Startseite Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise (Hrsg.): „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2018 (Buchwissenschaftliche Beiträge; Bd. 97). VI, 325 S., Abb., fest geb. ISSN 0724-7001, ISBN 978-447-11018-1. € 74,-
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Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise (Hrsg.): „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2018 (Buchwissenschaftliche Beiträge; Bd. 97). VI, 325 S., Abb., fest geb. ISSN 0724-7001, ISBN 978-447-11018-1. € 74,-

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Veröffentlicht/Copyright: 3. Dezember 2019

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Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise (Hrsg.): „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2018 (Buchwissenschaftliche Beiträge; Bd. 97). VI, 325 S., Abb., fest geb. ISSN 0724-7001, ISBN 978-447-11018-1. € 74,-


Wer sich im LGB2über Erotische Bücher und Pornographie informieren will, erfährt von Hartmann Walravens: „Das erotische Verlags- und Buchhandelswesen ist bis heute [1989] weitgehend unerforscht, da es sich dem Lichte der Öffentlichkeit entzog“ und [2003] „Die bibliographische Kontrolle [...] ist schwierig, da die Publikationen oft nicht als Pflichtstücke an Bibliotheken abgeliefert werden“.[1] Seitdem hat sich die Forschung intensiv des Themas angenommen und zum Teil umfassende Projekte auf den Weg gebracht, deren Ergebnisse in einer Reihe von Publikationen dokumentiert sind. Nichtsdestoweniger hat Björn Schmidt noch im Januar 2016 im L.I. S.A. Wissenschaftsportal konstatiert: „Pornographische Literatur des 18. Jahrhunderts stellt nach wie vor ein kaum erforschtes Gebiet der Germanistik dar“.[2] Immerhin scheint aber bis dato festzustehen, dass tatsächlich „im 18. und 19. Jahrhundert, abgesehen von zahllosen Übersetzungen fremdsprachiger Erotica, rund 300 freizügige und aufregende, zum Teil geradezu obszöne Werk erschienen“.[3] Einige Beispiele aus der sich positiv entwickelnden Forschung der jüngsten Zeit seien im Folgenden exemplarisch aufgeführt.

Im Jahr 2015 erschien der Band Erotisch-pornographische Lesestoffe. Das Geschäft mit Erotik und Pornographie im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.[4] Er versammelt die Beiträge einer Tagung von 2011 anlässlich des 60. Geburtstags des Mainzer Germanisten und Buchwissenschaftler Ernst Fischer. 2015/16 arbeitete eine international besetzte Forschergruppe am Center for Advanced Studies (CAS) an der Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU) an einem Projekt „Zur Herstellung und Distribution erotisch-pornographischer Lesestoffe im Zeitalter der Aufklärung“. Die Ergebnisse von drei Workshops im Rahmen dieses Projekts präsentierten Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise 2018 in einem Sammelband, der nachstehend zu besprechen sein wird. Das Forschungszentrum der Universität Erfurt lud vom 21. bis 23. Oktober 2015 zu einer internationalen Tagung „Deutsche Pornographie in der Aufklärung“ auf Schloss Friedenstein in Gotha ein. Auch diese Beiträge wurden 2018 publiziert.[5] Vorläufigen Schlussstrich zieht demnächst die Habilitationsschrift von Johannes Frimmel Das Geschäft mit der Unzucht. Die Verlage und der Kampf gegen Pornographie in Kaiserreich und Weimarer Republik, mit der der gesamte Zeitraum von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik abgedeckt ist, eine wichtige Voraussetzung für weitere Forschungsarbeit, die wohl ihre Pionierphase hinter sich hat.[6]

Will man zu diesem kurzen Überblick ein Resümee ziehen, ist hervorzuheben, dass sich insbesondere die Germanistik an der LMU zu einem Forschungszentrum für diese spezielle Literatur und ihre Verbreitung entwickelt hat. Als „Spiritus rectores“ erscheinen dabei Christine Haug und Johannes Frimmel. Man stößt auf ihre und weitere Namen immer wieder als Referenten bei Tagungen und als Autoren. Ausführlicher kann sich der Leser nunmehr in der umfassenden Einleitung zum vorliegenden Band informieren, der nun näher beleuchtet werden soll, und die von Seite 1 bis 21 einen Forschungsbericht mit Stand vom April 2018 bietet. Die Herausgeber formulieren das Forschungsziel, „eine Topographie der Produktionsstandorte und Handelsnetze für erotisch-pornographische Lesestoffe in Europa von 1650 bis 1850 zu erstellen“. Makrohistorisch sollen grenzübergreifende Märkte und Handelsräume in verschiedenen europäischen Ländern, mikrohistorisch einzelne territoriale Räume im deutschen Sprachgebiet untersucht werden. Nach Quellensituation und Forschungslage wird dann das Münchner Projekt vorgestellt: sein Untersuchungszeitraum, sein Forschungsprofil und seine Leitfragen. Die bisher gewonnenen Erkenntnisse wollen als Zwischenergebnisse verstanden und auf dieser Grundklage als Forschungsdesiderat formuliert werden, zum Beispiel „Die Verschränkung von literarisch-medialen und medizinischen Diskursen am Beispiel der Lesesucht-Debatte, insbesondere mit Blick auf die Wirkungskraft erotischer Lesestoffe.“ Dies betrifft auch die medizinische und volksaufklärerische Ratgeberliteratur.[7]

Der Band ist in drei Teile gegliedert:

  1. Produktions- und Vertriebsbedingungen in Europa

  2. Formen, Themen, Inszenierungen

  3. Rezeption und Nachwirken

Bill Bell eröffnet den ersten Teil mit „Venus in the Cloister: Edmund Curll und ein erotischer Klassiker“ einen Beitrag „zur obskuren Welt der englischen pornographischen Literatur im 18. Jahrhundert“. Danach vergleicht Norbert Bachleitner „Die Zensursysteme in Frankreich und Österreich...“. Länderübergreifend war die Verbreitung von „livres philosophiques“ in der Spätaufklärung. Dieser „gehobene Ausdruck“ für pornographische Bestseller wurde von den Buchhändlern als Camouflage bevorzugt. Jeffrey Freedman versucht in „Bücher ohne Grenzen“ eine transnationale Perspektive auf ihre Verbreitung aufzuzeigen. Mit „Der Handel mit erotisch-pornographischen Drucken in der Provinz“ stellt Johannes Frimmel den Schweinfurter Buchhändler Jacob Samuel Riedel vor, der mit Lyndamine, einer Bordellerzählung á la Fanny Hill Geschäfte machte. Christine Haug befasst sich mit dem florierenden Geschäft des Berliner Verlegers Christian Friedrich Himburg („‚Wer obige Schriften zusammen kauft, erhält solche sehr billig‘ [...] Der Berliner Verleger Christian Friedrich Himburg und sein florierendes Geschäft mit erotisch-frivolen Lesestoffen im 18. Jahrhundert“). Dass Pornographie auch etwas mit Transzendenz einer besonderen Art zu tun hat, ist von Vincent Kaufmann zu erfahren („Pornographie als Transzendenz. Theoretische Bruchstücke zu den Bezügen zwischen Pornographie, Perversion, Kapitalismus und Medien“).

Im zweiten Teil analysiert Helga Meise („Amor, Cythere, Poissonerien: Paratexte deutschsprachiger erotisch-pornographischer Lesestoffe 1690–1875“) solche Texte. Sie zählt dazu provokante Reiz- und Signalwörter sowie Andeutungen in erotischen Illustrationen. Ihr Material sind Titelkupfer, Titelblätter und Vorreden in galanten Romanen und erotisch-pornographischen Texten. Die Spannbreite reicht von „Poisonnerien“ („Ungezogenheiten“) bis zu mehr als eindeutigen Illustrationen. Was durch sich verändernde politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen allmählich möglich wurde, weist Wolf D. von Lucius (Erotische Buchillustration 1750–1850) nach. Seine reich bebilderten Ausführungen beendet er mit dem Resümee, dass in diesem Zeitraum alte Konventionen weitgehend hinweggefegt wurden und selbst in den der Französischen Revolution folgenden Restaurationszeiten die Produktion pornographischer Illustrationen deutlich anwuchs sowie an Drastik zunahm. An weiteren Beiträgen in Teil 2 seien noch zwei herausgegriffen, da ihre Protagonisten zur Prominenz ihrer Zeit zählten. Ursula Caflisch-Schnetzler („L’Affaire avec Lavater – Lavater und die Frauen“) zeigt die Probleme auf, die sich bei der Ausdeutung der schriftlich festgehaltenen Zeugnisse des berühmten Zürcher Pfarrers und Schriftstellers Johann Caspar Lavater (1741–1801) im Umgang mit seiner weiblichen Bekanntschaft ergeben. Dürfen sie auch erotisch interpretiert werden? Anders liegt der Fall des Historikers Johannes von Müller (1757–1807). Wolfgang Burgdorf („Der Historiker Johannes von Müller im Liebesrausch. Männer, die Männer begehren, um 1800“) geht der sogenannten „Hartenberg-Affäre“ nach, eine der aufsehenerregendsten Skandalgeschichten der Goethe-Zeit. Der in sie verwickelte Gelehrte und Kustos der Wiener Hofbibliothek strebte mit seinen Selbstzeugnissen an, dass (seine) Homosexualität als Lebensform akzeptiert und nicht kriminalisiert oder pathologisiert wird.

Die Rezeption und das Nachwirken „unzüchtiger Bücher“ wird im dritten Teil anhand vier sehr unterschiedlicher Beispiele aus der Literatur untersucht. Am Anfang steht Leonhard Herrmann („Wilhelm Heinses (1746–1803) ‚Ardinghello und die glücklichen Inseln‘: Zur Konzeption und Rezeption erotischer Motive im 18. und 19. Jahrhundert“). Dieser Roman ist wie sein Autor nahezu vergessen, nach der Meinung des Rezensenten zu unrecht. Das 1787 bei seinem Erscheinen vielgelesene Buch stieß auf Ablehnung weniger wegen seiner erotisch konnotierten Passagen, sondern wegen des „erotisierenden Klamauks“, wie Schiller es ausdrückte. Sven Hanuscheks Ausführungen („Vierte Idylle: Die Brautnacht. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Vossens Luise, 1795“) behandeln eine pornographisch-literarische Fälschung des Wiener Sammlers Felix Batsy (1877–1952). Seine angeblich späte Entdeckung dieser Idylle aus der Feder des Hainbündlers Johann Heinrich Voß (1751–1826) wurde erst in einem Katalogbeitrag anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Wienbibliothek im Rathaus als Falsifikat entlarvt.[8] Abschließend sei noch kurz auf zwei literarische Beispiele aus den Jahren 1847 und 1906 hingewiesen, beide Memoiren, die vorgeben aus dem Prostitutionsmilieu zu stammen: Urszula Bonter (Ein Hamburger Kuriosum aus dem Jahr 1847: Memoiren einer Prostituierten oder die Prostitution in Hamburg), ein Buch das nach 1905 als Mystifikation eine zweite Karriere erlebte; ferner der Roman Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wiener Dirne von ihr selbst erzählt, dessen Autorschaft noch immer nicht eindeutig geklärt ist. Hans-Edwin Friedrich deutet ihn unter dem Aspekt „Naturalistische Kraft, Sozialkritik, sexueller Missbrauch“. Die „Mutzenbacher“ ist nicht nur das „erfolgreichste pornographische Buch der deutschen Literatur“, sondern auch das mit dem vermutlich breitesten publizistischen und wissenschaftlichen Echo, wie Friedrich hervorhebt.

Die Herausgeber verbinden mit dem vorliegenden Band die Hoffnung, dass die hier veröffentlichten Arbeiten neue Forschungsperspektiven eröffnen. Jedenfalls bieten sie ein breites Spektrum, das weitere Fragen aufwirft und zu weiterer Forschungstätigkeit ermutigen sollte.

Online erschienen: 2019-12-03
Erschienen im Druck: 2019-11-30

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Inhaltsfahne
  4. Nachruf
  5. Wir trauern um Dr. Konrad Marwinski
  6. Wettbewerb Zukunftsgestalter in Bibliotheken 2019 Preisträger
  7. Make IT – In der Stadtbibliothek Greven
  8. Data EDUcation an der UDE – Eine OER für Bibliotheken
  9. Wettbewerb Zukunftsgestalter in Bibliotheken 2019 Weitere herausragende Projekte
  10. Sie sind meine Heldin des Tages – Anfragen aus dem Suchsystem heraus in der SuUB Bremen
  11. Generation Y – Y We Are Not the Ones You Think We Are!
  12. All you can read – Ein ambitioniertes Leseprojekt
  13. Bewegung am Lernort: Ein stromerzeugendes Fahrradergometer in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin
  14. Weitere Beiträge
  15. Digitales Datenmanagement als neue Aufgabe für wissenschaftliche Bibliotheken
  16. Wohin mit der digitalen Edition?
  17. Qatar Digital Library: A New Phase of Digital Archives
  18. Erkennung von handschriftlichen Unterstreichungen in Alten Drucken
  19. Unsere Bibliothek unter zwei Dächern
  20. Die Bibliothek des Landesmuseums für Kärnten – Kärntner Landesbibliothek
  21. Rezensionen
  22. Georg Günther: Friedrich Schillers musikalische Wirkungsgeschichte. Teil 1–2. Festeinband. Illustrationen, Noten (Musik in Baden-Württemberg. Quellen und Studien; 40). Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018. ISBN 978-3-476-04619-2 (eBook 978-3-476-04620-8), € 129,99. T. 1: Einleitung und Register. 374 S., T. 2: Verzeichnis der musikalischen Werke. 696 S.
  23. Johannes Frimmel, Christine Haug und Helga Meise (Hrsg.): „in Wollust betäubt“ – Unzüchtige Bücher im deutschsprachigen Raum im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2018 (Buchwissenschaftliche Beiträge; Bd. 97). VI, 325 S., Abb., fest geb. ISSN 0724-7001, ISBN 978-447-11018-1. € 74,-
  24. Jahresinhaltsverzeichnis 2019
Heruntergeladen am 5.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2019-2071/html?lang=de
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