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Papierlose Wissenschaft: Bibliotheken und der Wandel der Informationsgesellschaft

  • Elke Greifeneder EMAIL logo
Published/Copyright: June 17, 2015

Wer Michael Seadle kennt, hat ihn sicherlich schon einmal von „totem Baummaterial“ oder „verwesten Werken“ sprechen hören; doch wer nun an eine Festschrift für einen Biologen denkt, liegt falsch. Michael Seadle, geboren 1950 in Detroit, ist ein amerikanischer Bibliotheks- und Informationswissenschaftler und der amtierende Direktor des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2010 ist er zudem Dekan der Philosophischen Fakultät I. Sein wissenschaftliches Interesse galt zunächst dem Studium der Geschichte: 1972 erhielt er seinen Bachelorabschluss am Earlham College, es folgten Master (1973) und Promotion (1977) an der renommierten University of Chicago. Nebenbei bildete er sich in anderen Bereichen autodidaktisch fort und eignete sich früh umfangreiche EDV-Kenntnisse an. Schon bald nach dem Studium arbeitete er als Programmierer für die Washington National Insurance, als Datenbankmanager für die American Dental Association, als Assistant Director of Library Technologies und als stellvertretender Direktor der Abteilung für Bibliothekstechnik an den Michigan State University Libraries. Mitten im Arbeitsleben stehend beschloss Michael Seadle, seine Ausbildung formell mit einem Master of Information Science an der University of Michigan zu krönen, welchen er 1997 als Gewinner des Margaret Mann Award abschloss.

Seadles „verweste Werke“, zu denen er geforscht und publiziert hat, sind eigentlich verwaiste Werke – eine der wenigen Wortverwechslungen im Deutschen, die Seadle zur Erheiterung der Studierenden wiederholt passierten, nachdem er 2006 die Berufung auf die Professur für Digitale Bibliotheken am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft annahm. Sein Vater, ein Deutscher jüdischer Abstammung, emigrierte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in die USA und passte seinen deutschen Namen Siedel der englischen Schreibweise an. Als Sohn eines deutschen Vaters beherrscht Michael Seadle daher die deutsche Sprache wie nur wenige ausländische Informa-tionswissenschaftler, so dass er nicht nur den direkten Draht zur amerikanischen Forschungslandschaft mit nach Berlin brachte, sondern auch die Befähigung, von Anfang an mit Studierenden, Kollegen und der Verwaltung auf Deutsch zu kommunizieren. Nicht ohne Grund war Michael Seadle Mitglied der Arbeitsgruppe, welche die erfolgreiche Kandidatur der Humboldt-Universität zur deutschen Exzellenzuniversität ausarbeitete.

Nach Berlin haben ihn die deutsche Literatur und ein Glas deutsches Bier geführt, genauer gesagt Peter Schirmbacher, der sich mit ebendieser Ausstattung in der Hotelbar der International Conference on Digital Libraries in Neu-Delhi befand. Seadle, ebenfalls Teilnehmer der Konferenz, wunderte sich, jemanden mit einem deutschen Buch in Indien zu treffen, und begann mit Schirmbacher ein Gespräch: über deutsche Literatur, Informationswissenschaft, deutsche Bibliotheken und vor allem über digitale Bibliotheken. Sie waren Seadles Steckenpferd, hatte er doch mehrere Projekte dazu geleitet, wie zum Beispiel die Digital Orchid Library, Shaping the Values of Youth oder Making of Modern Michigan. Schirmbacher, damals Leiter des Computer- und Medienservices der Humboldt-Universität, inzwischen auch Professor für Informationsmanagement am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, erzählte Seadle vom Institut und von einer möglichen Ausschreibung einer Professur. Seadle, der gerne in die Geburtsstadt seines Vaters zurückkehren wollte und der neue Herausforderungen liebt, bewarb sich auf die später ausgeschriebene Stelle – und bekam die Professur für Digitale Bibliotheken 2006.

Für das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft war seine Berufung ein Glücksgriff. Nachdem das Institut 2003 auf der Kürzungsliste der Universität stand, wurde eine Weiterführung des Studiengangs an die Bedingung geknüpft, eine international besetzte Expertengruppe einzuberufen, die schließlich eine Neuausrichtung des Instituts nach dem Vorbild der amerikanischen iSchools empfahl. Die iSchools sind besonders forschungsstarke informationswissenschaftliche Ausbildungseinrichtungen, die in einem internationalen Verbund vernetzt sind. Neue Mitglieder werden nur durch Mehrheitsbeschluss der bestehenden Mitglieder aufgenommen. Seadle setzte die Neuausrichtung sehr erfolgreich um: 2009 rückte das Institut als erste Information Science School in Europa in den Kreis der iSchools auf, 2014 fand die internationale iConference in Berlin und damit erstmals außerhalb von Nordamerika statt. Seit 2014 ist Seadle zudem Sprecher des Verbunds. Er brachte somit nicht nur das Modell der iSchools nebst modernen Methoden und Themen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft nach Berlin, sondern rückte auch Berlin und generell Deutschland als Standort für Informationswissenschaft in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit.

Und er verbannte „tote Baumobjekte“. Nur neue Mitarbeiter machten den Fehler, ihm einen Notizzettel auf den Tisch zu legen, anstatt die Information elektronisch zu übermitteln. Denn auch nach zwei Wochen gab es in der Regel noch keine Antwort, und auf die Rückfrage, was denn aus der Papiernotiz geworden sei, kam immer nur eine Antwort: „What shall I do with dead tree objects?“ Seadles Abneigung gegen Papier veränderte nicht nur die Verwaltung am Institut, sondern auch das Denken über die Zukunft der Informationsaufbereitung und Verfügbarmachung von Information. Als es in Deutschland noch kaum E-Book-Reader gab, geschweige denn Bibliotheken E-Books angeboten hätten, ermunterte Seadle Studierende und Fachkollegen dazu, sich mit der papierlosen Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bedingt durch seine Weigerung, mit Papier zu arbeiten, mussten Studierende ihre Hausarbeiten für das Lesen auf E-Book-Geräten optimieren, Artikel wurden kooperativ auf Online-Plattformen wie dem damaligen GoogleDocs geschrieben und Seadles eigene Forschung wurde so weit wie möglich elektronisch mit open access publiziert.

Michael Seadles Wirken steht auch in einer anderen Hinsicht für stetigen Wandel: seine Flexibilität, sich erfolgreich in verschiedenste Bereiche einzuarbeiten, zeigt sich auch in seiner nunmehr fast 20-jährigen Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift Library Hi Tech. Von Beginn an konzipierte er Themenhefte, die aufzeigten, wie technischer Wandel in Bibliotheken und anderen Informationseinrichtungen funktionieren kann – meist deutlich bevor das jeweilige Thema zum Mainstream wurde. So publizierte er 2001 ein Sonderheft zu E-Books und 2009 eines zu virtuellen Forschungsumgebungen, also zu einer Zeit, als in den meisten Ländern die große Förderwelle zu diesen Plattformen erst begann.

Der Wandel in der Bibliothekslandschaft, Wandel in Lernumgebungen, Wandel in der Interaktion zwischen Bibliothekar und Nutzer, Wandel von Publikationsmedien – das Thema Wandel zieht sich durch alle Beiträge dieser Festschrift. Er ist kennzeichnend für Michael Seadles Arbeit, die begründet, warum Wechsel nötig sind, aber auch aufzeigt, wie der Wandel gemeistert werden kann. Die Autoren dieser Festschrift sind Wegbegleiter Seadles; viele von ihnen wurden geprägt durch seinen Mut, Neues auszuprobieren, neue Wege zu gehen. Die Liste der Autoren zeigt auch, dass Seadle nicht nur Bibliothekar, nicht nur Forscher, nicht nur Diplomat ist: Er ist, wie Joan Luft es treffend in ihrem Beitrag bezeichnet,[1] wie ein Fuchs „in ‘knowing many things’ and being able to understand a variety of different limited viewpoints and to communicate among them“.

Unter den Autoren dieser Festschrift sind aktuelle Kollegen des Instituts, Fachkollegen anderer Institutionen in Deutschland und weltweit sowie ehemalige Kollegen und Freunde Michael Seadles. Konrad Umlauf und Peter Schirmbacher haben die Professuren für öffentliche Bibliotheken und für Informationsmanagement am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft inne, Reinhard Altenhöner leitet die IT-Abteilung der Deutschen Nationalbibliothek. Gemeinsam mit Michael Seadle haben sie sowohl Drittmittelprojekte wie LuKII durchgeführt als auch mehrere Bücher herausgegeben, wie zum Beispiel das Handbuch Methoden der Bibliotheks- und Informationswissenschaft[1]. Aus der Perspektive der Verlagswelt stammen die Beiträge von Alice Keller zur Publikationskompetenz und von Sven Fund zum Thema Open Access. Der Prozess des wissenschaftlichen Reviewing wird von Steven Sowards beleuchtet, der seit vielen Jahren für Library Hi Tech als Reviewer arbeitet. Auch frühere Weggefährten wie Karen Markey, Professorin für Informationswissenschaft an der University of Michigan, und Leah Emery, heute Bibliothekarin in York, haben Artikel beigetragen; ebenso zwei internationale Forscher, denen das Thema digitale Langzeitarchivierung genauso am Herzen liegt wie Michael Seadle: Joyce Ray, Programmkoordinatorin und Dozentin an der John Hopkins University, und David Rosenthal, leitender Wissenschaftler des LOCKSS-Projektes. Der abschließende Beitrag der Festschrift stammt von Joan Luft, Professorin für Wirtschaftswissenschaften, und zugleich Seadles Ehefrau.

Gemeinsam möchten wir mit dieser Festschrift Michael Seadle zu seinem 65. Geburtstag gratulieren und ihn bei seinem Anliegen unterstützen, den vielfältigen Wandel in den Forschungsgebieten der Informations- und Bibliothekswissenschaft voranzutreiben. Mögen die Beiträge dazu motivieren, selbst neue Wege zu beschreiten! Die Herausgeber dieser Festschrift, Elke Greifeneder, Petra Hauke, Konrad Umlauf und Vivien Petras, wünschen den Lesern eine spannende Lektüre.

Online erschienen: 2015-6-17
Erschienen im Druck: 2015-6-22

© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 16.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2015-0014/html
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