eigenschaft von Zeichen, deren Funktion darin besteht, explizit auf etwas zu verweisen (so finden sich in § 17 von Sein und Zeit Überlegungen zu einer speziellen Art von Zeug, das ausschließlich dem Zeigen dient, eben den Zeichen). Für das Bedeuten von Zeichen, insbesondere von sprachlichen Zeichen, verwendet Heidegger auch den Begriff der Bedeutung. „Bedeutsamkeit“ schließlich ist der Ausdruck, der für das Ganze des Verweisungszusammenhangs verwendet wird.

Das Motiv, das hinter der Rede vom Bedeuten und von der Bedeutsamkeit steht, ist darin zu sehen, dass einer Verengung des Bedeutens auf Zeichen und sprachliche Phänomene entgegengewirkt werden soll. Es geht aber auch darum, die vor-, nicht- und außersprachlichen Grundlagen des Verstehens in den Blick zu bekommen. Die Begriffe des Bedeutens und der Bedeutsamkeit beziehen sich gegenüber dem Bedeutungsbegriff auf ein reichhaltigeres Spektrum von Phänomenen, nicht nur auf Zeichen, Wörter oder Sätze, sondern auch auf Dinge, Situationen, Verhaltensweisen und Handlungen. In systematischer Perspektive würde ich die Überlegungen Heideggers auf folgende Weise weiterführen: Bedeutsamkeit wird durch Erleben und praktisches (im weitesten Sinne instrumentelles) Tun konstituiert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Lebewesen und Gegenständen besteht darin, dass Lebewesen ihre Situation und ihre Umgebung als bedeutsam erfahren. Der Unterschied zwischen Lebewesen, die über eine Sprache verfügen, und Wesen, deren Leben zur Gänze in sprachlosen Bahnen verläuft, besteht darin, dass sprechende Lebewesen die im Vollzug des Lebens häufig unbestimmte und diffuse Bedeutsamkeit (diffus, weil sich Bedeutsamkeit auf das Ganze bezieht) einer Situation mit den Mitteln sprachlicher Artikulation in ihre einzelnen Bestimmungen zerlegen können. Sprachlich artikulierte Bestimmungen lassen sich als Explikationen verstehen. Bedeutsamkeitsbezüge stehen im Leben sprachlicher Wesen im Kontext immer schon artikulierter Bezüge. Sie sind entweder bereits artikuliert oder aber Gegenstand möglicher Artikulation. Ich nenne dies das apriorische Perfekt der Artikulation.

Gegenstand der Zeuganalyse ist die Freilegung der Konstitution von Bedeutsamkeit durch praktisches Tun. Die Konstitution von Bedeutsamkeit durch Erleben ist indes nicht Gegenstand der Zeuganalyse. Als systematischer Ort hierfür wären auch eher die Analysen zu Befindlichkeit und Geworfenheit anzusehen. Heidegger sagt in diesem Zusammenhang leider nicht viel zum Thema. Immerhin bemerkt er, dass die Stimmung das In-der-Welt-sein als Ganzes erschließt und so ein Sichrichten auf etwas allererst möglich macht.[21] Das sind vage Formulierungen, aber die Rede vom In-der-Welt-sein als Ganzem erlaubt es zumindest, den Begriff der Bedeutsamkeit zu assoziieren und wiederum als Grundlage von implizitem und explizitem Verweisen (die Rede ist von einem „Sichrichten“ auf) anzusehen.

Dieser Rekonstruktionsvorschlag deckt sich mit den zwar nicht immer klaren, aber doch in ihrer Tendenz verständlichen Ausführungen im § 23 der Marburger Vorlesung über die Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Heidegger kommt dort im Zusammenhang mit Überlegungen zum Begriff der Bedeutsamkeit auf Sprachursprungstheorien zu sprechen und verweist auf unterschiedliche Theorietypen, solche, die den Ursprung der Sprache im Affektlaut, und solche, die ihn im Nachahmungslaut verorten.[22] Er macht geltend, dass sich Dasein in beiden Fällen auf der Grundlage seiner Leiblichkeit (ich füge hinzu: Der Leib ist als maßgebliches Medium des qualitativen Erlebens anzusehen) lautlich mitteilt. Der Zusammenhang zwischen Wortlaut und Bedeutung ergebe sich – so Heidegger – daraus, „daß Bedeutungen aus der Bedeutsamkeit, und das heißt wiederum nur aus dem In-der-Welt-sein heraus zu verstehen sind“. Heidegger nennt dies eine „Einsicht von großer Tragweite für die Bedeutungstheorie“.[23] Ich meine, er hat Recht. Heidegger buchstabiert seine Einsicht zwar nicht weiter aus, aber ihre grundsätzliche Relevanz lässt sich wie folgt bestimmen: Die Analysen zu vor-, nicht- und außersprachlichen Praktiken sowie zur Bedeutsamkeit zielen darauf, verschiedene Formen des Übergangs zwischen nicht-sprachlichen und sprachlichen Weisen des Weltbezugs in den Blick zu nehmen und zu explizieren. Sprachlose Interaktionen mit der Welt stellen eine Form des Weltbezugs dar, auf dessen Grundlage sich komplexere Bezugnahmen im Rahmen eines Bedeutsamkeitsgefüges und letztlich voll ausgeprägte sprachliche Bedeutungen ausbilden. Mit der pragmatisch fundierten Konzeption des Weltbezugs und des Verstehens werden mentalistische Bedeutungs- und Intentionalitätstheorien überwunden. Folgt man der Intuition Heideggers, sind bedeutungstheoretische, semantische Untersuchungen in Analysen einzubetten, die einen Raum des Verstehens – wie ich das nenne – betreffen, der über sprachliche Zusammenhänge hinausführt, obgleich dieser Raum im Fall von Wesen, die über eine Sprache verfügen, immer auf die Sprache bezogen bleibt. Diese Bemerkung bringt mich zurück zur Begrifflichkeitsthese, der ich mich nun nach dem Durchgang durch die Zeuganalyse erneut zuwenden möchte.

Im Prinzip werden im Rahmen der Zeuganalyse zwei Formen der Verweisung bzw. des Bedeutens voneinander unterschieden. Neben praktischen Verweisungen (in Heideggers Terminologie: umsichtigen Verweisungen) gibt es das explizit zeichenbasierte, im weitesten Sinne sprachliche Verweisen. Die Frage lautet, ob sich bezogen auf die praktischen Verweisungen dann, wenn jemand mit ihnen umgehen kann, von Begriffen sprechen lässt. Ich meine, dass zumindest vorderhand nichts dagegenspricht. Heidegger macht darauf aufmerksam, dass immer dann, wenn wir mit etwas in der Welt umgehen oder von etwas in der Welt angegangen werden, eine „Struktur des Etwas als Etwas“ im Spiel ist. Gemeint ist mit dieser Redeweise, dass Gegenstände oder Sachverhalte bereits als in bestimmten Hinsichten klassifiziert und charakterisiert erfahren werden. Man kann nun fragen: Erfolgt die Klassifikation und Charakterisierung der Gegenstände mit den Mitteln der Sprache, d. h. mit Hilfe von Aussage und Urteil, oder aber warden bereits durch einfache Wahrnehmung Deutungsleistungen vollbracht, die dann erst nachträglich mit Hilfe von Aussagen zur Darstellung gebracht werden? Der Textbefund im § 32 von Sein und Zeit ist zunächst einmal eindeutig.

Der umsichtig-auslegende Umgang mit dem umweltlich Zuhandenen, der dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke „sieht“, braucht das umsichtig Ausgelegte nicht notwendig auch schon in einer bestimmenden Aussage auseinanderzulegen. Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend.

Heidegger macht in diesen Passagen darauf aufmerksam, dass das vor Aussage und Urteil liegende Wahrnehmen (Sehen, Hören) als Deutungsleistung anzusehen ist, auf Grundlage derer etwas verstanden wird. Er unterscheidet das „existenzial-hermeneutische ‚Als‘“ der umsichtig-verstehenden Auslegung vom „apophantischen ‚Als‘ der Aussage“.[24]

Eine Frage, die durch Heideggers Überlegungen aufgeworfen wird, betrifft den Sinn des Ausdrucks „vorprädikativ“. Ist mit ihm lediglich auf etwas verwiesen, was vor der Aussage liegt (so der Text), gleichwohl aber im Reich des Begrifflichen anzusiedeln ist, oder aber geht es um vor- bzw. nicht-begriffliche Deutungsleistungen? Interpreten wie Dreyfus (aber in Deutschland beispielsweise auch Ernst Tugendhat) tendieren dazu, Heidegger eine Nichtbegrifflichkeitsthese zu unterstellen. Ich hingegen würde geltend machen, dass die Rede von einem hermeneutischen Als der Auslegung gerade den Raum für eine nicht sprachlich enggeführte Fassung der Begrifflichkeitsthese eröffnet. Etwas vorprädikativ zu verstehen heißt doch gerade, einen Begriff von etwas zu haben, ohne dass prädikative Strukturen vorausgesetzt werden müssen. Die Auffassung, dass Heidegger eine nicht-sprachliche Fassung der Begrifflichkeitsthese vertritt, rückt den alten Streit um die Frage, wie Heidegger zu verstehen ist, in ein neues Licht. Interpreten wie Dreyfus und Haugeland halten ihn für einen Nichtbegrifflichkeitstheoretiker, andere unterstellen ihm die Formulierung einer lingualistischen Variante der Begrifflichkeitsthese oder machen sogar einen lingualistischen Idealisten aus Heidegger, was vollkommen abwegig ist.

Die Frage nach dem Status von Begriffen stellt sich Heidegger nicht in erster Linie mit Blick auf das Problem der Wahrnehmung, sondern es geht vor allem um den Begriff des Verstehens. Eine erste Unterscheidung, die Heidegger im Zusammenhang mit dem Verstehensbegriff trifft, ist diejenige zwischen Verstehen und Auslegung. Als Auslegung wird die „Ausbildung des Verstehens“ bezeichnet; in der Auslegung – so Heidegger – „eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu“.[25] Man könnte die Bemerkung dahingehend interpretieren, dass der Ausdruck „Auslegung“ ein explizites Verstehen bezeichnet, in dessen Rahmen das Verstandene als solches auch ausdrücklich thematisiert warden kann und die Sprache eine Rolle spielt, während das Verstehen im Allgemeinen nicht unbedingt ein explizites Verstehen sein muss, sondern implizit und unausdrücklich bleiben kann. Man kann verstehen, ohne artikulieren zu können, dass man verstanden hat. Artikulierbarkeit, Expressivität wäre – so gesehen – keine notwendige Bedingung für Verstehen. Würde Heidegger bezogen auf Verstehen und Wahrnehmung eine Nichtbegrifflichkeitsthese vertreten, wäre überhaupt nicht verständlich, warum er sich genötigt sieht, neben dem apophantischen Als der Aussage das hermeneutische Als der Auslegung einzuführen. Es gäbe dann kein weiteres „als“. Es gäbe lediglich das apophantische Als und daneben ein unbegriffliches Chaos. Als Ergebnis der Zeuganalyse ist jedoch festzuhalten, dass es auch eine durch praktische Verweisungen konstituierte Struktur gibt, die nicht im schlichten Sinne nicht-begrifflich ist. Wie sind die Konsequenzen einzuschätzen, zu denen die skizzierte Heidegger-Lektüre im Ergebnis führt?

4 Sprache und Begriff – eine neue Perspektive

Auch wenn man einräumt, dass es sinnvoll ist, von nicht-sprachlichen, also praktischen bzw. umsichtigen Begriffen zu sprechen, so wäre es doch verfehlt, die praktischen und die sprachlichen Begriffe aneinander anzugleichen. Begriffe im sprachlichen Sinne – man könnte auch von vollwertigen Begriffen sprechen – unterliegen einer Allgemeingültigkeitsbedingung.[26] Begriffe, über die jemand verfügt, müssen freistehend miteinander kombiniert werden können. Die Idee, die mit dieser Bedingung verbunden ist, besteht darin, dass Begriffe die Grundbausteine von Gedanken sind und einzelne Begriffe auf verschiedene Weisen zu unterschiedlichen Gedanken zusammengesetzt werden können. Begriffe freistehend miteinander kombinieren zu können, setzt voraus, sie von einzelnen Wahrnehmungssituationen, von Verhaltensweisen und Handlungen, den angemessenen Reaktionen auf Affordanzen – wie ich oben gesagt habe – losgelöst anwenden zu können. Entscheidend ist jedoch, dass mit freistehenden Kombinationen an praktische Begriffe angeschlossen werden kann. In diesem Sinne gehört das praktische Verweisen, die Umsicht im Sinne Heideggers in das Reich des Begrifflichen, und daher ist es gerechtfertigt, hier von Begriffen zu sprechen.

Wie verhalten sich aber nun praktische Verweisungen und sprachlich-begriffliche Verweisungen genau zueinander? Einem geläufigen Bild zufolge sind praktische Verweisungen Bestandteile einer elementaren Schicht des Umgangs mit der Welt, weshalb sie in der Regel auch nicht als in irgendeinem Sinne begrifflich aufgefasst werden. Auf dieser Schicht soll sich dann eine weitere Schicht aufbauen, innerhalb derer Begriffe im Vollsinn ins Spiel kommen. Ein solches Schichtenmodell der menschlichen Kognition wird von vielen Interpreten Heideggers, beispielsweise auch von Dreyfus, vertreten.[27] Die unterste Schicht gilt als der nicht-begriffliche Keller unseres Lebens, den wir gemeinsam mit anderen Lebewesen benutzen. Auf diesem Keller soll dann das Stockwerk der Sprache errichtet werden. Heidegger scheint eine solche Vorstellung nicht auszuschließen, zumal er ja selber davon spricht, dass die aus dem In-der-Welt-sein herrührende Bedeutsamkeit das Sein von Wort und Sprache fundiere. Bezüglich der Fundierungsfrage findet sich jedoch in Heideggers Handexemplar von Sein und Zeit die Randbemerkung: „Unwahr. Sprache ist nicht aufgestockt, sondern ist das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da.“[28] Das ist eine kryptische, auch irreführende Bemerkung. Irreführend ist der Ausdruck „unwahr“ mit Blick auf die Analysen im § 18 von Sein und Zeit. Hätte Heidegger sich zu dem Zeitpunkt, als er die betreffende Marginalie verfasst hat, richtig verstanden, wäre ihm nicht entgangen, dass er sich gar nicht hätte distanzieren müssen. Versteht man die Überlegungen zum Verhältnis von Bedeutsamkeit, praktischem Verweisen und Sprache in einem genetischen Sinne, sind sie mit der Ablehnung eines Schichtenmodells durchaus vereinbar. Dass die Sprache das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da ist, wie Heidegger sich ein wenig umständlich ausdrückt, bedeutet, dass sich erst durch die Sprache Weltbezüge unter dem Gesichtspunkt von „wahr“ und „falsch“ evaluieren lassen. Mit der Sprache wird alles anders.

Mit der Sprache tritt nicht einfach eine zweite Schicht hinzu, die auf die erste aufgesetzt wird und die dort einschlägigen Mechanismen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unberührt lässt. Mit dem Erwerb einer Sprache wird das Selbst- und Weltverhältnis auf eine Weise modifiziert, die komplett auf die untere Schicht durchschlägt. In diesem Sinne sollte man die Vorstellung von Schichten aufgeben. Mit der Sprache ändert sich in einem bestimmten Sinne alles, und es kommt zu einer flächendeckenden Transformation der Vollzüge und Fähigkeiten, die innerhalb der ersten Schicht eine Rolle spielen. Auch wenn man also für eine Art des Verfügens über Begriffe eintritt, die sich nicht artikulieren lässt, oder zumindest dafür eintritt, dass das Verfügen über Begriffe nicht davon abhängt, dass es sprachlich artikulierbar ist, lässt sich die Auffassung verteidigen, dass diese Fähigkeit von Wesen, die aufs Ganze gesehen die Fähigkeit zur Artikulation von Propositionen haben, anders ausgeübt wird. Sie können mit freistehenden Kombinationen an praktische Begriffe anschließen und tun dies auch immer schon. Selbst also unter der Voraussetzung der Gültigkeit einer nicht-lingualistischen Version der Begrifflichkeitsthese lässt sich die Auffassung verteidigen, dass der Raum des menschlichen Lebens durch und durch sprachlich ist.

Betrachten wir ein Beispiel, das aus dem Umfeld der Zeuganalyse stamen könnte: Das Aufstoßen einer Tür, das vollzogen wird, um in einen Raum zu gelangen, ist kein sprachliches Phänomen. Die Voraussetzungen dafür, eine Tür aufstoßen zu können, liegen in der Organisationsform eines Organismus. Wenn wir uns ein sprachloses Wesen vorstellen, dass uns anatomisch ähnlich ist, gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass auch es Türen aufstoßen könnte. Wir können das herausfinden. Obwohl das Aufstoßen einer Tür kein sprachliches Phänomen ist, obwohl das Aufstoßen einer Tür auch Wesen möglich ist, die nicht über eine Sprache verfügen, wird es von Wesen, die über eine Sprache verfügen, als etwas erfahren, was immer schon in sprachliche Umgebungen eingebettet ist. Ich erinnere an meine Rede vom apriorischen Perfekt der Artikulation. Wesen, die über eine Sprache verfügen, stoßen nicht einfach eine Tür auf. Die Handlung zieht Fragen auf sich, geht vielleicht mit Sorgen einher, kann Gegenstand von Gesprächen werden und taucht im Kontext vielfältiger propositionaler Einstellungen auf. Man wünscht sich, dass die Tür aufgeht, hofft, dass man sich beim gewaltsamen Öffnen nicht verletzt und anderes mehr. Im Sinne des apriorischen Perfekts der Artikulation kann man sagen, dass es für Wesen, die über eine Sprache verfügen, kein Reich jenseits der Sprache gibt, was aber nicht heißt, dass alle Phänomene im Leben sprachfähiger Wesen sprachliche Phänomene wären. Der Hinweis auf die Nichtsprachlichkeit eines Phänomens ist also kein Argument gegen die Auffassung, dass sich das Leben sprachfähiger Wesen in einer Fassung abspielt, die durch und durch sprachlich ist. Erfahrungen haben keine Untertitel, um die von Collins auf McDowell gemünzte Wendung aufzugreifen. Sie benötigen auch keine Untertitel, da sie uns stets in einer synchronisierten Fassung vorliegen.

Wenn man zwischen begrifflichen und sprachlichen Strukturen unterscheidet und die Möglichkeit nicht-sprachlicher Begriffe nicht ausschließt, wird deutlich, dass und wie sprachliche und nicht-sprachliche Aspekte der Erfahrung ineinandergreifen. Es wird auch deutlich, dass nicht-sprachliche Erfahrungen im Leben sprachlicher Wesen immer schon in das Licht der Sprache getaucht sind. Vor diesem Hintergrund ist zu konstatieren, dass viele eingeschliffene Alternativen in der Diskussion um die Rolle der Sprache, wie beispielsweise die zwischen Lingualismus auf der einen und Mentalismus auf der anderen Seite, verfehlt sind. Menschen führen ihr Leben in das Netz der Sprache verstrickt, was aber nicht heißt, dass alles in diesem Leben sprachlich wäre. Ich denke, Heidegger hat genau diesen Sachverhalt gesehen.


Kontakt: Christoph Demmerling, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie, 07737 Jena,

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Published Online: 2016-3-8
Published in Print: 2016-2-1

© 2016 by Walter de Gruyter Berlin/Boston

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