Abstract
The article presents a close reading of a poem which was written by the local Jewish writer Esther Gad for the occasion of the Jewish Wilhelm School’s inauguration in Breslau on March 15, 1791. On this basis, it offers a feminist perspective on the Jewish Enlightenment: Esther Gad was the first Jewish woman who emerged as a writer in the German language, but the Haskalah did not provide her with suitable conditions for her emancipation as a female Jewish author, as it was restricted to learned men proficient in Hebrew.
Esther Gads Einweihungsgedicht zur Eröffnung der Wilhelmsschule in Breslau am 15. März 1791 verdient in mehr als einer Hinsicht Beachtung. Esther Gad ist nicht nur die einzige Frau, die bei dieser feierlichen Eröffnung überhaupt eine Rolle spielte. Vielmehr ist dieses Einweihungsgedicht, das dann in mindestens zwei Fassungen zum Druck gelangte,[1] einer der ersten unter eigenem Namen publizierten Texte einer jüdischen Autorin in der europäischen Aufklärung.[2] Das ist in feministischer Perspektive für die jüdische Geschichte insgesamt bedeutsam und wurde von der Haskala-Forschung bisher, wie die Rolle von Frauen im Allgemeinen, kaum beachtet. Das liegt daran, dass der Blick sich bis heute auf schreibende Männer fokussiert und schreibende jüdische Frauen, zumal solche, die sich wie Gad später taufen ließen, kaum in den Blick nimmt.[3]
1772 hatte Isachar Falkensohn Behr seine Gedichte von einem polnischen Juden im Druck erscheinen lassen. Das Büchlein gilt in der Literaturwissenschaft als der Beginn der belletristischen deutsch-jüdischen Literatur, denn erstmals publizierte hier ein Jude Gedichte in deutscher Sprache.[4] Diese Datierung auf das Jahr 1772 stimmt aber nur für die deutsch-jüdische Literatur von Männern. Die deutsch-jüdische Literatur von Frauen beginnt mit Esther Gad aus Breslau.
Die noch unverheiratete Esther Gad publizierte 1790 im Alter von nur 23 Jahren in einer vom katholischen Breslauer Arzt und Aufklärer Johann Joseph Kausch (1751–1825) herausgegebenen Anthologie mit dem Titel Freimüthige Unterhaltungen über die neuesten Vorfälle unseres Zeitalters vier kurze Gedichte unter ihrem eigenen Namen. Alle vier Gedichte – An meinen Spiegel, Guter Rath an die Mädchen, An meine H. in B. und Auf das Bildnis einer Schwätzerin – waren mit ihrem Namen, ›Esther Gad‹ unterzeichnet.[5] Mit nur 23 Jahren also sieht Esther Gad ihren Namen unter ihren eigenen Gedichten gedruckt. Ab diesem Zeitpunkt ist sie öffentlich bekannte Autorin und die erste Jüdin, die in deutscher Sprache Gedichte veröffentlicht.
Wie es zu dieser Publikation bei Kausch kam, ist nicht bekannt. Es sind keine Briefe oder anderen Dokumente Gads aus der Zeit vor 1790 überliefert. Bekannt ist nur, dass sie die 1767 in Breslau geborene Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Raphael ben Gad aus Glogau und über ihre Mutter Nissel eine Enkelin des Altonaer Talmudisten und Kabbalisten Jonathan Eybeschütz war. 1786 übergab sie bei einem Besuch des Königs Friedrich Wilhelm II. in Breslau diesem im Namen der jüdischen Gemeinde ein hebräisches Huldigungsgedicht des Dichters und Maskils Naphtali Herz Wessely (1725–1805).[6] Das bedeutet, dass Esther Gad schon als junge Frau sowohl bei den jüdischen Honoratioren als auch bei aufgeklärten christlichen Zeitgenossen in Breslau wie Kausch, Johann Gottlieb Schummel (1748–1813) oder Friedrich Albert Zimmermann (1745–1815)[7] bekannt gewesen ist und als junge unverheiratete Frau eine repräsentative Aufgabe für die jüdische Gemeinschaft übernommen hat.[8]
Im selben von Kausch herausgegebenen Band, in dem ihre vier Gedichte erschienen, hat Esther Gad sich überdies auch selbst ausdrücklich als Jüdin bekannt. In ihrer Übersetzung der englischen Erzählung Markus und Monimia merkte sie in einer Fußnote an: »ich bin eine Jüdin, und ich muß, selbst in preußischen Staaten, Gott danken, daß man mich tolerirt«.[9] Hier schreibt Gad nicht nur durch ihren ›jüdischen‹ Vor- und Nachnamen erkennbar als Jüdin, sondern sie bekennt sich ausdrücklich als solche. »Ich bin eine Jüdin« als gedrucktes Selbstbekenntnis impliziert: Ich bin eine schreibende, intellektuell tätige, kenntnisreiche, sprachlich gebildete, durchsetzungsfähige jüdische Frau, deren Texte, neben denen der vielen Männer in diesem Buch Bestand haben.[10] Ich schreibe unter meinem Namen, obwohl ich, als Jüdin, selbst in preußischen Staaten nur toleriert, d. h. geduldet werde, und den Nicht-Juden, allemal den christlichen Männern, nicht gleichgestellt bin. Das Selbstbekenntnis wird hier, wenngleich in einer Fußnote, verbunden mit einer impliziten politischen Kritik an der Nicht-Gleichberechtigung der Jüdin als Bürgerin. Die in Preußen noch ausstehende bürgerliche Verbesserung und rechtliche Gleichstellung der Juden, das wurde von den Zeitgenossen, aber auch von der Forschung oft vergessen, bedeutete auch eine fehlende bürgerliche Gleichstellung der Jüdinnen, deren Rechtsstellung abhängig von dem minderen Status ihres jüdischen Ehemanns, Vaters oder Bruders war. Sie wurden vom Gesetz als Jüdinnen und als Frauen diskriminiert.
1791 im Einweihungsgedicht für die Wilhelmsschule, also kaum ein Jahr später, exponiert sich Esther Gad erneut öffentlich als Jüdin: Durch das Schreiben, das Publizieren und den öffentlichen Vortrag dieses Gedichts präsentiert sie sich als aktive, selbständige, literarisch produktive, gebildete und aufgeklärte Jüdin in der Öffentlichkeit Breslaus; und sie bezeugt zugleich ihre Zustimmung zu den Zielen der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung. Aufgeklärte Jüdinnen und Salonièren gab es 1791 auch anderswo; in Berlin, in Hamburg, in Paris, Amsterdam und Wien. Anders als Gad brachten sie aber noch nicht die Anstrengung, die Beharrlichkeit und den Mut auf, eigene Gedichte zu veröffentlichen.
Im Einweihungsgedicht für die Wilhelmsschule engagiert Gad sich ausdrücklich, wie die neben ihr ausschließlich männlichen Vertreter der Haskala bei der Einweihung, für die Bildung, Gleichberechtigung, die bürgerliche Verbesserung und Aufklärung potenziell aller Juden. Wegen dieses Engagements und dieser Übereinstimmung mit den Zielen der Haskala können wir Esther Gad als Maskila, als jüdische Aufklärerin unter lauter männlichen Maskilim in Breslau betrachten.[11] Auch darin ist sie eine Ausnahme, denn es gab nicht viele jüdische Frauen, die sich öffentlich zu den Zielen der Maskilim und der jüdischen Aufklärungsbewegung bekannten.
Ich bestehe auf dieser Zuordnung zur Haskala in Breslau in einer feministischen Perspektive, da Esther Gad in späteren Jahren in Breslau, Dresden, Berlin und London auch als Salonière auftrat. Wie ihre Jugendfreundin Rahel Levin Varnhagen (1771–1833) verehrte sie Goethe, vor allem jedoch Jean Paul,[12] und pflegte enge briefliche und persönliche Kontakte zu anderen Salonièren wie Henriette Herz, Elisa von der Recke und den Schwestern Sara und Marianne Meyer, mit denen Joel Löwe einst aufgewachsen war. Jüdische Salons und Salonièren, so problematisch diese Begriffe als pars pro toto jüdisch-christlicher, sozial und religiös freier, weiblich geprägter mündlicher Kommunikation in kulturell offenen jüdischen Haushalten um 1800 inzwischen sind,[13] wurden von der Forschung häufig der deutschen Romantik zugeschlagen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Hannah Arendts wegweisende Studie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (1959).
Dabei wurde jedoch in der ›Salon‹-Forschung oft vergessen, dass alle namhaften jüdischen Salonièren Berlins und Breslaus die Töchter, Ehefrauen oder Schwestern aufgeklärter Juden waren, dass sie durchweg eine aufgeklärte Bildung und Erziehung durch Hauslehrer genossen hatten und dass in den Salons zumindest bis 1800 oder 1806 die aufgeklärten jüdischen Väter, Ehemänner und Brüder, von denen sich viele für die Haskala-Bewegung engagierten, immer präsent waren.[14] Aus der Perspektive der Haskala-Forschung könnten wir etliche der jüdischen Salonièren von Berlin und Breslau, zu denen Esther Gad gehörte, sogar als Töchter der Haskala oder als, hebräisch, Maskilot bezeichnen, auch wenn sie als Persönlichkeiten und in ihren Aktivitäten die Milieus und Veranstaltungen der Haskala spätestens ab 1806 hinter sich gelassen haben.[15]
Esther Gad hat sich 1801 taufen lassen und ist nach England übergesiedelt, wo sie 1802 in zweiter Ehe den christlichen Arzt Wilhelm Domeier (1763–1815) heiratete. Sie hat später unter ihrem neuen christianisierten Autorinnen-Namen Lucie Domeier ihre literarische Tätigkeit als erfolgreiche Reiseschriftstellerin, Übersetzerin und namhafte Kritikerin der Madame de Staël fortgesetzt.[16] Ihre Taufe war, wie bei vielen anderen jüdischen Frauen in jenen Jahren, keine religiöse, sondern eine soziale Entscheidung: Durch die Taufe konnte eine Jüdin, trotz und wegen der ausgebliebenen bürgerlichen Gleichberechtigung in den deutschen Ländern, ihren minderen Status und ihre rechtliche, politische und soziale Diskriminierung überwinden und eine Liebesheirat und bürgerliche Familiengründung mit einem Nichtjuden vollziehen. Esther Gad hat sich durch Taufe und Heirat auch aus der finanziellen und juristischen Abhängigkeit von ihrem Bruder Isaac Gad gelöst, in die sie nach der Scheidung von ihrem ersten Ehemann Samuel Bernard 1796 und damit der Rückkehr in ihre Herkunftsfamilie geraten war. Sie hat ihren Bruder sehr geliebt und er sie, aber sie musste als geschiedene Jüdin für jede Reise, jeden Wohnungswechsel, jede größere Haushaltsausgabe, die Einstellung eines Dienstmädchens oder die Arztkosten für ihre zwei Kinder aus der Ehe mit Bernard die Bewilligung ihres Bruders einholen.[17] Durch Taufe und Heirat entging sie der doppelten Diskriminierung als bürgerlich nicht gleichberechtigte Jüdin und der inferioren Rechtsstellung einer geschiedenen Jüdin innerhalb des rabbinischen und des allgemeinen Familienrechts.
Aber das betrifft ihren späteren Lebensweg, nach 1800. Im Jahr 1791, bei der Eröffnung der Wilhelmsschule, das ist hier zu zeigen, war Esther Gad ganz und gar Jüdin und Maskila: mit ihrem gedichteten Bekenntnis zu den Menschenrechten, zur bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden, zu Wissenschaft und Schulbildung für jüdische Knaben und Männer.
Das Einweihungsgedicht von 1791
Auf einem vierseitigen Einzeldruck, von dem sich ein Exemplar in der Breslauer Universitätsbibliothek findet, trägt das Einweihungsgedicht Esther Gads folgenden Titel: Zuruf, an meine Breslauer Glaubensgenossen bey der Einweihung der Wilhelm-Schule, den 15ten März 1791.[18] Gedruckt wurde es wohl für den Tag der Einweihung, das lassen der Aufwand und die Gestaltung des Drucks vermuten. Die Verfasserangabe »Esther Bernard, geb. Gad« verweist auf ihre aktuelle Situation: Esther Gad hatte im Februar 1791, gut einen Monat vor der Eröffnungsfeier in Breslau, den Kaufmann Samuel Bernard aus Frankfurt an der Oder geheiratet (von dem sie 1796 wieder geschieden wurde), und sie publiziert hier erstmals unter dem Familiennamen ihres Ehemanns, bringt jedoch, was unter Autorinnen des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich ist, ihren Mädchennamen, unter dem sie als Autorin schon bekannt ist, durch den Zusatz »geb. Gad« in Erinnerung. »Unter fremdem Namen«, nämlich meist dem des Ehemanns, zu publizieren, daran hat Barbara Hahn erinnert,[19] ist das Schicksal der meisten Schriftstellerinnen der Epoche, seien sie Jüdinnen oder Christinnen. Der fremde Name des Ehemanns tilgte den Mädchennamen seiner Frau. Die Angabe »Esther Bernard geb. Gad« bewahrt hingegen den Mädchennamen vor dem Verschwinden und erinnert selbstbewusst daran, dass hier die in Breslau schon eingeführte und bekannte Autorin Esther Gad schreibt.[20]
Ein Gedicht anlässlich der Einweihung einer Schule oder Universität aus der Feder einer Frau war im 18. Jahrhundert sehr ungewöhnlich. Von den berühmtesten deutschen Dichterinnen der Epoche, der »Neuberin« (Friederike Caroline Neuber, 1697–1760) und der »Karschin« (Anna Louisa Karsch, 1722–1791) gab es allerlei Gelegenheitsgedichte zu Taufen, Hochzeiten, Jubiläen oder Siegen von Landesfürsten oder Königen und deren Gemahlinnen und Kindern, aber nichts zu Universitäten oder Schulen. Möglicherweise handelte es sich bei Gads Einweihungsgedicht um eine Auftragsarbeit. Aber man weiß nicht, wer das Gedicht in Auftrag gegeben hat (die jüdische Gemeinde? das Schulkollegium?) und warum mit Esther Gad ausgerechnet eine Frau beauftragt wurde, obwohl die Wilhelmsschule keine Mädchenschule war. Erst recht unklar ist, ob mit einem solchen Auftrag inhaltliche Vorgaben für das Gedicht gemacht wurden. Tatsache ist jedoch, dass Esther Gad dieses Einweihungsgedicht, so wie es vorliegt, selbst geschrieben und unter ihrem Namen hat drucken lassen. Es wurde als Esther Gads Zuruf, an meine Breslauer Glaubensgenossen, bey der Einweihung der Wilhelm-Schule, den 15ten März 1791 zum Abschluss der Einweihungsfeier von einem Schüler der Schule vorgetragen,[21] als Zuruf einer Jüdin an ihre jüdischen Glaubensgenossen, und zusammen mit den Einweihungsreden der Männer vom 15. März 1791 in der Einweihungs-Festschrift gedruckt.
Gleich in der ersten Strophe des Einweihungsgedichts spricht Esther Gad die Zuhörer direkt an:
Erfüllt die Luft mit Lobgesang
daß nichts als Freud ertöne
Denn heut erhebt man Euch zum Rang –
der andern Erdensöhne!
Die erste Strophe charakterisiert die Eröffnung der Wilhelmsschule als Erhebung der Juden zur Gleichrangigkeit mit allen anderen Erdensöhnen. Die Eröffnung manifestiert die Gleichheit und intellektuelle wie soziale Gleichrangigkeit aller Menschen: von Juden, Christen und anderen Erdensöhnen, d. h. jedenfalls von allen Männern.
Es sprach, gerührt von Eurem Joch,
ein Christ von edlem Herzen:
»Wie lang, Ihr Großen! wird man noch
mit Menschen-Rechten scherzen?«
Die zweite Strophe erwähnt nicht nur das Joch der Diskriminierung und Rechtlosigkeit von Juden in Europa, sie beruft sich auch auf die allgemeinen Menschenrechte. Nicht einmal zwei Jahre nach der Französischen Revolution von 1789 schreibt Esther Gad diese Verse, wohl wissend, dass die französische Nationalversammlung schon im August 1789 eine Declaration des Droits de l’Homme et du Citoyen verabschiedet hatte. Juden haben, wie alle Menschen, angeborene und unveräußerliche Menschenrechte, hatte Moses Mendelssohn schon 1783 in Jerusalem argumentiert.[22] Esther Gad legt einem »Christ von edlem Herzen« die rhetorische (und selbstverständlich zu verneinende) Frage in den Mund, ob man mit den Menschenrechten der Juden Scherz treiben solle. Und sie lässt den edlen Christen weiter fragen:
»Ist diese Nation von Gott
gezeichnet? hat sie Mängel
an Seel’ und Körper, die nur Spott
verdienen? Sind wir Engel?«
Hat die jüdische Nation von Gott bewirkte Mängel an Seele und Körper, die Gleichheit und Menschenrechte für Juden unmöglich machen? Sind die Nichtjuden Engel, dass sie sich über die Juden als Menschen mit Recht erheben können? Wieder drei rhetorische Fragen, die Esther Gad unbeantwortet lässt. Aber die unausgesprochene Antwort ist evident: Gott hat Juden und Nichtjuden nicht ungleich geschaffen, eine Ungleichbehandlung der Juden ist unberechtigt. Dann fährt das Gedicht fort:
O, wer erkennt nicht Zimmermann
in dieser kleinen Skizze!
Auch hörte Hoym ihn huldreich an
auf seinem Göttersitze.[23]
»Wohlan ich stimme freudig ein!«
sprach er, mit Engels Mienen
»Man weihe sie zu Bürgern ein,
dem Staate treu zu dienen;
Man lehre sie, was Wissenschaft
für Freud und Trost gewähret;
Es werde ihrer Seele Kraft
geübet und vermehret!«
Nun wird mit dem dirigierenden preußischen Minister für Schlesien Karl Georg Graf von Hoym (1739–1807) der Wohltäter der Schule im Gedicht namentlich eingeführt und Friedrich Albert Zimmermann, der als preußischer Beamter unter Hoym für die Belange der Breslauer Juden zuständig und Mitglied des Schulkollegiums war, als der »Christ von edlem Herzen« identifiziert, der Hoym inspiriert habe. Drei Zwecke der Schulgründung für die Juden in Breslau werden Hoym daraufhin in den Mund gelegt:
»Man weihe sie zu Bürgern ein,/dem Staate treu zu dienen«;
»Man lehre sie, was Wissenschaft/für Freud und Trost gewähret«;
»Es werde ihrer Seele Kraft/geübet und vermehret!«
Der erste Zweck der Schulgründung ist demnach, die Juden zu Staatsbürgern zu machen, die dem Staat loyal dienen. Die Schule bringt die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden auf den Weg, die Christian Wilhelm Dohm schon 1781 in seinem berühmten Buch Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden gefordert hatte. Die weibliche Stimme der Autorin in dieser Eröffnungszeremonie fordert Rechte für die jüdischen Männer von der preußischen Obrigkeit, indem sie die Gewährung dieser Rechte dem obersten Repräsentanten der Obrigkeit – Hoym – in den Mund legt.
Der zweite Zweck der Schulgründung ist, junge jüdische Männer Wissenschaft zu lehren. Esther Gad schreibt wohlgemerkt nicht: Deutsch, Lesen, Schreiben, Mathematik, Geographie, Geschichte, Moral oder Religion; also jene Fächer, die Wessely 1782 in seiner Erziehungsschrift Worte des Friedens und der Wahrheit für den Unterricht jüdischer Knaben vorgesehen hatte.[24] Sie schreibt »Wissenschaft«. Diese Schule soll Juden nicht lediglich zu nützlichen Geschäftsleuten und Steuerzahlern machen, sie soll sie auch zur Wissenschaft befähigen, ihnen eventuell nach Besuch einer höheren Schule gar den Weg zur Universität als Ort der Wissenschaft eröffnen. Das verrät die Fächereinteilung, die dann in der Wilhelmsschule praktiziert wurde, zunächst nicht. Denn diese liegt viel näher an Wesselys Schulprogramm.[25] Aber Esther Gad sieht, wie übrigens Wessely auch, die Wissenschaften als Grundlage des Schulunterrichts und den Schulunterricht als Heranführung an die Wissenschaft, die den Schülern Freude und Trost gewähren werde.
Der dritte Zweck der Schulgründung ist, der Seele Kraft zu üben und zu mehren. Wenn wir das alte platonische Verständnis der Seele voraussetzen, das durch Mendelssohns Phaedon (1767) allen gebildeten Zeitgenossen präsent war und die unsterbliche Seele als Sitz nicht nur der Gefühle, sondern auch des Intellekts, der Moralität und der Kreativität versteht, wird Hoym hier die Absicht unterstellt, durch die Wilhelmsschule in der Seele die Vernunft und die Emotionen von Juden durch Bildung zu üben und zu mehren. Demnach wären Bildung und Aufklärung die Aufgaben der Wilhelmsschule.
Die Stichworte und Ideen, die Esther Gad in ihrem Einweihungsgedicht aufruft und mit der Gründung der Wilhelmsschule in Verbindung bringt, entsprechen dem politischen und pädagogischen Leitbild der Haskala: Anerkennung der intellektuellen wie sozialen Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der Juden mit allen anderen »Erdensöhnen«, Menschenrechte, Staatsbürgerrechte in Preußen, Befähigung von Juden zur Wissenschaft, Übung und Mehrung von Vernunft durch Bildung und Aufklärung. Esther Gad evoziert in ihrem Gedicht das Erreichen dieser Ziele als Folge der Schulgründung, und identifiziert sich als namentliche Autorin dieses Zurufs an meine Glaubensgenossen auch weltanschaulich mit diesen Zielen.
Schließlich wechselt sie in den letzten Strophen des Gedichts die Rolle: Sie wird zur weiblichen Mahnerin der »brave[n] Lehrer« der Schule und ihrer Schüler, die sie aufruft, sich den obrigkeitlich-gnädigen Wohltätern und Gönnern der Schule – König Friedrich Wilhelm II. und Minister Graf von Hoym – würdig zu erweisen, gut und weise zu werden und nie zu vergessen, dass sie am Festtag der Eröffnung zu Menschen und Gliedern des »edlen Staats der Brennen« (d. h. der Preußen) geweiht werden. Esther Gad setzt hier poetisch die Gründung einer Schule für Juden durch die preußische Obrigkeit mit der Emanzipation der Juden als Menschen und als Bürger Preußens gleich:
Und Friedrich Wilhelm winkt ein Ja,
als er von Wohlthun hörte!
Auch waren brave Lehrer da,
sobald man sie begehrte.
Nun, werdet durch dies Institut
recht gute, weise Männer:
Entsprecht durch Fleiß und Edelmuth
der Absicht Eurer Gönner!
[…]
Vergesset nie, daß man Euch heut
als Menschen und als Glieder
des edlen Staats der Brennen weiht,
Seyd dessen werth, Ihr Brüder!
Gads Einweihungsgedicht und der Kontext der Haskala
Wenn Esther Gad dieses Einweihungsgedicht als Lob auf die Gönner und als Mahnung an die Lehrer schreibt, das Gedicht anlässlich der Einweihung unter ihrem Namen gedruckt vorliegt und dann öffentlich vorgetragen wird, sind das Gedicht und seine Autorin schmückendes weibliches Ornament der männlich dominierten Zeremonie. Dennoch: Dass das Gedicht einer Frau und nicht das Gedicht eines Mannes vorgetragen wird, ist in der Männergesellschaft der Einweihung alles andere als selbstverständlich.
Während jüdische Mädchen und Frauen nicht das Zielpublikum der Schule sind, identifiziert Esther Gad sich inhaltlich ohne jede weibliche Eigenperspektive mit den politischen und mit einigen pädagogischen Zielen der Maskilim, sie feiert gar die Schulgründung als Symbol der menschheitlichen und bürgerlichen Gleichstellung und Aufklärung der männlichen Juden im preußischen Staat. Das mag damit zusammenhängen, dass dieses Gedicht eine Auftragsarbeit war. Aber der Autorinnen-Name auf dem Deckblatt des Drucks autorisiert die Aussagen des Gedichts als Esther Gads Ansicht und Weltsicht: Menschenrechte, Bürgerrechte, Wissenschaft und Bildung für Juden sind durch die Eröffnung der Wilhelmsschule auf der politischen Tagesordnung.
Wie so viele deutschsprachige Texte der Haskala hat auch dieses Einweihungsgedicht ein doppeltes Publikum: Es richtet sich einerseits an die christlichen »Gönner« der Wilhelmsschule, die Repräsentanten des preußischen Staats und an das weitere christliche Lesepublikum, insbesondere die aufgeklärten christlichen Männer. Diese lobt das Gedicht ausdrücklich, konfrontiert sie jedoch auch mit der Forderung nach der Gleichstellung der Juden im Staat. Andererseits richtet Esther Gad das Gedicht als »Zuruf« und Aufruf sowohl zu Freude als auch zu Dank an die eigenen »Glaubensgenossen«, das Gedicht spricht also auch das jüdische Publikum direkt an: »Erfüllt die Luft mit Lobgesang/daß nichts als Freud ertöne«.[26] Die Einweihung der Wilhelmsschule soll für alle Juden ein Anlass zur Freude sein.
Ein weiterer wichtiger Umstand ist, dass Esther Gad ein deutsches Gedicht schreibt und vorträgt, kein hebräisches. Das kam nicht in Frage, da Gad wie die meisten jüdischen Frauen ihrer Zeit kein Hebräisch verstand und mit der Begeisterung einiger bei der Einweihung der Wilhelmsschule anwesenden Männer für hebräische und biblische Poesie vermutlich wenig anfangen konnte. Die »Hebrew Haskalah«, wie Moshe Pelli die Ambitionen der an der Erneuerung und Entwicklung des Hebräischen als Literatur- und Wissenschaftssprache der jüdischen »Nation« orientierten, größtenteils moderaten Gruppe der Maskilim bezeichnet hat,[27] war und blieb der Maskila Esther Gad, wie übrigens auch allen anderen aufgeklärten Jüdinnen, fremd. Frauen waren von der hebräischen Haskala mangels Sprachkenntnissen ausgeschlossen. Das spätere Scheitern der hebräischen Haskala in Preußen mangels einer hebräischkundigen Leserschaft, das von Isaac Euchel (1756–1804) schon 1797 in einem öffentlichen Sendschreiben an Joel Löwe in Hameʾassef konstatiert wurde[28] und das mit der Einstellung des Erscheinens von Hameʾassef 1812 endgültig besiegelt war, war auch darin begründet, dass Frauen von vornherein als Autorinnen, Leserinnen und Erzieherinnen hebräischsprachiger Kinder ausgeschlossen blieben. Dem Hebräischen fehlte der Nachwuchs.
Der Hauptgrund für den Niedergang des Hebräischen war indessen, dass aufgeklärte jüdische Männer sich nur und ausschließlich durch deutschsprachige Publikationen in Philosophie, Wissenschaften, Medizin und Dichtung auf dem deutschen Buchmarkt und beim überwiegend nichtjüdischen Lesepublikum durchsetzen, ihre intellektuelle Gleichwertigkeit beweisen, Verkaufserfolge erzielen und die Anerkennung des christlichen Mehrheitspublikums gewinnen konnten.[29] Auch im Vereins-, Kultur-, Gesellschafts- und Geschäftsleben mit Christinnen und Christen spielte Hebräisch keine Rolle, gute Deutschkenntnisse hingegen waren essenziell. Auch jüdische Frauen haben sich intellektuell und gesellschaftlich ausschließlich mit der deutschen Sprache behaupten können; in den religiös und soziokulturell gemischten, neutralen Räumen und Probierfeldern der ›Salons‹ taten sie das auf höchstem Niveau.
Der genderbedingte Interessen- und Zielkonflikt zwischen der deutschsprachigen Maskila Esther Gad und Vertretern der hebräischen Haskala, wie Joel Löwe oder Aaron Wolfssohn (ca. 1756–1835), war indessen schon bei der Einweihungsfeier der Wilhelmsschule präsent und ist in den unterschiedlichen Reden der jüdischen Honoratioren ebenso wie später in den Schulprogrammen und Stundenplänen der Schule für deren Schüler auch hörbar. Denn dort spielte Hebräisch noch eine Rolle.
Eine feministische Polemik gegen Campe
Ihren vielleicht berühmtesten und feministisch prononciertesten Text zeichnet Esther Gad mit »E. B** geb. G*«, einer verkürzten und halb anonymisierten Fassung von »Esther Bernard, geb. Gad«. Es handelt sich um den Zeitschriftenaufsatz Einige Äußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend in der Zeitschrift Der Kosmopolit aus dem Jahr 1798. Der Aufsatz richtet sich gegen einen der prominentesten Aufklärungspädagogen Deutschlands, Joachim Heinrich Campe (1746–1818), und dessen Büchlein Väterlicher Rath für meine Tochter (1789), in dem Campe gegen die Aktivität von Frauen in der Wissenschaft und als Schriftstellerinnen argumentiert und Frauen auf die Rolle als Gattin, Mutter und Hausfrau festgelegt hatte.
Esther Gad ist zur Zeit der Veröffentlichung ihres streitbaren Aufsatzes seit zwei Jahren von Samuel Bernard geschieden und lebt mit ihren zwei Kindern aus dieser Ehe und mit Unterstützung ihres Bruders Isaac Gad seit kurzem (Herbst 1798) in Berlin. Nach Berlin ist sie gezogen, weil sie, wie sie zuvor an Rahel Levin schrieb, Breslau inzwischen hasste, das Leben dort sterbenslangweilig fand und nur in den Berliner Milieus und Salons (oder während langer Aufenthalte in Dresden, Karlsbad oder Teplitz) literarisch oder intellektuell interessante Männer und Frauen kennenlernen und nicht zuletzt auch einen neuen Mann finden könne, der sie als geschiedene Jüdin, Mutter zweier Kinder und gleichrangige, emanzipierte Frau und freie Schriftstellerin akzeptieren würde.[30] Aber Esther Gad trägt als Autorin, wie auch bürgerlich, immer noch den Namen des ungeliebten ehemaligen Ehemannes Bernard, und annonciert durch den Zusatz »geb. Gad« erneut, dass hier Esther Gad schreibt und als Autorin zeichnet.[31]
Der Aufsatz gegen Campe wird hier herangezogen, weil er mit Gads Einweihungsgedicht für die Wilhelmsschule die Gemeinsamkeit aufweist, dass er sich mit Erziehung befasst und Wissenschaft als deren Ziel thematisiert. Zugleich trennt die beiden Texte der Umstand, dass die Erziehung von Knaben, anders als im Breslauer Einweihungsgedicht, in der Polemik gegen Campe überhaupt keine Rolle spielt. Darin geht es ausschließlich um die Erziehung von Mädchen und jungen Frauen, denen Gad zufolge zwar eine andere Erziehung zuteilwerden soll als den Knaben und jungen Männern, dennoch aber eine Erziehung, die sie, anders als Campe meint, zu Gelehrsamkeit und Schriftstellerei befähigen soll. Ein weiterer und nicht unbedeutender Unterschied besteht darin, dass Gad sich in ihrem Schreiben gegen Campe nicht mehr ausdrücklich als Jüdin bekennt und auch nicht mehr speziell über jüdische Erziehung schreibt, sondern als Frau und weibliche Schriftstellerin ganz allgemein über die prinzipiell gleiche Befähigung von allen Mädchen und Frauen zu Gelehrsamkeit und Schriftstellerei.
Esther Gads Polemik gegen Campe wurde weit rezipiert, sie wurde trotz des halb verschlüsselten Autorinnen-Namens sofort als Autorin identifiziert und erregte Aufsehen. Eine junge Frau, Jüdin, widerspricht öffentlich dem berühmten philanthropischen Aufklärungspädagogen Campe. Dieser kurze Text hat ihr den Ruf der »deutschen Wollstonecraft« eingetragen, der vermutlich von ihrem Breslauer Bekannten Johann Gottlieb Schummel 1801 geprägt wurde und von Peter Beer in der Zeitschrift Sulamith noch 1817 wiederholt wird.[32] Die Britin Mary Wollstonecraft war mit ihrem Buch A Vindication of the Rights of Woman (1792) die wichtigste Frauenrechtlerin der europäischen Spätaufklärung. Sie behauptete in ihrem Buch die moralische und menschenrechtliche Gleichheit von Frauen und Männern und trat für eine Erziehung der Mädchen zu mehr Rationalität und kultureller Tätigkeit ein.[33]
Die Wilhelmsschule und die Haskala bleiben in Gads Polemik gegen Campe ohne Erwähnung, aber Gad verrät uns ihre Vorstellungen von Pädagogik für Mädchen im Allgemeinen, und das schließt implizit jüdische Mädchen ein. Die religiöse Differenz tut dabei nichts zur Sache, die Geschlechterdifferenz sehr wohl.
Ausgehend von dem wiederum an die platonische Seelen-Auffassung erinnernden Grundsatz »die Seele hat kein Geschlecht«[34] konstatiert Esther Gad die gleiche intellektuelle und emotionale Befähigung von Männern und Frauen für Wissenschaften und Künste, Gelehrsamkeit und Schriftstellerei.[35] Die Aktivität begabter Mädchen und Frauen auf diesen Gebieten beeinträchtige nicht ihre häuslichen Pflichten als Gattin und Mutter und trage zum Glück der Frauen und damit der Gesellschaft insgesamt bei. Weniger radikal als Condorcet, den sie referiert,[36] befürwortet Gad keine Koedukation von Mädchen und Jungen in denselben Klassen, Schultypen und Schulfächern. Dieses Experiment erscheint ihr 1798 wohl noch zu gewagt und zu weit vom Bewährten entfernt. Aber prinzipiell votiert sie dafür, Mädchen und Frauen bei entsprechender Neigung und Befähigung zu Gelehrsamkeit und Schriftstellerei, Wissenschaften und Künsten zuzulassen und jedenfalls diesen Zugang nicht zu verwehren oder zu behindern. Religion spielt im Erziehungskonzept Esther Gads offensichtlich keine Rolle. Sie schreibt ihre Kritik an Campe als, wie sie zugibt, selbst nicht hinreichend gelehrte, aber dennoch belesene, informierte und offensichtlich zur Schriftstellerei und Argumentation befähigte Frau und Vertreterin ihres Geschlechts. Nicht als Jüdin, als Frau blieb ihr selbst der Zugang zu höherer Bildung verwehrt.
Die Polemik gegen Campe zeigt indes auch, dass die allein auf Knaben abzielenden Erziehungskonzepte Wesselys und der Wilhelmsschule ihr mittlerweile ebenso fremd waren wie die Campes. Bei den Breslauer Maskilim und Pädagogen, ebenso wie in der eigentlich fortschrittlichen philanthropischen Aufklärungspädagogik von Basedow und Campe, hat die höhere Bildung von Mädchen und jungen Frauen keinen Stellenwert. Zugang und gar berufliche Tätigkeit in der Schriftstellerei oder Gelehrsamkeit sind nicht vorgesehen.[37] In der Breslauer Haskala und an der Wilhelmsschule bei Joel Löwe und seinen Mitstreitern gelten die Weiblichkeitsideale der Berliner Haskala: »edle Frauen, zärtliche Gattinnen, verständige Mütter und kluge Hauswirtinnen«.[38] Schriftstellerei, Gelehrsamkeit und Wissenschaft von Frauen gehören bei den männlichen Protagonisten der Haskala in Breslau und an der Wilhelmschule nicht zu den Weiblichkeitsidealen. Frauen spielen in den diesbezüglichen Diskursen, genauso wie in den hebräischen und religiösen Diskursen der Haskala, keine Rolle.
Das wird von Esther Gad nicht mehr akzeptiert. In der Polemik gegen Campe erklärt sie die genannten Weiblichkeitsideale der edlen – sprich der gebildeten Frau, guten Gattin, Mutter und Hauswirtin – für vereinbar mit weiblicher Gelehrsamkeit und Schriftstellerei. Frauen können Wissenschaft und Schriftstellerei betreiben, ohne ihre häuslichen Tugenden und Pflichten zu vernachlässigen. In diesem Akt der öffentlichen Kritik an Campe beweist Esther Gad, die explizit als Frau im Namen anderer Frauen schreibt, dass sie als Frau exemplarisch für ihr Geschlecht sowohl in Gelehrsamkeit als auch in Schriftstellerei mit den Männern mithalten kann.
Dass sie sich in jenen Jahren in Berlin bis zur Taufe 1801 und Auswanderung nach England jedoch durchaus als jüdische Frau und Intellektuelle versteht, verrät ihr Briefwechsel mit Rahel Levin, geschrieben im gegenseitigen, anerkennenden Verständnis der Problematik jüdisch-weiblicher Existenz an einer Epochenschwelle vor der jüdischen und vor der weiblichen Emanzipation, oft auch in der Perspektive, eine gute Partie zu machen, um sich aus der finanziellen Abhängigkeit von den jeweiligen Brüdern zu befreien. Wie frei und gleichberechtigt die beiden Freundinnen im Umgang miteinander, aber auch mit Dritten agieren, zeigt ein Brief Esther Gads an Rahel Levin in Paris vom 7. Februar 1801. Der von Gad verehrte Jean Paul hatte sich in Berlin mit der Protestantin Karoline Mayer verlobt. Über sie schreibt Esther Gad: »Seine [Jean Pauls] Braut gefällt mir außerordentlich. Sie ist die klügste Christin, die ich je kennen lernte. Wenn die unter uns gelebt hätte, ich weiß nicht, was nicht alles aus ihr geworden wäre.«[39]
Das hier erkennbare weibliche jüdische Selbstbewusstsein bezieht sich auf Klugheit, Durchsetzungsfähigkeit und bessere Bildung, nicht etwa auf religiöse Überlegenheit der Jüdinnen gegenüber der Christin. Die jüdische Religion und erst recht die rabbinische Gelehrtheit kommen in der Briefkonversation von Esther Gad und Rahel Levin Varnhagen über drei Jahrzehnte hinweg nicht vor. Für selbstbewusste, aufgeklärte und gebildete Jüdinnen wie diese beiden hält die rabbinische Welt ihrer Epoche im religiösen Ritual, in Synagoge, Recht und Erziehung nur eine unterlegene Rolle bereit. Sie haben in der traditionellen rabbinisch-religiösen, patriarchalen Kultur ihrer Zeit keine ihren Fähigkeiten und ihrer Bildung angemessenen Entfaltungsmöglichkeiten, keine Stimme und keinen Platz. Den haben sie nur in den offenen Häusern, Soireen, Teetischen und Salons des maskilischen Milieus, die sie selbst mitbestimmten und maßgeblich prägten.
Die Weiblichkeitsideale der Haskala räumten jüdischen Frauen zwar eine distinkte Rolle als gebildete »edle Frau«, Gesellschaftsdame, Hausfrau, Gattin und Mutter ein, hielten diese zugleich jedoch aus den Diskursen über Religion und Wissenschaft heraus. Dass Esther Gad 1798 für Schriftstellerei und Gelehrsamkeit von Frauen plädiert, zeigt, dass sie sich nach 1791 aus dem Milieu der Breslauer Haskala bereits gelöst und sich ihm völlig entfremdet hatte, noch bevor sie sich 1801 taufen ließ. Es gehört zur Problematik der Haskala als jüdischer Aufklärungsbewegung, dass Mädchen und Frauen in ihrer Programmatik keinen anderen Platz einnahmen als den der kulturell, musisch und ästhetisch gebildeten »Töchter« bei geselligen oder gesellschaftlichen Anlässen, sie aus den gedruckten Diskursen der Haskala, aber auch aus Beruf, Wissenschaft, Gelehrsamkeit und Schriftstellerei ähnlich ausgeschlossen blieben wie die Frauen in der christlichen Aufklärung.
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- Einleitung: Breslau – ein Zentrum der jüdischen Aufklärung
- Von der Duldung zur Erziehung. Aufgeklärte Judenpolitik in Breslau
- »Schriften polemischen Inhalts«. Die Zeitschrift Hameʾassef in Breslau, 1794–1797
- Vom innerjüdischen Appell zur öffentlichen Kampagne. Joel Bril Löwes Sendschreiben an die Brüderschaften und der Beerdigungsfristenstreit in Breslau, 1793–1800
- Maskilische Schriften der Graßischen Druckerei in Breslau
- Esther Gad und das gesellige Leben in Breslau um 1800
- Esther Gad – eine aufgeklärte Jüdin als Akteurin der Haskala in Breslau. Feministische Perspektiven
- Hebräische Autorennetzwerke in der Breslauer Haskala. Mordechai Roch (1763–1825) und seine nachgelassene Manuskriptsammlung
- Weitere Beiträge
- Die Anfänge der ›jüdischen Moderne‹ in der Aufklärungszeit. Zum Diskurs zwischen Moses Mendelssohn und Christian Wilhelm Dohm
- Das Jüdisch-Mittelalterliche Erbe in Erfurt auf der Welterbeliste
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- Titelseiten
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