Henrike Manuwald: Das Andachtsbüchlein aus der Sammlung Bouhier (Montpellier, Bibliothèque Universitaire Historique de Médecine, H 396). Studie und kommentierte Edition, Wiesbaden: Reichert 2022, 550 S., 40 s/w-Abb., 112 Farbabb. (Imagines Medii Aevi 55)
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Henrike Manuwald: Das Andachtsbüchlein aus der Sammlung Bouhier (Montpellier, Bibliothèque Universitaire Historique de Médecine, H 396). Studie und kommentierte Edition, Wiesbaden: Reichert 2022, 550 S., 40 s/w-Abb., 112 Farbabb. (Imagines Medii Aevi 55)
Dass Sammelhandschriften sich ihrer Heterogenität wegen einer Typisierung verweigern, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Die Bestimmung erfolgt dann meistens – wenn es sich nicht um willkürlich zusammengesetzte Komposithandschriften handelt – über eine allgemeine Charakterisierung (›geistliche Sammelhandschrift‹) oder über ihre mutmaßliche Funktion (›Hausbuch‹). Dass sich aber auch die einzelnen Bestandteile einer Sammelhandschrift nicht mit Genauigkeit bekannten Text- oder, wie im vorliegenden Fall, Text-Bildtypen der Zeit zuordnen lassen, ist schon bemerkenswerter. Ein solches ›Unikat‹ (S. 11) scheint in der von Henrike Manuwald durch ihre Untersuchung und kommentierte Edition für die Wissenschaft erschlossene Bilderhandschrift H 396 der Bibliothèque Universitaire Historique de Médecine von Montpellier tatsächlich vorzuliegen. Es handelt sich um eine kleine, wenig umfangreiche Pergamenthandschrift (ca. 9,7x6,9 cm; 48 Bll., wobei mindestens drei Lagen, vermutlich 34 Bll., fehlen) aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts mit Nachträgen in Schrift und Bild wohl bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts und einer Neubindung im 17. Jahrhundert. Zwar suggerieren die einzelnen Partien der Handschrift – eine illustrierte deutsche Perikopenbearbeitung, ein immerwährender Heiligenkalender mit Bildkürzeln und ein Bilderzyklus zur Passion Christi – bestimmte Erwartungen an damit verbundene Textsorten, Text-Bild-Verbünden oder Buchtypen. Bei genauerer Betrachtung entziehen sie sich jedoch immer wieder einer präziseren Zuordnung. Und für die Kombination der Teile lassen sich erst recht keine Parallelen eruieren. Wenn aus dem kleinformatigen Buchblock immerhin eine Bestimmung der Handschrift zum privaten Gebrauch abgeleitet werden kann, so handelt es sich doch nicht um ein Privatgebet- oder Stundenbuch. Die Bezeichnung ›Andachtsbüchlein‹, die Manuwald gewählt hat, stellt für sie »angesichts der Einzigartigkeit der Handschrift eine Notlösung dar und beruht zugleich auf der in dieser Studie weiter zu entfaltenden Hypothese, dass alle drei Teile für Andachtszwecke genutzt werden können.« (S. 20). Die Bestimmung des Handschriftentyps erfolgt somit über eine Ermittlung der zentralen Funktion des ›Büchleins‹ und diese wiederum über eine Bestandsaufnahme aller Indizien, die sich aus der Materialität der Handschrift, ihrer geographischen und institutionellen Verortung und dem Abgleich mit Vergleichsobjekten erheben lassen.
Dabei wird rasch klar, dass nicht nur die Bestimmung des Handschriftentyps bzw. die Kategorisierung der drei Handschriftenbestandteile Probleme bereitet, sondern dass sich das ›Andachtsbüchlein‹ in fast all seinen Facetten als großes Fragezeichen präsentiert und dass die zu eruierenden Indizien durchweg zumindest einen Rest an Unsicherheit stehen lassen. Insofern ist die minutiöse Vorgehensweise von Manuwald, die in ihrer Analyse kaum ein Detail aus- und kaum Wünsche offenlässt, gewiss die richtige. So stehen denn schließlich dem geringen Umfang der Handschrift beeindruckende über 300 Seiten Untersuchung und fast 180 Seiten kommentierte Edition gegenüber, ergänzt durch 60 Seiten Vergleichsabbildungen, Tabellen, Literaturverzeichnis sowie Register der Handschriften, Urkunden, Drucke und Objekte.
Nach einer knappen Einführung (Kap. 1), welche durch eine Kurzbeschreibung der Handschrift ergänzt wird,[1] skizziert Manuwald kurz deren Provenienz und Besitzgeschichte (Kap. 2). Während die Herkunft und das Schicksal des Codex im Mittelalter zunächst im Dunkeln bleibt, lässt sich die Besitzgeschichte ab dem 17. Jahrhundert, nach dem Erwerb des Büchleins wohl durch Jean III. Bouhier (Dijon, 1607–1671) – und vielleicht aus der von ihm erworbenen Sammlung des Bischofs von Chalon 1642 – bis zu seinem heutigen Aufbewahrungsort lückenlos nachverfolgen. Der Forschung blieb die Handschrift bis zu ihrer Wiederentdeckung durch Manuwald 2009 nahezu unbekannt.
Indizien für das Entstehungsumfeld des Büchleins und seine lange Nutzungsgeschichte lassen sich aus den kodikologischen, paläographischen, dialektologischen und kunsthistorischen Analysen gewinnen (Kap. 3): Mindestens drei Schreiber, deren Schriftvarianten, aber auch Schreibsprache auf eine ostmitteldeutsche Provenienz und Ausbildung in ein und derselben Schreibstube deuten, sind im Perikopen-, Kalender- und (soweit eruierbar) im weitgehend schriftlosen Passionsteil nachzuweisen. Diese älteste Schicht dürfte im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden sein. Sicher im 15. Jahrhundert, vielleicht um dessen Mitte, wandert die Handschrift nach Westen, womöglich in den Mainzer oder Trierer Raum, wo ein von vierter Hand beschriebenes Doppelblatt in den Kalenderteil inseriert wird. Diese Hand ist auch für zahlreiche Korrekturen in den anderen Teilen verantwortlich. Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts sind dann noch vier weitere Hände zu identifizieren. Die Bebilderung, deren arbeitsteiliger Entstehungsprozess (Vorzeichnung, Kolorierung, Konturennachzeichnung) in der ältesten Schicht gut nachvollzogen werden kann, erfolgte in enger Abstimmung mit den Texten und widerspricht mit ihren (allerdings nicht flagranten) Parallelen zu späten Vertretern der ›thüringisch-sächsischen Malschule‹ und zu geistlichen bebilderten Handschriften aus Erfurt dem paläographisch-schriftsprachlichen Befund keineswegs. Dies gilt auch für die bildlichen Nachträge, die sich auf den Kalenderteil beschränken: Die entsprechenden Maler sind in eine relative Chronologie zu bringen, wobei die Auswahl der nachgetragenen Heiligen eine Wanderung des Büchleins von Osten nach Westen, in die Gegend um Mainz oder in den Trierer Raum vermuten, aber (wie bei der sprachlichen Analyse) nicht sichern lässt.
Weitere Indizien bezüglich der Entstehungs- und Verwendungskontexte liefert die Analyse der Perikopenauswahl im ersten sowie die der Heiligen im zweiten Handschriftenteil (Kap. 4). Die Rekonstruktion der ursprünglichen Lagenfolge lässt auf einen Temporale-Abschnitt gemäß der Ordnung des Kirchenjahrs schließen, auf welchen ein Perikopenteil zu einzelnen Festen folgt. Abgesehen von einigen Abweichungen stimmt die Festordnung weitgehend mit der dominikanischen Leseordnung nach der Reform von 1256 überein. Wahl und Anordnung der übrigen Leseanlässe bleiben rätselhaft und könnten nach Manuwald (vgl. S. 138) durch das spezifische Interesse des Auftraggebers begründet sein. Sie setzen inhaltliche Schwerpunkte, etwa bei der Nachfolge Christi, dem Keuschheits-/Armutsgebot sowie bei der Bewertung von Vita activa und Vita contemplativa. Die Individualanfertigung des ›Andachtsbüchleins‹ zeigt sich auch im Kalender schon in dessen ältester Schicht mit seiner Kombination eines liturgischen Kontextes (mit Anlehnung an die dominikanische Liturgie und ihre Heilige im ostmitteldeutschen Raum) und eines mehr brauchtumsbezogenen Interesses, welches sich an den Jahreszeiten und dem Wirtschaftsleben orientiert. Die Nachträge im Kalender erhalten eine spezifisch kartäusische Prägung durch ihre Ergänzung von in diesem Umfeld speziell verehrten Heiligen (v. a. Hugo von Lincoln) sowie durch den Zusatz gezeichneter Kerzen zur Markierung des höchsten kartäusischen Festgrades als solemnitas candelarum. Plausibel erscheint damit eine Nutzung im Umfeld dieses Ordens nach einer Wanderung der Handschrift in den westmitteldeutschen Raum. Allerdings kann auch eine Überarbeitung und Ergänzung noch im ursprünglichen Entstehungsraum nicht ganz ausgeschlossen werden, zumal Erfurt (als möglicher Entstehungsort des Büchleins) zur Diözese Mainz gehörte. Die Handschrift erweist sich in jedem Fall jedoch als Produkt von Netzwerken, die über den Orden hinausreichen.
Damit ist bereits der Rahmen, in welchem sich die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Handschrift bewegt, recht genau abgesteckt. Im zentralen (und mit über 130 Seiten umfangreichsten) Kapitel 5 erhält das Bild durch eine überaus aufwändige systematische Analyse der Anlage, Ikonographie und der möglichen Kontexte der drei Handschriftenteile weitere Konturen und Schärfe. Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, dies im Einzelnen nachzuzeichnen. Hier nur ausgewählte Hinweise zu jedem Teil:
Bei der Untersuchung des Perikopenteils liegt der Fokus auf dem Zusammenspiel vom sehr knapp formulierten und erstaunlicherweise oft mitten im Satz abbrechenden Perikopentext, dem dazugehörigen Bild und dem diesen beiden Komponenten zugrundeliegenden Evangelienabschnitt als Leseanlass. Ein direkter Austausch zwischen Schreiber und Bild-›Concepteur‹ tritt nur punktuell in Erscheinung. Der gemeinsame Bezugspunkt stellt daher der zugrundeliegende Evangelientext selbst dar. Dabei treten bei den einzelnen Schreibern für ihre sprachliche Gestaltung der Perikopen durchaus individuelle Bearbeitungstendenzen zutage. Für die Analyse der oft ungewöhnlichen, bisweilen gar einzigartigen Ikonographie der einzelnen Bilder helfen Vergleichshandschriften, das ganz eigene Profil des Bilderzyklus zu schärfen und Parallelen sichtbar zu machen. Was den Texttypus des Perikopenteils angeht, lässt er sich – bei mehr punktuellen Parallelen zu Evangelistaren und der ›Biblia Pauperum‹ – als relativ frühes Zeugnis den ab dem 13. Jahrhundert einsetzenden deutschsprachigen Perikopenübersetzungen an die Seite stellen. Das ›Andachtsbüchlein‹ erlaubt einen paraliturgischen Nachvollzug der Perikopen durch eine private Rekapitulation des bereits bekannten Evangelientextes. Strukturell verwandt ist die Perikopenpartie aber auch mit dem Typus des ›Picture Book‹, für welchen H 396 ebenfalls ein recht frühes Zeugnis darstellen könnte. Ohne Parallele zu Vergleichshandschriften, aber von allen Schreibern des Perikopenteils konsequent durchgeführt, bleibt der doppelte Verweischarakter der Textelemente, die einerseits »nicht den Perikopen- oder Bildinhalt, sondern den Leseanlass in den Vordergrund [rücken] und […] so dezidiert eine Verbindung zum liturgischen Kontext her[stellen]«, andererseits auch nicht die Bezugsperikope repräsentieren, »sondern […] durch ihre ausgestellte Unvollständigkeit zum Perikopentext hin[führen]« (S. 234) wollen.
Die Ikonographie des Kalenderteils ist weitgehend konventionell, was die Typisierung der Heilligen und die Variationsbreite in der Darstellung ihrer Attribute angeht. »Für die Frage nach der Art der Nutzung des Kalenders ist aufschlussreich, dass es bereits in der ursprünglichen Bildschicht Heiligenfiguren gab, die zwar durch ihre Tracht in ihren Ämtern charakterisiert sind, aber nicht durch Bildzeichen individuell kenntlich gemacht wurden; bei den Nachträgen setzt sich das so fort« (S. 261). Die Beantwortung dieser Frage bleibt Manuwald hier allerdings schuldig. Dass ein Kalender in eine Handschrift mit Teilen integriert wird, die sich auf das Evangelium beziehen (Perikopen, Passion), ist außergewöhnlich, und auch für die Anlage des Kalenderteiles – pro Seite sind in zwei Reihen die Tagesbuchstaben für je eine Woche mit darüber meist als Büsten gezeichneten Heiligen eingetragen (und identifiziert) – gibt es keine direkten Vorläufer. Am ehesten verwandt ist die Kalenderpartie noch mit den Faltkalendern und späteren Almanachen, doch fehlt im Fall des ›Andachtsbüchleins‹ die Anreicherung mit astronomischen, astrologischen oder komputistischen Informationen, wenn man vom nachträglichen Eintrag einer Sonnenzyklus- bzw. Sonnenzirkeltabelle auf fol. 32 f. absieht, der von einem verstärkten Interesse an kalendarischen Berechnungen zeugt und »vermutlich vor allem auf Ambitionen in Bezug auf die Teilhabe an gelehrtem Wissen hin[deutet]« (S. 241). Die Bildkürzel des Kalenders laden – ähnlich wie im Perikopenteil dessen Texte und Bilder – zu einer vertieften meditativen Beschäftigung mit den dargestellten Heiligen oder Festanlässen ein, wobei die vor Augen gestellten Attribute der Vergegenwärtigung etwa der dadurch evozierten Martyrien dienen konnten.
Der Passionsteil schließlich, mit seinen vierzehn Szenen, die zwischen dem Gebet Christi am Ölberg und seiner Grablegung nach dem Kreuzestod angesiedelt sind, bilden einen vollständig erhaltenen Zyklus, der in dieser Dichte mit seiner Ausdifferenzierung des Leidensweges seinesgleichen sucht. So wird Christus auf vier Seiten des Zyklus (also in fast einem Drittel des Teils) nicht nur den beiden römischen Richterfiguren Pilatus und Herodes vorgeführt, sondern davor schon den jüdischen Hohepriestern Hannas und Kajaphas, wodurch die Rolle der jüdischen Gerichtsbarkeit betont wird. Die drastische Darstellung der Marterung Jesu verweist auf bildliche Darstellungen, wie wir sie vor allem aus dem späteren 14. und dem 15. Jahrhundert kennen und wie sie dann ebenfalls in Passionstraktaten, der Leben-Jesu-Meditationsliteratur und dem geistlichen Spiel weiter ausgestaltet werden. Die Grablegung mit der Muttergottes, den drei Marien und Joseph von Arimathäa »ist von Gesten der Trauer und der Zärtlichkeit dominiert« (S. 285). Von der Funktion her ist der Passionsteil mit Techniken der Passionsfrömmigkeit und der Meditation über das Leben Jesu zu verbinden, die auf inneren Nachvollzug ausgerichtet sind. Er teilt damit Gemeinsamkeiten mit Passionstraktaten, Passionsharmonien oder bibelepische Darstellungen des Passionsgeschehens. Wie die Passionszyklen in Stundenbüchern sind die Bilder auf das Leiden Jesu ausgerichtet; sie sparen Auferstehung und Verklärung auf. Verbindungen, aber auch strukturelle Differenzen gibt es zu Psalter-Proömien oder zu Evangelistaren, in welchen ebenfalls Zusammenhänge zwischen der Beschäftigung mit Perikopen und der imaginativen Versenkung in das Passionsgeschehen fassbar werden.
Im abschließenden Kapitel des Untersuchungsteiles (Kap. 6) steht die Handschrift unter frömmigkeitsgeschichtlichem Vorzeichen als ›Andachtsbüchlein‹ im Zentrum. Die in den vorangehenden Untersuchungsschritten herausgearbeiteten Funktionen und im Entstehungs- und Rezeptionsprozess erfolgten Funktionsänderungen der einzelnen Teile von H 396 und ihres Zusammenwirkens erlauben Rückschlüsse auf das Nutzungsprofil der Handschrift sowie auf damit verbundene Frömmigkeitspraktiken und -kulturen für die verschiedenen Phasen ihres Gebrauchs. Trotz partieller Strukturanalogien lässt sich der Codex mit der spezifischen Kombination seiner Teile bisher keinem bestimmten Buchtyp zuordnen. Damit befindet er sich gewiss in guter Gesellschaft. Sollte er tatsächlich ein Unikat dargestellt haben, könnte das Büchlein bei seiner Konzeption individuelle Interessen bedient haben. Die funktionalen Gemeinsamkeiten der Partien legen eine Rezeptionshaltung der ›Betrachtung‹ nahe und haben Manuwald zur Charakterisierung der Handschrift als ›Andachtsbüchlein‹ bewogen. Das schließt andere Funktionen, z. B. die einer rein kalendarischen Orientierung, nicht aus. Der Perikopenteil könnte, Jeffrey Hamburger folgend, durchaus auch als »illustrated vade mecum for the Mass« (zitiert S. 296, Anm. 18) gedient haben. Die Perikopen- und Kalenderteile setzen für die Rezeption Lesefähigkeit voraus, darüber hinaus recht detailgenaue Kenntnisse der Perikopen in ihrem Wortlaut, etwa wenn sich Bildelemente auf einzelne Ausdrücke des Evangelientextes beziehen, ohne dass der Sinn aus dem Bildkontext zu erschließen wäre. Der Kalender wiederum setzt im Umgang eine Vertrautheit im Dekodieren der Tagesbuchstaben und der Festhierarchie voraus. Es wird somit ein recht hoher Bildungsgrad vorausgesetzt. Manuwald schwebt als idealer Benutzer der Handschrift der »gebildete[ ] Laie (im kirchenrechtlichen Sinn)« (S. 298) vor, auch wenn sie (trotz der Deutschsprachigkeit der Perikopentexte) eine Rezeption durch Kleriker nicht ausschließen kann. Aus der Kombination von Perikopenteil und Kalender ist für die primäre Rezeption ein Interesse zu erschließen, sich im Lauf des (Kirchen-)Jahres an der Tagesliturgie zu orientieren, wobei aus der liturgischen Ordnung primär diejenigen Elemente ausgewählt wurden, die eine Basis für Christusfrömmigkeit und Heiligenverehrung des Einzelnen bilden konnten. Der Passionsteil mit seinen beim Betrachter auf compassio und contemplatio zielenden Bilder des Leidens Jesu stützt diese Tendenz. »Das heißt, dass die Tagesliturgie zwar den Bezugsrahmen bildet, aber in der Anlage der Handschrift auf den Einzelnen bezogene Frömmigkeitspraktiken zu greifen sind« (S. 298 f.).
Was den institutionellen Rahmen angeht, scheint die ursprüngliche Leseordnung der Perikopen zwar dominikanisch geprägt zu sein, wobei Manuwald das Dominikanerkloster von Erfurt zur Zeit Meister Eckharts privilegiert; die Heiligenauswahl passt aber nur teilweise dazu, wie auch die Festordnung schon der ersten Schicht keine rein dominikanische darstellt. Dazu tritt das manifeste Interesse an jahreszeitlichem Brauchtum, so dass man durchaus auch auf einen Gebrauch außerhalb eines geistlichen Ordens denken könnte. Das Interesse an einer geistlichen Lebenshaltung kann genauso gut ein institualisiertes wie ein innerliches geistliches Leben betreffen. Die Unentscheidbarkeit zwischen klerikaler und laikaler Nutzung spricht überdies für eine »standesunabhängige individuelle Hinwendung zu Gott[, die] immer mehr an Gewicht gewinnt« (S. 300), ohne dass der Bezug zur Liturgie gekappt würde. Das erlaubt »die Teilhabe an kollektiven liturgischen Rhythmen ebenso wie die Ausübung von Meditationspraktiken des Einzelnen« (ebd.).
Die spätere Umarbeitung des ›Andachtsbüchleins‹ im kartäusischen Kontext trägt rekonstruierende und ergänzende Züge. Die neue Festhierarchie bekräftigt und aktualisiert den Bezug zur Liturgie. Die Heiligen des neu zugefügten Doppelblattes im Kalenderteil zeugen vom Interesse an Patronaten, womit »ein verstärkter Fokus auf die vom Kalendertag unabhängige Wirkkraft der Heiligen im täglichen Leben« (S. 302) hinzutritt. Als Indiz dafür mag das Pfeilmartyrium des Sebastian dienen, welches im Kalender in der ursprünglichen Schicht bereits am Gedenktag im Bild angedeutet wird (fol. 29v, über dem Tagesbuchstaben f der ersten Wochenreihe), beim Nachtrag (fol. 33v, über b-c der ersten Reihe) hingegen unabhängig vom Gedenktag detailreicher ausgestaltet wird, so dass von einer »affektbasierte[n] Vergegenwärtigung des Heiligen, losgelöst von der liturgischen Verankerung« (S. 302) gesprochen werden kann. Deutlich wird hier auch der Wandel von einer ›Partizipationsmedialität‹, die eine subjektive Aneignung erfordert, hin zu einer ›Erleichterungs- oder Hilfsmaterialität‹ (Begriffe nach Berndt Hamm, zitiert S. 304), die Gnade und Heil erreichbar macht. »Möglicherweise hat die Handschrift in der Spätphase ihrer Nutzung als Frömmigkeitsobjekt insbesondere wegen der ›Präsenz‹ der Heiligen im Kalender den Charakter eines ›Talismans‹ bekommen« (S. 304 f.), wofür auch die durch zahlreiche Berührungen abgenutzte Christophorus-Figur (fol. 29r), oder die ausgekratzten Augen der Teufelsfiguren (fol. 15v und 6v) sprechen. Das ›Andachtsbüchlein‹ zeugt so von seiner funktionellen Wandelbarkeit bei grundsätzlichem Erhalt der Handschriftenteile. Das Unterlaufen etablierter Kategorien in der Frühphase der Handschrift könnte nach Manuwald durch die damit verbundene Offenheit dazu beigetragen haben, dass sich das Büchlein an später veränderte Nutzungskontexte anpassen konnte.
Die Kürze (14 Seiten) dieses – allerdings sehr dichten und damit ertragreichen – Abschlusskapitels mag angesichts des betriebenen Aufwandes der vorangehenden Untersuchungskapitel erstaunen. Sie entspricht dem in der Einführung (vgl. S. 12) sicher zu bescheiden formulierten Ziel des durchaus ambitionierten Unternehmens: die einzigartige Handschrift für künftige Forschungen eingehender zu erschließen. Dieser Erschließungsfunktion der Studie wird alles untergeordnet: In ungemein akribischer, ja fast positivistisch zu nennender, den Leser der Arbeit bisweilen auch ermüdender Sammelarbeit – man denke etwa an die über fünfzig Seiten, die dem Stil der Bilder gewidmet sind und selbst belanglose ikonographische Details auflisten – werden im Studienteil die Indizien zusammengesucht, beschrieben, analysiert, in Konfrontation mit Vergleichsmaterial kontextualisiert und in aller Vorsicht bewertet. Kein Ergebnis wird als gesichert dargestellt, wenn auch nur der geringste Zweifel daran besteht. Dabei ist sich Manuwald durchaus bewusst, welchen wissenschaftlichen Wert ihre Arbeit besitzt, wenn sie in der Einführung schreibt:
»Die bisher kaum erforschte Handschrift erweist sich als außergewöhnliches Objekt, das in verschiedener Hinsicht eine genaue Untersuchung lohnt: Aus germanistischer Perspektive bietet allein schon die Erschließung des Textbestandes der Handschrift neue Erkenntnisse, weil sie das bisherige Bild von dem Umgang mit Perikopen in deutscher Sprache erweitert. Die abbrechenden Paraphrasen lassen außerdem Rückschlüsse auf Rezeptionstechniken und die bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen dafür zu. In kunsthistorischer Hinsicht bildet die Handschrift einen wichtigen Baustein in der noch zu schreibenden Geschichte von Perikopen-Bilderzyklen. Hinzu kommen ikonographisch seltene Motive, auch im Kalenderteil. Vor allem eröffnet die Handschrift durch die Anlage des Perikopenteils, aber auch durch die Kombination der drei Teile, Einblicke in die Frömmigkeitspraktiken.« (S. 11 f.)
Der Editionsteil (Kap. 7), auf den abschließend eingegangen werden soll, bietet als kommentierte Edition nicht nur Text und Bild, sondern in den knapp gehaltenen Beschreibungen und Kurzanalysen zu den Textelementen, ikonographischen Charakteristika und Text-Bild-Relationen ein eigentliches Kondensat der vorangehenden Studie. Er lässt sich dadurch durchaus eigenständig und für sich allein studieren, dient den Leserinnen und Lesern der vorangehenden Studie aber natürlich auch als Dokumentation zum Nachvollzug der Analysen. Erschwert wird der Rückgriff auf die Edition dadurch, dass sich letztere nach der Abfolge der rekonstruierten ursprünglichen Lagenstruktur richtet, während sich die Foliierung und damit die entsprechenden Nachweise auf den derzeitigen Zustand der Handschrift beziehen. Damit gestaltet sich bisweilen die Suche nach der zitierten Seite im Perikopenteil etwas schwieriger. Die Entscheidung für eine Edition der rekonstruierten Lagenverteilung ist jedoch grundsätzlich sinnvoll, zumal, wie Manuwald richtig bemerkt, »die heutige Anordnung der Seiten […] keinen erkennbar neuen Sinnzusammenhang geschaffen hat« (S. 309).
Die drei Handschriftenteile werden separat ediert, mit je einleitenden Vorbemerkungen. Die Abbildungen sind annähernd in Originalgröße und in hervorragender Bildqualität farbig reproduziert, und zwar so, dass man einen Eindruck von den jeweiligen Doppelseiten im jetzigen Zustand der Handschrift (Kalender, Passionsteil) bzw. in der für den ursprünglichen Zustand rekonstruierten Zusammensetzung erhält, auch wenn sie als räumlich getrennte Einzelabbildungen auf den einander gegenüberliegenden Doppelseiten der Edition wiedergegeben sind. Wo sich der Kommentar über zwei Buchseiten hinwegzieht (was für den Perikopenteil den Normalfall darstellt), werden die Abbildung in schwarz-weiß-Wiedergabe ein zweites Mal abgedruckt, was zunächst irritiert, aber Sinn macht, zumal gerade hier (v. a. im Perikopenteil), die Informationen zu den Text-Bild-Relationen stehen.
Die wichtigsten Angaben (auch kodikologischer Art) zu jeder Handschriftenseite stehen direkt neben jeder Abbildung. Darunter folgen im Perikopenteil die Transkription des Textes mit Übersetzung sowie – in der gebotenen Knappheit – die Textanalyse, Bildbeschreibung, Nennung der ikonographischen Besonderheiten (oft mit Rückverweis auf den Untersuchungsteil) und Spezifika der Text-Bild-Relation. In der Edition des Kalenderteils werden die den Tagesbuchstaben zugeordneten Bildkürzel, in der Regel also die Heiligen und deren Attribute, identifiziert, wobei die Heiligen nach ihren (auch ikonographischen) Grundtypen (erläutert auf S. 428) klassifiziert werden. Der Kommentar für den Passionsteil folgt insgesamt dem Modell des Perikopenteils, mit der Edition und Übersetzung der Malanweisungen sowie Angabe der Evangelienstellen.
Die Faszination für diese »rätselhafte […] Handschrift«, der Entdeckergeist, der Henrike Manuwald in über zehnjähriger (wenn auch nicht ununterbrochener) Arbeit angetrieben hat, um das ›Andachtsbüchlein‹ für ein fachübergreifendes Publikum zu erschließen und zu edieren, wird auf jeder einzelnen Seite des Buchs deutlich und springt auf die Leserin oder den Leser über. Es ist ein wichtiges und die Forschung ungemein bereicherndes Buch, das nicht zuletzt auch zeigt, wie sich die handschriftliche Überlieferung mittelalterlicher Texte und Bilder und gerade auch von Sammelhandschriften immer wieder gängigen Kategorisierungen und Vereinnahmungen verweigert, und wie wichtig es deshalb ist, sich in multiperspektivischer und interdisziplinärer Vorgehensweise mit den einzelnen Zeugnissen als eigenständigen Produkten komplexer Entstehungsbedingungen und Rezeptionsgeschichten auseinanderzusetzen.
© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Aufsätze
- Use of modal particle of in Old Icelandic prose
- Das Gesellschaftslied als Typus und soziale Praxis
- Zwischen Herausgehobenheit und Verrätselung
- Rezensionen
- Marco Bruckmeier: Aspektmarkierung im Mittelhochdeutschen. Untersuchungen zur präfixgesteuerten Perfektivierung und verbalen Paarigkeit, Heidelberg: Winter 2024, 227 S., 66 Abb. (Germanistische Bibliothek 85)
- Carsten Becker: Genusresolution bei mittelhochdeutsch beide. Eine Analyse im Rahmen der Lexical-Functional Grammar, Berlin: Language Science Press 2024, 304 S. (Advances in Historical Linguistics 1)
- Eckhard Meineke: Studien zum genderneutralen Maskulinum, Heidelberg: Winter 2023, 358 S.
- Rolf Bergmann, Claudine Moulin u. Nikolaus Ruge (Hgg.): Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Geschichte der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte. Unter Mitarb. v. Natalia Filatkina u. Falko Klaes. 11., durchgesehene Aufl., Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 2023, 246 S., 6 Karten
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