Startseite Mona Körte, Elisa Ronzheimer und Sebastian Schönbeck, Hgg.: Wechselwörter. Personalpronomen in Bewegung (Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie). Berlin: Erich Schmidt Verlag 2025. 274 S.
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Mona Körte, Elisa Ronzheimer und Sebastian Schönbeck, Hgg.: Wechselwörter. Personalpronomen in Bewegung (Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie). Berlin: Erich Schmidt Verlag 2025. 274 S.

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Veröffentlicht/Copyright: 5. November 2025
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Aus der Zeitschrift arcadia Band 60 Heft 2

Rezensierte Publikation:

Mona Körte, Elisa Ronzheimer und Sebastian Schönbeck, Hgg.: Wechselwörter. Personalpronomen in Bewegung (Beiheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie). Berlin: Erich Schmidt Verlag 2025. 274 S.


Keine andere Wortgruppe findet in gesellschaftspolitischen Diskussionen derzeit so viel Beachtung wie die Personalpronomen. Mit ihnen verbindet sich der Ausdruck unterschiedlicher Identitätskonzepte – ihr Gebrauch wandelt sich, zugleich unterliegen sie strengen Konventionen und rühren an das Selbstverständnis gesellschaftlicher Institutionen. Wie persönlich Personalpronomen sind, wie politisch die Grammatik, wurde im Rahmen der Tagung „Personalpronomen: Ansätze einer interdisziplinären Grammatik der Person“ untersucht, die am 19. und 20. Oktober 2022 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattfand. Die aus dieser Tagung hervorgegangenen Beiträge sind nun im Beiheft zur Zeitschrift für Philologie unter dem Titel „Wechselwörter. Personalpronomen in Bewegung“ veröffentlicht worden. In ihrer Einleitung legen die Herausgeber:innen Mona Körte, Elisa Ronzheimer und Sebastian Schönbeck dar, dass die Pronomen, „semantisch weitgehend leer“ (8), „kommunikative Weichensteller“ (8) im Diskurs bilden und damit nichtsdestoweniger maßgeblich zur Bedeutungskonstitution beitragen. Ihr Ansatz beruht vor allem auf Émile Benveniste und Roman Jakobson, den beiden Pionieren der Pronomenforschung in der modernen Sprachwissenschaft, die auch auf die Literaturwissenschaft – insbesondere die Narratologie – großen Einfluss hatten. Der Einsatz von Pronomen ist stets kontextabhängig zu betrachten, denn die Fürwörter entfalten ihren deiktischen Wert bzw. ihre anaphorische Verweisfunktion stets situativ und plötzlich. Eben darum, so die Herausgeber:innen, können sie erhebliche Verwirrung stiften: Grammatisch korrekt eingesetzt vermögen sie semantischen Unsinn mit veruneindeutigenden und komischen Effekten zu zeitigen (9). Der Begriff „Wechselwörter“ geht als Übersetzung von Jakobsons Terminus „shifter“ hervor. Die Übersetzung „Wechselwörter“ regt an, Pronomen nicht nur als Ersetzungen aufzufassen, die auf der paradigmatischen und syntagmatischen Achse gleiten, sondern sie auch in ihrer performativen Kraft stärker zu beleuchten. Pronomen ersetzen nicht nur Nomen, sondern erzeugen auch auf anderen Ebenen Verunsicherung. Jakobson, so erinnern die Herausgeber:innen, unterscheidet zwei Funktionen der Personalpronomen. Einerseits fungieren sie als Symbole: darin sind sie situationsunabhängig und verweisen auf konventionalisierte Bedeutung; andererseits als „Anzeichen“, wenn sie ihre Bedeutung aus einem situativen, deiktischen Verweisungszusammenhang gewinnen. Mit diesem Einerseits/Andererseits ist eine erste und grundsätzliche Wechselhaftigkeit dieser Wortgruppe benannt. Eine weitere Dimension des ‚Wechsels‘ betrifft den Positionswechsel der Sprecher:innen, den der spezifische Einsatz von Pronomen ermöglicht oder provoziert: Subjektive Einstellungen können im Gleiten vom ‚Ich‘ zu einem in- oder exklusiven ‚Wir‘ zu kollektiven Positionierungen werden oder aber in die Perspektive anderer, dritter Positionen überführt und dadurch relativiert werden. Pronomen sind daher, mehr als andere Wortgruppen, Ankerpunkte zwischen Grammatik und lebensweltlicher Symbolisierung (11).

Auch wenn die Herausgeber:innen betonen, dass sich das daraus ergebende produktive Potenzial vor allem in literarischen Texten zeigt – und solche stehen auch mehrheitlich im Zentrum der versammelten Beiträge –, ist der Band ausgesprochen interdisziplinär angelegt. Neben literaturwissenschaftlichen Beiträgen finden sich Analysen, die mit Ansätzen aus der Linguistik, der Translationswissenschaft, der Soziologie, der Psychoanalyse und den Gender Studies auch nichtliterarische Texte oder Sprechsituationen im Hinblick auf den Einsatz von Pronomen untersuchen. Systematisch ist der Band in vier Teile gegliedert: Koalitionen, Konstellationen, Friktionen, Distinktionen. Den Gliederungspunkten wie den Beiträgen insgesamt liegt ein struktural-dichotomisches Sprachverständnis zugrunde. Denn gerade die Dichotomie zwischen Singular und Plural, zwischen Ich und Anderem, zwischen männlich, weiblich und neutral ermöglicht den dynamischen Wechsel, den zu untersuchen sich die Beiträge vorgenommen haben.

Der erste Beitrag von Joachim Fischer hat grundlegend systematischen Charakter. Fischer rekapituliert aus theoriegeschichtlicher Perspektive einige paradigmatische Momente philosophischer Explikation einzelner Personalpronomen: die Ich-Zentriertheit Descartes‘, die Ich/Nicht-Ich-Dialektik bei Johann Gottlieb Fichte und G. W. F. Hegel, schließlich die Konstitution des Ichs aufgrund des angesprochenen Du bei Wilhelm von Humboldt, Martin Buber und Emmanuel Levinas. Erst die dialogische Grundlegung trägt das Moment der Wechselwirkung in die Sprachphilosophie ein und weist damit das Soziale als unhintergehbare Tatsache allen Sprechens aus. ‚Ich‘ zu sagen, setzt also immer schon andere voraus. Die dritte Person ­– also die Position des Dritten als Beobachter, Zuschauer, Voyeur, Störer oder Profiteur einer dialogischen Zweierkonstellation – gerät vor allem bei Georg Simmel und Sigmund Freud in den Blick. ‚Es‘ nimmt darin eine Sonderstellung ein: ‚Es‘ steht für die Dingwelt, aber auch für eine ich-fremde Größe, die grammatikalisch die Subjektposition einnehmen kann. Freuds ‚Es‘ als Bezeichnung für das Unbewusste leitet sich grammatisch von feststehenden unpersönlichen Wendungen wie ‚es regnet‘, ‚es blitzt‘ ab. Soweit Fischer. Heide Volkening nimmt sich hingegen des Pronomens ‚es‘ noch einmal anders an, sie untersucht dessen Einsatz für die Adressierung des ‚Mädchens‘, alternierend zum ‚sie‘ in Freuds Konzeption der Weiblichkeit.

Fischers Beitrag fokussiert vor allem auf die Funktion von Pronomen in den Sozialtheorien. Er erinnert in diesem Zusammenhang dankenswerterweise an die wenig bekannte Schrift „Die Philosophie der persönlichen Fürwörter“ (1940) des Simmel-Schülers Leopold von Wiese. Pronomen werden hier als ein relationales Gefüge gefasst. Beeindruckend ist die Plastizität, mit der von Wiese die scheinbar so ‚leeren‘ Pronomen, die in der Einleitung des vorliegenden Bandes augenzwinkernd als ‚little nobodies‘ bezeichnet werden, in seiner Schrift auftreten lässt. Er schreibt: „Das System der Personalpronomen erweist sich als ein dynamisches System voller Spannungen, in dem beständig Streit zwischen den Fürwörtern besteht.“ (24) Sie sind mithin der Austragungsort der „Spannungen zwischen den zwischenmenschlichen Verhältnissen“ (24). Für von Wiese gilt es, „zu zeigen, daß das Ich für und gegen das Wir, für uns gegen das Du steht, aber auch Ich und Du, Ich und wir nur eines sind“ (24); die Folge sei, dass „das Ich unter dem Einflusse des Du wird, sich wandelt, reift, sich vervollkommnet, aber auch gebrochen wird und hinsiecht“ (25). In von Wieses Überlegungen zur Ich-Es-Relation, die er ausschließlich instrumentell fasst, trägt das Ich den Sieg davon: „Das Es [...] bleibt Sache, Material [...], wird vom Ich angesogen, um genutzt, gebraucht oder verbraucht zu werden.“ (25) Die Ich-Wir Beziehung fasst er phylogenetisch und ontogenetisch als ursprüngliche Symbiose mit der Mutter, aus der sich das Ich als Bruch mit dem Wir herauskristallisiert, um in Folge einer Krise des allzu selbstsüchtigen Ichs wieder zu einem Wir zu finden. Der Beitrag von Fischer zielt jedoch, über von Wiese hinausgehend, mit Norbert Elias auf eine Universalisierung des Systems der Pronomen. Elias fasst den „Satz der persönlichen Fürwörter“ (26) als den „elementarsten Ausdruck für die fundamentale Bezogenheit jedes Menschen auf andere“ (26). Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft sind die sechs Pronomen im Sinne von Positionen, die ontologisch jeweils voneinander unabtrennbar sind. Die Beziehung einer Position ruft mithin zugleich ihre Beziehung zu allen anderen Positionen auf. Fischer hält fest: „Jedem, der sich sprechend platziert, widerfährt in jeder Situation kraft der Fürwortserie eine mehrperspektivische Mitgenommenheit in ein Beziehungsgeflecht.“ (27) Er erkennt in der personalpronominalen Grammatik die „denkökonomische Minimalkomplexität von Vergesellschaftungen“ (36).

Dem von Fischer herausgearbeiteten universalistischen Pronomensystem, das wesentlich auf den indo-europäischen Sprachen fußt, steht Robert Stockhammers Beitrag gegenüber. Ausgehend von der Kreolsprache Tok Pisin, die zwischen einem inklusiven und einem exklusiven ‚Wir‘ unterscheidet, gehen seine sprachvergleichend angelegten Reflexionen einer Verflechtung von Pronomen- und Identitätslogik nach und fordern zu einem Überdenken der sprachlichen Modellierung von Kollektivität auf. Stockhammer wirft durch die Linse des Tok Pisin zunächst einen befremdenden Blick auf den konventionellen Gebrauch des ‚Wir‘, bei dem „in kaum einer europäischen und in nahezu keiner indoeuropäischen Sprache“ (38) zwischen inklusivem und exklusivem Wir durch unterschiedliche Pronomina unterschieden wird. Demgegenüber würden „sehr viele andere Sprachen allerdings, solche aus ganz verschiedenen Sprachfamilien und jeweils auf allen Kontinenten gesprochene“ (38) auf der Ebene der pronominalen Ausdrucksform eine grammatische Differenzierung vornehmen. Im Folgenden erörtert Stockhammer, unter kritischem Einbezug der Sprechakttheorie, die politischen und ethischen Konsequenzen der (Nicht-)Klusivität. Das nicht-klusive ‚Wir‘ lasse immer einen Interpretationsspielraum; die Restunsicherheit, ob das ‚Wir‘ inklusiv oder exklusiv gemeint sei, deutet Stockhammer zunächst als Moment von Freiheit (45).

Seine darauffolgende kritische Auseinandersetzung mit dem französischen Philosophen Tristan Garcia (Autor von Nous, 2016) zeigt jedoch, wie der aktuelle Gebrauch des ‚Wir‘, zumal im emanzipatorischen Anliegen benachteiligter Gruppen, einen nicht unerheblichen nationalistischen und rassistischen Ballast mit sich trägt. Stockhammer schließt daraus, dass gerade ein In- und Exklusion nicht unterscheidendes ‚Wir‘ ständig In-, Ex- und Nicht-Klusionen produziert. In einer diese Überlegungen abschließenden Fußnote formuliert er die ebenso anregende wie spekulative Hypothese, dass – angesichts der Tatsache, dass kludierende Sprachen häufig von Menschengruppen gesprochen wurden und werden, die Opfer gewaltsamer Kolonialisierungsprozesse waren – sich die Frage stellt, ob die Nicht-Klusivität der von den europäischen Kolonisatoren gesprochenen Sprachen bestimmte Machtvorteile impliziert. Gerade die Verschleierung von In- oder Exklusion durch das nicht-klusiv markierende ‚Wir‘ könne zu Missverständnissen geführt haben, die den Kolonisierten zum Nachteil gereichten.

Inwiefern auch in europäischen Sprachkontexten Pronomina über Inklusions- und Exklusionsprozesse hinaus wirken bzw. sich aus dieser Zwangsalternative freisetzen können, wird in den Beiträgen von Karl-Josef Pazzini zum Übertragungsbegriff in der Psychoanalyse, in Ulrike Schneiders Lektüre von Roland Barthes’ Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes (1975) und Fragments d’un discours amoureux (1977) sowie in Esther von der Ostens übersetzungstheoretischer und -praktischer Auseinandersetzung mit Hélène Cixous’ Hyperrêve (2006) besonders deutlich. Der Zug der Pronomen hin zur ontologischen Festschreibung von Identitäten, Positionen und Koalitionen tritt in den genannten Untersuchungen zugunsten von temporären und instabilen Konstellationen und ‚Architekturen‘ zurück. Pazzini spricht aus psychoanalytischer Sicht von einem ‚porösen Ich‘, das offen für ein Wir sei, das in den Schriften Freuds als solches kaum je ausgesprochen wird. Das kollektive Wir sei eher als eine Richtung der Überschreitung des Ichs zu bewerten denn als eine qualitativ und quantitativ definierte Einheit (68). Der Ort dieser Überschreitung des Ichs zum Wir ist in der Psychoanalyse die unbewusste Übertragung zwischen Analytiker und Analysant. Diese ebenso zentrale wie schwer zu begreifende Dimension bildet den Motor der analytischen Kur; Übertragung ermöglicht es, erstarrte Identifikationen durchzuarbeiten und sich im besten Fall von ihnen zu verabschieden. Pazzinis Name für die Übertragung lautet ‚passagères Wir‘. Die Vieldeutigkeit des französischen Wortes ‚pas‘ (Verneinungspartikel und auch Wortstamm, aus dem das Verb ‚passer‘ [vorübergehen], die Substantive ‚passé‘ [Vergangenheit], ‚passage‘ [Passage] und nicht zuletzt Jacques Lacans Wortbildung ‚la passe‘ [als Bezeichnung des Übergangs des Analysanten zum Analytiker in der Ausbildung abgeleitet werden]) muss in der Begriffsprägung von Pazzini mitgehört werden.

In Hélène Cixous’ poetisch-philosophischer Fiktion Hyperrêve (2006), die im Zentrum von Ester von der Ostens Beitrag steht, fließen Dekonstruktion und Psychoanalyse maßgeblich ein – aber nicht so sehr thematisch, sondern vielmehr in der konstanten schriftstellerischen Provokation eigendynamischer Prozesse der französischen Sprache, namentlich die Aktivierung von Homonymien und Homophonien, die jenseits von Grammatik und Semantik Bedeutungseffekte zeitigen. Cixous weiß mit Lacan, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist. Von der Osten zeigt dies vor allem an Cixous’ „Pronomenarbeit“ (125), die sie als Trauerarbeit begreift – konkret gemeint ist ihre Spracharbeit an ihrer libidinösen Bindung zum verstorbenen Freund Jacques Derrida. In ihrer Lektüre und Übersetzung von Hyperrêve legt von der Osten frei, was im französischen Original latent und mithin unentschieden in der Schwebe bleibt, was zu einer Proliferation von Schrägstrichen in der Übersetzung führt. Denn wo das französische Original in einem Pronomen unterschiedliche deiktische und anaphorische Bezüge sowie latent eingeschriebene Semantiken unentschieden nebeneinanderstehen lassen kann, muss die Übersetzung, um diesen Polyvalenzen gerecht zu werden, ausdifferenzieren. Etwa muss im apostrophischen Gebrauch des ‚tu‘ – Anrede des toten Freundes – auch dessen Schweigen (‚tu‘: Partizip Perfekt von ‚taire‘), aber auch das Töten (‚tu es‘ / ‚tuer‘) mitgehört werden (128); ebenso wird im Gebrauch des geschlechtlich unbestimmten Dativ von ‚il‘ und ‚elle‘ – ‚lui‘ –, mit dem Cixous über den abwesenden Freund spricht (oder spricht sie über ihre hochbetagte Mutter, die sie liebend pflegt?) der „Glanz“ („lui“, hier Partizip Perfekt von ‚luire‘) laut (127), der von beiden geliebten Figuren ausgeht. Im „parapluie“, mit dem Cixous՚ Mutter, schon fast verstummt, auf die Objekte zeigt, derer sie bedarf, wird „lui“ durch eine gegenwärtige und gestische Deixis buchstäblich materialisiert und mitgetragen, was, bei aller Trauer, in diesem Text auch komische Effekte erzeugt (137).

Wie sich in der postmigrantischen Gegenwartsliteratur pronominale Verunsicherungen als Autofiktion fortschreiben, zeigt Regina Karl in Auseinandersetzung mit Olivia Wenzel und Sharon Dodua Otoo. Wenzels Roman 1000 serpentinen angst (2020), eine mehrschichtige Selbstbefragung einer namenlosen Berlinerin, die als Person of Color in der DDR aufgewachsen ist und durch die USA reist, und Otoos Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“ (2022), deren Komik daraus erwächst, dass das Ich aus einem Frühstücksei spricht – eine Positionsverschiebung, die durch die phonetische Interferenz des englischen ‚I‘ im Deutschen motiviert ist –, lassen das persönliche Subjekt in einem „Schwebezustand zwischen grammatischem und realem Ich“ (158). Autofiktion erweist sich in Karls Analysen als ein Gegenwartsgenre, mit dem kritisch und spielerisch die Tendenz zur Ontologisierung von Identitäten durch Sprachsetzungen unterwandert wird. Zugleich aber beleuchtet Karl, wie – im Fall von Wenzels Roman – die Rezeption, hier durch Moritz Baßler, das formale Wechselspiel der Ich-Perspektive verkennt und ungeachtet der poetischen Verfahren die biografische Wirklichkeit der Autorin mit der Romanfigur verschmelzen lässt.

Die weiteren, bislang unerwähnt gebliebenen, ebenfalls lesenswerten Beiträge sollen abschließend wenigstens kurz genannt werden – nicht zuletzt um das breite Spektrum der Zugänge zu verdeutlichen. So wird die sprachhistorische Perspektive durch Dorit Funkes Beitrag zum Gebrauch der Personalpronomen bei Catull, Vergil und Martial ergänzt; die soziolinguistische Studie „Identitätsarbeit mit Pronomen in Einstellungsinteraktionen“ von Evelyn Ziegler analysiert auf der Basis eines breiten Interview-Korpus mit (post)migrantischen mehrsprachigen Sprecher:innen pronominale Strategien für die Formulierung von Einstellungen in Bezug auf Gruppenzugehörigkeiten; Georg Toepfer untersucht in historisch-vergleichender Perspektive den Gebrauch von Personalpronomen in Tierenzyklopädien; Anna Lenz widmet sich dem „versteuerten Ich“ in Elfriede Jelineks Angabe der Person (2022) und arbeitet prägnant die Funktion der Pronomen im Machtdispositiv bürokratischer Steuererfassung heraus. Abgeschlossen wird der Band durch ein Gespräch des Mitherausgebers Sebastian Schönbeck mit Marcel Beyer über dessen Roman Flughunde (1995), mit besonderem Augenmerk auf den ‚Ich-Verzicht‘, der aus der Rückschau nach 30 Jahren des Erscheinens neu befragt wird.

In Breite und Tiefe stellt der Band einen fundamentalen Beitrag aus der Wissenschaft dar, historisch, analytisch und nicht zuletzt auch spielerisch in die diskursiven Verengungen und Verkürzungen zu intervenieren, von denen die gegenwärtigen Sprach- und Identitätspolitiken – so wichtig und notwendig sie sein mögen – geprägt sind. Der Band ist zugleich philologisch und politisch: philologisch, ohne sich im Elfenbeinturm zu verschanzen, politisch, ohne je in Ideologie abzugleiten. Gerade die sprachtheoretische Fundierung, auf die sich die Beiträge kritisch beziehen, schützt vor beiden Gefahren. Sie ermöglicht indessen, die Arbeit am komplizierten Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit immer wieder neu anzugehen. Die Leistung dieser philologisch-politischen Arbeit besteht darin, allzu schnelle Identifikationen, Bedeutungszuschreibungen und sonstige ontologische Kurzschlüsse aufzuhalten. Sie bringt das Uneindeutige, Schillernde, Gleitende, Wechselhafte zur Geltung, hält es offen und lebendig. Dass dies nicht zwangsläufig dazu führt, dass ein Theorie-Feuerwerk abgefackelt wird, in dem sich alle Identitäten und Positionen in Luft auflösen würden, auch davon zeugt der Band. Viele Beiträge sprechen den Affekt der Angst an, der mit pronominalen Koalitions- und Distinktionsbildungen verbunden ist, und haben auch Situationen im Blick, in denen der „Luxus eines spielerischen Umgangs mit Identität“ nicht gegeben ist, weil etwa, wie Erik Martin bezüglich des von ihm analysierten Romans Morphin (2013) von Szczepan Twardoch feststellt, die erzählte Kriegssituation des Jahres 1939 im von den Deutschen zerstörten und besetzten Warschau dies nicht zulasse. Pronominale Setzungen können auch apodiktisch sein, um nicht zuletzt auch von den Leser:innen oder – in mündlichen Situationen – dem Gesprächsgegenüber einen moralischen Standpunkt einzufordern. Manchmal ist das unvermeidlich. Wichtig bleibt jedoch, dass eben solche Sprechakte in ihrer Situativität und Kontextualität betrachtet und reflektiert werden.

‚Wechsel der Töne‘ – mit dieser an Friedrich Hölderlin angelehnten Formulierung möchte ich dem lesenswerten Band, an den künftige Forschungen zu Sprache und Identität in jedem Fall anknüpfen sollten, noch eine weitere Dimension der Wechselwörter vorschlagen.

Online erschienen: 2025-11-05
Erschienen im Druck: 2025-11-04

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 7.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/arcadia-2025-2017/html
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