Startseite Jutta Müller-Tamm und Sylwia Werner, Hgg.: Mobile Avantgarden. Netzwerke der Moderne im nördlichen und östlichen Europa (WeltLiteraturen / World Literatures, Bd. 25). Berlin und Boston: De Gruyter, 2025. 250 S.
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Jutta Müller-Tamm und Sylwia Werner, Hgg.: Mobile Avantgarden. Netzwerke der Moderne im nördlichen und östlichen Europa (WeltLiteraturen / World Literatures, Bd. 25). Berlin und Boston: De Gruyter, 2025. 250 S.

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Veröffentlicht/Copyright: 5. November 2025
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Aus der Zeitschrift arcadia Band 60 Heft 2

Rezensierte Publikation:

Jutta Müller-Tamm und Sylwia Werner, Hgg.: Mobile Avantgarden. Netzwerke der Moderne im nördlichen und östlichen Europa (WeltLiteraturen / World Literatures, Bd. 25). Berlin und Boston: De Gruyter, 2025. 250 S.


Der hier besprochene Tagungsband unternimmt den insgesamt überzeugenden Versuch, in Form von zehn Einzelbeiträgen unterschiedlicher Länge und Aussagekraft den Fokus avantgardistischer Kunstproduktion von den urbanen Zentren in West- und Mitteleuropa in Richtung Norden und Osten, konkret in den skandinavischen, baltischen und slawischen Raum, zu verschieben. Auf diese Weise sollen in diesem Band neue Perspektiven eröffnet werden, die der an Westeuropa geknüpften Meistererzählung der Avantgarde zuwiderlaufen oder aber diese ergänzen. Als methodologische Ausgangspunkte dieser Konzeption gelten die prinzipielle Mobilität avantgardistischer Bewegungen über sprachliche, räumliche und mediale Grenzlinien hinweg sowie die damit verbundene Fähigkeit zur Generierung multilateraler Netzwerke, die zu Beginn in einer Einführung der beiden Herausgeberinnen des Bandes, Jutta Müller-Tamm und Sylwia Werner, umrissen werden. An die Stelle der traditionellen hierarchischen Opposition zwischen Zentrum und Peripherie soll den beiden Herausgeberinnen zufolge ein plurales und polyzentrisches Konzept der Avantgarden treten, das seinerseits eine Neugewichtung der wechselseitigen Verknüpfungen ermöglicht.

Im ersten Beitrag des Bandes, der einen thematischen Block zu den skandinavischen Avantgarden eröffnet, widmet sich Klaus Müller-Wille der finnlandschwedischen Zeitschrift Quosego (1928/1929). Der Verfasser vermag im Zeichen einer mobilen Dezentrierung der europäischen Avantgardebewegungen deutlich zu zeigen, wie sich die Zeitschrift einerseits gegen die in Schweden zu beobachtenden Tendenzen, avantgardistische Bestrebungen mit einer Ästhetik kommunaler sozialer Wohlfahrt zu vereinbaren, abgrenzte; andererseits belegt Müller-Wille detailliert die spezifische Strategie der Zeitschrift, von ihrer doppelt peripheren finnlandschwedischen Position aus zeitgenössische europäische Strömungen in Form verfremdender oder parodierender Zitate aufzurufen und so zwar an den diversen künstlerischen ‚-ismen‘ teilzuhaben, sich von diesen aber zugleich zu distanzieren und ihnen gegenüber eine spielerische Position einzunehmen.

Gegenüber dem ersten Beitrag wirken Christian Bennes Ausführungen zur Mobilität der Avantgarde beim dänischen Künstler Asger Jorn danach eher skizzenhaft. Diese manifestiert sich laut Benne zunächst in der Biografie des Künstlers, die Metropoles, Kleinstädtisches und Rurales nicht als dialektische Gegensätze, sondern als einander zu einem Ganzen ergänzende Lebenswirklichkeiten versteht. Laut Benne versuchte Jorn auf methodologischer Ebene, das in seinen Augen beengende dialektische Denken durch eine spezifische Logik der Triolektik zu ersetzen, die der Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg in mehreren Schriften entwarf und in der keine der drei Dimensionen auf die jeweils anderen beiden reduzierbar ist. Benne zeigt anschaulich – wenn auch vom Kernthema des Bandes etwas abgerückt –, dass Jorn in verschiedenen Wissensgebieten im Rahmen seiner Triolektik wechselseitige, synchron gesetzte Austauschprozesse linearen Entwicklungslinien vorzog.

In einem der überzeugendsten und nachdrücklichsten Beiträge des Bandes nähert sich Lukas Nils Regeler anschließend in drei konzeptuellen Schritten der Lyrik der jungverstorbenen finnlandschwedischen Dichterin Edith Södergran an: Regeler veranschaulicht zunächst anhand zahlreicher Primärzitate, wie Södergran in ihren Gedichten von Krankheit geprägte Körperlichkeit und literarische Produktivität stets mit Blick auf ein intendiertes Lesepublikum kombiniert. Danach weist Regeler auf, wie sich die Autorin ungeachtet ihres lyrisch artikulierten Autonomieanspruchs sehr bewusst innerhalb des Literaturbetriebs positionierte (etwa mit dem gescheiterten Versuch einer selbst zusammengestellten und übertragenen Anthologie finnlandschwedischer Lyrik in deutscher Sprache). Drittens skizziert Regeler abschließend die 1942 einsetzende und sich nach Kriegsende in Westdeutschland wie in der DDR entfaltende und bis in die jüngere Gegenwart anhaltende Aufnahme von Södergrans Werk im deutschsprachigen Raum.

Einen aufschlussreichen Blick hinter die Planung einer Ausstellung anhand in extenso zitierter Originaldokumente ermöglicht anschließend Hubert van den Berg: Er veranschaulicht zunächst die deutsche Kulturpolitik während des Ersten Weltkriegs, die über das Auswärtige Amt verdeckt versuchte, die antideutsche Stimmung in den neutralen Ländern durch einen verstärkten Kulturaustausch zu verbessern. Dann zeichnet van den Berg anhand des dienstlichen Schriftverkehrs minutiös, Schritt für Schritt, die letztlich gescheiterte Planung einer für Jänner 1920 angesetzten Ausstellung von Gemälden Edvard Munchs in Berlin nach, die ein befürchtetes Abdriften Munchs in das konkurrierende Lager Englands und Frankreichs verhindern und den deutschen Anspruch auf den Künstler festigen sollte. Wie die vom Verfasser beigebrachten Schriftstücke zeigen, scheiterte das Unternehmen letztlich daran, dass Munch aus Sorge um das Schicksal seiner Gemälde die ursprünglich erteilte Zusage zurückzog; im April 1921 konnte die Schau schließlich doch realisiert werden.

Ähnlich ins Detail gehend ist Claus Zittels Darstellung der Vermittlungsbemühungen des heute weitgehend vergessenen Wiener Kritikers Fritz Karpfen. Zittel bietet zunächst ein aufschlussreiches Porträt des umtriebigen, politisch links orientierten Autors und präsentiert anschließend die drei Bände aus einer wesentlich breiter konzipierten Reihe zur internationalen Gegenwartskunst, die Karpfen von 1921 bis 1923 realisierten konnte und die Österreich, Russland sowie – in Kombination – Skandinavien und Holland gewidmet waren. Einen besonderen Fokus legt Zittel dabei auf die beiden zuletzt genannten Bände, wobei er nicht nur auflistet, wer in ihnen konkret präsentiert wird, sondern auch veranschaulicht, wie und anhand welcher Quellen Karpfen zu seiner Auswahl und zu seiner jeweiligen, expressionistisch grundierten Beurteilung gelangt. Auf diese Weise erweitert Zittel den Forschungsstand zu interkulturellen Beziehungen im Österreich der Zwischenkriegszeit um einen wichtigen Aspekt, der bislang offensichtlich nicht gebührend beachtet wurde.

Mari Laanemets widmet sich in ihrem materialreichen Beitrag der Programmatik der 1923 in der estnischen Kleinstadt Võru gegründeten „Gruppe der Estnischen Künstler“ (EKR) sowie den Bestrebungen der Gruppierung, sich international zu vernetzen. Laanemets positioniert die Gruppe im Spannungsfeld zwischen St. Petersburg und Berlin und veranschaulicht die Relevanz des russischen Kubofuturismus bzw. Konstruktivismus für die Tätigkeit der estnischen Künstler. Anschließend referiert Laanemets sehr genau über diverse programmatische Schriften von wichtigen Mitgliedern der Gruppe wie Jaan Vahtra, Märt Laarman und Henrik Olvi, die (wie etwa Laarman 1928 in seinem Vorwort zum Almanach Das Buch der neuen Kunst) eine antimimetisch-funktionale Produktionsästhetik im Zeichen des Konstruktivismus propagierten; diese fand wiederum primär in kleinerem Maßstab auf dem Gebiet des Bühnenbildes und der Buchgestaltung ihre praktische Umsetzung.

Ebenfalls in einem estnischen Kontext positioniert ist der Beitrag von Cornelius Hasselblatt, der freilich abschnittsweise zu einer summarischen Darstellung der estnischen Literatur vom 19. bis 21. Jahrhundert gerät und seinen eigentlichen Gegenstand aus den Augen verliert. Dieser – nämlich der 1920 veröffentlichte Gedichtband Nervenvibrierungen im Tintengewande des jung verstorbenen, estnisch-deutschsprachigen Autors Axel Kallas, der sich im Untertitel wörtlich als „Futuro-kubistisches“ deklariert – wird in seinen intertextuellen wie intermedialen Bezügen zur estnischen Avantgarde hier mustergültig analysiert, wodurch die dem Band zugrunde liegende Intention, Mobilität auch als Bewegung zwischen verschiedenen Sprachen zu verstehen, paradigmatisch eingelöst scheint.

Die letzten drei unterschiedlich konzipierten Beiträge des Bandes unternehmen schließlich einen Schritt zur polnischen und ukrainischen Avantgarde. Sylwia Werner bietet in ihrem materialreichen, von zahlreichen längeren Textausschnitten durchzogenen Beitrag eine anschauliche Rekonstruktion der Vermittlung des Dadaismus in die polnische Avantgarde, die ab 1918 primär über Zeitschriftenbeiträge und Übersetzungen ausgewählter Textproben erfolgte. Werner bringt hier nicht nur eine Fülle von Informationen, sondern veranschaulicht auch wesentliche konzeptuelle Unterschiede zwischen Dadaismus und polnischer Avantgarde, die – anders als die Dadaisten – ihr Interesse an einer vom Ballast lexikalischer Bedeutungen befreiten ,Ursprache‘ nicht auf afrikanische Sprachen, sondern auf die Tradition polnischer Volkslieder und deren entsprechende Textelemente richtete.

Einen wesentlich enger gefassten, dafür aber entsprechend genauer ausgeleuchteten Bereich fokussiert Bernd Stiegler, der sich mit der experimentellen kinematografischen Umsetzung von Anatol Sterns langem, im Kontext des polnischen Futurismus stehendem Gedicht „Europa“ aus dem Jahr 1925, die sieben Jahre später durch das Ehepaar Franciszka und Stefan Themerson realisiert wurde, befasst. Stiegler zeichnet hier überaus präzise die Übersetzung textueller Informationen in die innovative Bildsprache des Films sowie Stefan Themersons Anfang der 1980er Jahre vorgenommene Rekonstruktion des verloren geglaubten Films nach (der im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wieder auftauchte). Zusammengenommen ermöglichen die unterschiedlich und beinahe konträr konzipierten Beiträge von Werner und Stiegler einen neuen Blick auf die diversen Vernetzungsmuster der polnischen Avantgarde in ihren verschiedenen Unterströmungen.

Analoges lässt sich auch für den Beitrag von Vera Faber zur spezifischen Position des Reiseberichts im literarischen Paradigma der ukrainischen Avantgarde konstatieren, der eine Vielzahl teilweise wenig beachteter Materialien einarbeitet. Faber referiert zunächst über die Funktion nichtfiktionaler Genres in der ukrainischen Literatur jener Jahre, ehe sie zwei Textproben präsentiert, die in ihrer signifikanten Differenz die Spannweite des Genres Reisebericht unterstreichen: zunächst Majk Johansens experimentellen Roman mit dem ausladenden Titel Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alchesta, in die slobidische Schweiz. Der Roman führt intertextuelle Bezüge zu Miguel de Cervantes’ Don Quijote, metatextuelle Reflexionen und Verfahren der künstlerischen Verfremdung zu einem höchst originellen Erzähltext zusammen. Als Kontrast dazu präsentiert Faber anschließend Valerijan Poliščuks Reisebericht Überfall auf Skandinavien (1931), in dem Poliščuk über die westukrainische Metropole L’viv/Lemberg schreibt und die zunehmende Polonisierung des öffentlichen Lebens kritisiert, der er die sowjetische Nationalitätenpolitik als positives Beispiel gegenüberstellt. Mit Vera Fabers Beitrag, der die im Titel des Bandes angesprochene Mobilität der Avantgarden als Bewegungsmuster innerhalb der literarischen Texte selbst situiert, findet die Reihe an Einzelbeiträgen einen stimmigen Abschluss. Ergänzt wird der abschnittsweise nicht ganz sauber gearbeitete Band durch Angaben zu den beteiligten Autorinnen und Autoren sowie durch ein Personenregister.

Insgesamt ermöglicht die auch grafisch mit zahlreichen Reproduktionen überaus ansprechend, ja beinahe opulent ausgestattete Publikation einen vertieften und geschärften Blick auf die transkulturellen Verbindungslinien der europäischen Zwischenkriegsavantgarden mit einem Schwerpunkt auf Nord- und Osteuropa (wobei die west- und mitteleuropäischen Zentren der Avantgarden als Hintergrundfolie stets explizit oder mindestens indirekt präsent bleiben). Der innovative Impuls des Bandes scheint damit weniger im Aufweis der titelgebenden Mobilität auf der motivischen Ebene der Avantgardekunst (Automobil, Flugzeug, Eisenbahn) zu liegen, als vielmehr auf einer methodologischen oder pragmatischen Ebene: Im Zentrum des Interesses steht primär eine Mobilität, die als Genre des Reiseberichtes, als internationale Vernetzung der einzelnen Avantgardebewegungen oder als intermediale Mobilität zwischen Text und Bild bzw. Film codiert ist; ferner wird sie als Versuch verstanden, über Veröffentlichungen internationale Avantgardebestrebungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen oder Exponate zu Ausstellungszwecken an einen anderen Ort zu transportieren – dies alles vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Mehrsprachigkeit, die als erweiterte Form von Mobilität zwischen verschiedenen Sprachen den Band ebenfalls durchzieht. Der kulturwissenschaftlichen Avantgardeforschung werden die Mobilen Avantgarden daher zweifellos weitere produktive Impulse verleihen.

Online erschienen: 2025-11-05
Erschienen im Druck: 2025-11-04

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 7.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/arcadia-2025-2019/html
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