Es gibt Autoren, denen ich gerne begegnen würde. Ich könnte mir gut vorstellen, mit Montaigne, in seiner Bibliothek, bei einer Flasche Rotwein, über alles Mögliche zu plaudern, à bâtons rompus, über alte und neue Literatur, über Reisen und ferne Länder, Tugenden und Laster, den Wasserstand der Dordogne und die jüngste Weinernte. Ob ich mir Dantes Lamento über den Niedergang von Florenz (und Italiens – »Ahi serva Italia« – und der Kirche und der Welt) anhören wollte (denn zu Wort ließe er mich nicht kommen, Widerspruch könnte er nicht dulden), weiß ich nicht. Dante, der entschlossene Politiker, der allwissende Gelehrte, der gestrenge Präzeptor, der glaubensfeste Theologe, der sich an die Stelle Gottes setzt, um den armen Sünderinnen und Sündern ihren Platz im Jenseits anzuweisen, steht mir fern. Ein Gefühl der Nähe verbindet mich aber mit dem Dante, der in der Hölle Furcht und Schrecken erlebt, im Purgatorium Zuversicht und Hoffnung, im Paradies unbeschreibliches Glück.
Das, was Bedeutung hat, ist die Göttliche Komödie, der es gelingt, mich über einen Zeitraum von siebenhundert Jahren hinweg anzusprechen, obwohl die Jenseitsordnung, die sie in allen Details vor Augen stellt, von meiner eigenen Weltanschauung Lichtjahre weit entfernt ist. Der Schlüssel zu dieser Magie findet sich im ersten Vers des Epos: »Nel mezzo del cammin di nostra vita«. Der Dante, der vom rechten Weg abgekommen ist und nicht mehr weiß, wie er seinen Lebensweg fortsetzen soll, ist einer von uns. Was ihm widerfährt, kann jedem zustoßen. Wer wäre nicht erleichtert, wenn in einer Situation der Aussichtslosigkeit, der Bedrohung durch innere und äußere Feinde, nicht plötzlich ein väterlicher Freund auftauchte, von einer höheren Macht geschickt, der verlässlich durch alle Gefahren und Mühen zum Licht der Wahrheit, zur absoluten Glückseligkeit führt.
Um diesem Dante, der auf der Suche nach sich selbst in die Hölle hinabsteigt, den Läuterungsberg erklimmt und ins Paradies auffliegt, nahe zu kommen, musste ich den Umweg über die kreative Dante-Rezeption des 20. und 21. Jahrhunderts nehmen. Joyce und Beckett, Borges und Camus, Primo Levi und Peter Weiss, Manganelli, Celati und viele andere mehr halfen mir, eine Blockade zu überwinden, die mit meiner philologischen Ausbildung aufs Engste zusammenhängt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich drei Sommer nacheinander in einem Ferienhaus in Marina di Castagneto Carducci Vormittag für Vormittag die Commedia las, während Frau und Kinder am Strand waren, Gesang für Gesang, Fußnote für Fußnote, mit der Gewissenhaftigkeit eines Universitätsassistenten, der zum Italianisten werden wollte, ohne das Fach je ordentlich studiert zu haben. So unabdingbar diese gelehrte Lektüre auch war (und ist), um den mittelalterlichen Text in seiner sprachlichen und historischen Fremdheit verstehen zu lernen, so läuft sie doch Gefahr, seine lebendige Aneignung im Akt des Lesens zu blockieren. Ganz zu schweigen davon, dass Mitte der 80er Jahre, als ich Dante erstmals ernsthaft zu lesen begann, die strukturalistische Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften ohnehin jede irgendwie identifikatorische Lektüre unter Generalverdacht stellte. Genau diese fand ich aber bei den Autoren (seltener Autorinnen), die auf Dantes Werk zurückgriffen, um Probleme ihrer Zeit, nicht selten eigene Erfahrungen, als Probleme und Erfahrungen »di nostra vita« kenntlich zu machen und literarisch zu bearbeiten. Wenn Primo Levi in Auschwitz der Canto di Ulisse in den Sinn kommt, dann identifiziert er sich in diesem Moment mit dem Odysseus, der seine Gefährten an den Kern des Menschseins erinnert, bevor er eine Reise antritt, die mit ihrer aller Tod enden wird. Dantes Verse werden Levi zum Kompass, der ihm hilft, in einer Wirklichkeit, die sich jedem Verstehen widersetzt, Mensch zu bleiben. Diese Lektüre wirft die Frage nach der moralischen Verantwortung, dem »libero arbitrio«, eines jeden Menschen auf, die Dante in den Begegnungen mit den Verdammten, den Büßern und den Erlösten, Levi in seinen Reflexionen über die »sommersi« und die »salvati« der nationalsozialistischen Vernichtungslager zu ergründen suchen.
Jede kreative Dante-Rezeption, so frei sie auch sein mag, führt zur Göttlichen Komödie zurück. Gerade den multimedialen Aneignungen der letzten Jahrzehnte, die die Grenzen von Hoch- und Populärkultur überwinden, gelingt es, zuvor weniger beachtete Aspekte des mittelalterlichen Textes auszuleuchten. In Theater, Film, Graphic Novels, Rockmusik wird Dantes Vision des Jenseits, insbesondere der Hölle, in zeitgenössische Bilder übersetzt, die Schattenleiber erwachen zu neuem Leben, Verlorenheit, Schrecken, Mitleid werden erfahrbar, Atmosphärisches kommt zur Anschauung, der Höllensturm wird zur ohrenbetäubenden Geräuschkulisse. Sinnlichkeit ist der gemeinsame Nenner einer aktuellen Dante-Rezeption, die es in dieser künstlerischen Vielfalt und allgemeinen Zugänglichkeit noch nie gab.
Giorgio Manganelli empfahl, die Commedia wie eine Symphonie zu behandeln, die man ja auch an einem Stück anhört, ohne die Lust an der Musik durch Unterbrechungen und Kommentare zu stören. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ich eine solch selbstverständliche Assimilation von Dantes Versen jemals erreichen werde. Daher gebe ich mich damit zufrieden, die Bedeutungen, die die Göttliche Komödie für mich (und für uns) heute haben mag, in einem ständigen Hin und Her zwischen dem 700 Jahre alten Originaltext und den schöpferischen Aneignungen im 20. und 21. Jahrhundert auszuloten. Was mich dabei immer wieder aufs Neue zum Staunen bringt, ist die Allgegenwart eines mittelalterlichen Epos, das nicht aufhört, Künstler und ihr Publikum zum Nachdenken über die wirklich großen Fragen zu stimulieren: Was heißt Verantwortung? Was Liebe? Wie steht es um die Ordnung der Welt? Wo liegen die Grenzen des Menschseins? Wie lässt sich Unsagbares in Worte fassen?
© 2021 Peter Kuon, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Vorwort der Herausgeberin
- Dante heute
- Alla scoperta di Dante
- »Dante ha fatto il pieno«
- Dante nella mia vita
- Seven Years from Inferno to Paradiso
- 44 Jahre Mitgliedschaft – persönliche Gedanken und Erinnerungen
- »mostrò ciò che potea la lingua nostra« – il mio Dante
- Un coincidere di immanenza e trascendenza
- Dantes Stimme
- »E voi, mortali, tenetevi stretti / a giudicar« (Par. XX, 133–134)
- What Dante Means To Me
- Galeotto fu il libro – Leseakt statt Liebesakt
- Was bedeutet Dante für mich heute?
- Wie ich auf Dante gekommen bin
- Come divenni dantista, o quasi
- Un Dante hespérique
- Mein Weg zu Dante
- Mein Weg zu Dante – Dante für mich heute
- Annäherungen an die Commedia
- Gedanken über die Abhängigkeit des Kunstwerks
- Dante übersetzen
- Dante-Aktualisierungen, gestern und heute
- »Un dernier éclair de poésie sur les cercles ténébreux«
- Der Dichter als Außenseiter
- Dada Dante
- Eine weiße Kerze für Francesca von Berta Schmidt-Bickelmann – Dantelektüren eines Mitglieds der DDG (1938–1959)
- »Die Hölle ist das Unbewusste des Menschen von heute«
- Rezensionen
- Heather Webb, Dante’s Persons: An Ethics of the Transhuman, Oxford, Oxford University Press 2016, 223 pp.
- Claude Lefort, Dante’s Modernity. An Introduction to the Monarchia, translated from the French by Jennifer Rushworth. With an Essay by Judith Revel. Edited by Christiane Frey/Manuele Gragnolati/Christoph F. E. Holzhey/Arnd Wedemeyer, Berlin, ICI Berlin Press 2020, 114 S.
- Luigi Spagnolo, »A piè del vero«. Nuovi studi danteschi, Roma, Aracne 2018, 356 pp.
- Dante e la cultura fiorentina. Bono Giamboni, Brunetto Latini e la formazione intellettuale dei laici, a cura di Zygmunt G. Barański/Theodore J. Cachey Jr./Luca Lombardo, Salerno Editrice, Roma 2019, 254 S.
- Dantesque. Sur les traces du modèle, sous la direction de Giuseppe Sangirardi et Jean-Marie Fritz, Paris, Classiques Garnier 2019 (rencontres; 406), 305 pp.
- Alessandro Vettori, Dante’s Prayerful Pilgrimage. Typologies of Prayer in the Comedy, Leiden/Boston, Brill 2019 (Medieval and Renaissance Authors and Texts; 22), 266 S.
- Giovanni Boccaccio, Das Büchlein zum Lob Dantes, übersetzt und eingeführt von Moritz Rauchhaus, Berlin, Das kulturelle Gedächtnis 2021, 112 S.; Ruedi Imbach, Porträt des Dichters als Philosoph. Eine Betrachtung des philosophischen Denkens von Dante Alighieri, Basel, Schwabe 2020, 69 S.
- Giulio Ferroni, L’Italia di Dante. Viaggio nel paese della Commedia, Milano, La nave di Teseo 2019, 1126 pp.
- Per il testo e la chiosa del poema dantesco, a cura di Giorgio Inglese, Ravenna, Longo Editore 2018 (Letture classensi; 47), pp. 103.
- Bibliographie
- Deutsche Dante-Bibliographie 2020
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Vorwort der Herausgeberin
- Dante heute
- Alla scoperta di Dante
- »Dante ha fatto il pieno«
- Dante nella mia vita
- Seven Years from Inferno to Paradiso
- 44 Jahre Mitgliedschaft – persönliche Gedanken und Erinnerungen
- »mostrò ciò che potea la lingua nostra« – il mio Dante
- Un coincidere di immanenza e trascendenza
- Dantes Stimme
- »E voi, mortali, tenetevi stretti / a giudicar« (Par. XX, 133–134)
- What Dante Means To Me
- Galeotto fu il libro – Leseakt statt Liebesakt
- Was bedeutet Dante für mich heute?
- Wie ich auf Dante gekommen bin
- Come divenni dantista, o quasi
- Un Dante hespérique
- Mein Weg zu Dante
- Mein Weg zu Dante – Dante für mich heute
- Annäherungen an die Commedia
- Gedanken über die Abhängigkeit des Kunstwerks
- Dante übersetzen
- Dante-Aktualisierungen, gestern und heute
- »Un dernier éclair de poésie sur les cercles ténébreux«
- Der Dichter als Außenseiter
- Dada Dante
- Eine weiße Kerze für Francesca von Berta Schmidt-Bickelmann – Dantelektüren eines Mitglieds der DDG (1938–1959)
- »Die Hölle ist das Unbewusste des Menschen von heute«
- Rezensionen
- Heather Webb, Dante’s Persons: An Ethics of the Transhuman, Oxford, Oxford University Press 2016, 223 pp.
- Claude Lefort, Dante’s Modernity. An Introduction to the Monarchia, translated from the French by Jennifer Rushworth. With an Essay by Judith Revel. Edited by Christiane Frey/Manuele Gragnolati/Christoph F. E. Holzhey/Arnd Wedemeyer, Berlin, ICI Berlin Press 2020, 114 S.
- Luigi Spagnolo, »A piè del vero«. Nuovi studi danteschi, Roma, Aracne 2018, 356 pp.
- Dante e la cultura fiorentina. Bono Giamboni, Brunetto Latini e la formazione intellettuale dei laici, a cura di Zygmunt G. Barański/Theodore J. Cachey Jr./Luca Lombardo, Salerno Editrice, Roma 2019, 254 S.
- Dantesque. Sur les traces du modèle, sous la direction de Giuseppe Sangirardi et Jean-Marie Fritz, Paris, Classiques Garnier 2019 (rencontres; 406), 305 pp.
- Alessandro Vettori, Dante’s Prayerful Pilgrimage. Typologies of Prayer in the Comedy, Leiden/Boston, Brill 2019 (Medieval and Renaissance Authors and Texts; 22), 266 S.
- Giovanni Boccaccio, Das Büchlein zum Lob Dantes, übersetzt und eingeführt von Moritz Rauchhaus, Berlin, Das kulturelle Gedächtnis 2021, 112 S.; Ruedi Imbach, Porträt des Dichters als Philosoph. Eine Betrachtung des philosophischen Denkens von Dante Alighieri, Basel, Schwabe 2020, 69 S.
- Giulio Ferroni, L’Italia di Dante. Viaggio nel paese della Commedia, Milano, La nave di Teseo 2019, 1126 pp.
- Per il testo e la chiosa del poema dantesco, a cura di Giorgio Inglese, Ravenna, Longo Editore 2018 (Letture classensi; 47), pp. 103.
- Bibliographie
- Deutsche Dante-Bibliographie 2020