Beyond Storytelling. Narrative Ansätze und die Arbeit mit Geschichten in Organisationen
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Stefan Konlechner
Reviewed Publication:
Jacques Chlopczyk (Hg.): Beyond Storytelling. Narrative Ansätze und die Arbeit mit Geschichten in Organisationen. Wiesbaden: Springer Gabler 2017, 332 Seiten. ISBN: 978-3-662-54156-2, € 34,99
Geschichten stellen in Organisationen ein bedeutsames Medium dar. Sie steuern die Sinnzuschreibungen und Handlungen von Akteuren und ermöglichen das Erinnern. Geschichten spielen damit eine zentrale Rolle für das Funktionieren des organisationalen Gedächtnisses sowie für das Aufrechterhalten und Weitergeben von Unternehmenskultur. Geschichten haben in Organisationen jedoch nicht nur eine stabilisierende Funktion; sie können darüber hinaus auch gezielt genutzt werden, um Interventionen zu setzen und Veränderungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen – von der individuellen Ebene über die Gruppe bis hin zur Gesamtorganisation – zu steuern. Einblicke darin, wie Geschichten im organisationalen Kontext wirken, können dementsprechend dabei helfen, das Funktionieren von Unternehmen besser zu verstehen.
In dem 332 Seiten starken Sammelband „Beyond Storytelling: Narrative Ansätze und die Arbeit von Geschichten in Organisationen“ finden sich 14 Beiträge, die sich eben diesem Ziel widmen, solche Einblicke zu liefern. Die teils in deutscher, teils in englischer Sprache verfassten Beiträge analysieren die Rolle von Geschichten für Organisationen aus unterschiedlichen Perspektiven. Die überwiegend konzeptionellen Beiträge sind durchgehend von wissenschaftsaffinen Autorinnen und Autoren aus den Bereichen Beratung, Training und Coaching verfasst, die auch untereinander in regem Austausch zu stehen scheinen. So fällt angenehm auf, dass in den einzelnen Beiträgen oftmals Querbezüge zu anderen Artikeln des Sammelbandes hergestellt werden. Den kleinsten gemeinsamen – und damit die Grundannahmen der Beiträge verknüpfenden – theoretischen Nenner bilden am ehesten die Arbeiten von Jerome Bruner, Edgar Schein und Karl Weick; wobei allgemein zu konstatieren ist, dass die Intensität der Ausführungen hinsichtlich des theoretisch-konzeptionellen Fundaments in den Beiträgen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.
Stil und Ausrichtung der Beiträge bieten jede Menge Abwechslung. So stehen flotte Essays neben Beiträgen, in denen theoriegestützt konzeptionelle Ideen zum Einsatz von Geschichten in Organisationen entwickelt werden, und solchen, in denen Beratungsmethoden vorgestellt und Anekdoten oder kurze Fallstudien aus der Unternehmenspraxis präsentiert werden. Nicht selten werden auch mehrere dieser Elemente kombiniert. Ohne Anspruch auf absolute kategorische Trennschärfe lassen sich aus Sicht des Rezensenten vier Hauptkategorien ausmachen, in die die Beiträge des Sammelbands fallen.
Erstens finden sich Aufsätze, die sich mit allgemeinen Aspekten von Geschichten in Organisationen auseinandersetzen. Den inhaltlichen Start in den Sammelband macht beispielsweise ein knappes und stimmungsvolles Essay von Hans Geisslinger über die allgemeine Bedeutung und Reichweite von Geschichten für menschliches Erleben und Erinnern. Im Anschluss erörtert Simon Weber auf Basis der Grundzüge narrativer Psychologie die Frage, wie Geschichten wirken. Aufbauend auf der Konzeptualisierung des Menschen als ‚homo narrans’ und auf Weicks Modell des Sensemaking in Organisationen wird dabei eine Brücke von individueller zu organisationaler Sinnstiftung geschlagen. Jacques Chlopczyk stellt in seinem Beitrag die konzeptionellen Wurzeln ‚Geschichten erzählender’ Organisationen vor und analysiert die möglichen Funktionen von Geschichten in Unternehmen. Der Beitrag endet mit einer Diskussion der Rolle von Geschichten im Rahmen organisationalen Wandels, wobei hier insbesondere auf die Differenzierung zwischen episodischem und kontinuierlichem Wandel eingegangen wird. Insbesondere dieser Artikel überzeugt durch gedankenanregende Ideen, deren weitere Verfolgung durchaus Potenzial für eine Fortsetzung der im Beitrag erzählten Geschichte bietet. Gleichzeitig ist er durch die Thematisierung organisationalen Wandels an der Schnittstelle zur nächsten Kategorie an Beiträgen positioniert.
Zweitens beinhaltet der Sammelband Aufsätze, in denen die Rolle von Geschichten für Unternehmenskulturen und deren Wandel thematisiert wird. Ute und Hannah Clement beschäftigen sich in ihrem Aufsatz mit einem besonderen Typus von Geschichten in Organisationen, indem sie dem Phänomen der Gründungsmythen auf den Grund gehen. Mit dem Zusammenspiel zwischen Geschichten, Identität und Unternehmenskultur setzt sich Wolfgang Tonninger auseinander. Der Beitrag spannt dabei einen Bogen von der individuellen Ebene und dem Arbeiten mit Geschichten im Rahmen des Coachings bis zur organisationalen Ebene und dem Arbeiten mit Geschichten im Rahmen von Kulturentwicklungsprozessen. Einen praktisch orientierten, methodischen Beitrag liefert Stephanie Bachmair, die in ihrem Artikel zu ‚storywork’ unterschiedliche Ansätze und Tools vorstellt, wie das dialogische Arbeiten mit Geschichten in der Arbeit mit Organisationen bzw. deren Entscheidungsträgern eingesetzt werden kann. Hans Geisslinger und Stefanos Pavlakis widmen sich der Frage, wie die Transformation von Organisationen und Kulturen gelingen kann. Am Beispiel einer Fallstudie zeigen sie, wie Lernkontexte geschaffen werden können, die die Veränderung eingeschliffener Denkmuster fördern. Nina Trobisch stellt in ihrem Beitrag das ‚Heldenprinzip’ vor. Dieses fußt auf theaterwissenschaftlichen Einsichten zu dramaturgischen Abläufen und verknüpft diese mit der Thematik organisationaler Veränderung. Die im Artikel ausführlich durchdeklinierte Analyse von Veränderung als Ablauf von Akten und Szenen bringt frischen konzeptionellen Wind in die Artikelsammlung.
Drittens setzen sich Aufsätze mit der Rolle von Geschichten für Führung in Organisationen auseinander. Chené Swart analysiert die Rolle von Narrativen für das Verstehen von Organisationen und fokussiert dabei vor allem auf die Rolle von Führung und Führungskräften beim aktiven Gestalten solcher Narrative. Angelica Marte, Michael Müller und Josef Wieland erörtern in ihrem Beitrag narrative Perspektiven auf Führung und Führungskräfteentwicklung. Aufbauend auf einer Analyse des aktuellen Standes von Ansätzen zu Führung und Führungsentwicklung in Organisationen wird argumentiert, dass hinter Führungskräfteentwicklungsprogrammen selbst Narrative stehen, die deren Verarbeitung in der Organisation beeinflussen.
Viertens finden sich solche Aufsätze in dem Sammelband, die sich mit relevanten Spezialaspekten der Arbeit mit Geschichten in Organisationen befassen. Joanna Sell fokussiert auf die Rolle des Storytellings für das – in der heutigen global vernetzten Welt immer bedeutsamer werdende – interkulturelle Verständnis. Dabei illustriert sie anhand konkreter Beispiele aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten Herausforderungen der interkulturellen Verständigung und zeigt, wie Methoden des Storytelling das Verständnis neuer Kulturen fördern können. Der Beitrag von Marco Ruckenbrod beschäftigt sich mit Narrationen als Kitt in den Beziehungen zwischen Menschen und Marken. Mit narrativen Methoden der Weitergabe von Wissen beschäftigt sich Christine Erlach. Ein spezieller Fokus wird dabei auf die Artikulierung und Weitergabe besonders wettbewerbskritischen impliziten Wissens gelegt. Yannis Angelis schließlich blickt mit einer narrativen Linse auf die Implementierung von E-Learning-Kontexten in Unternehmen.
Insgesamt fügen sich die Beiträge gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit zu einem abgerundeten Gesamtwerk zusammen, das einen umfassenden Blick auf Phänomene des Storytellings und Storyworkings in Organisationen ermöglicht. Als kleiner Wermutstropfen könnte konstatiert werden, dass es – aus Perspektive des Rezensenten – bisweilen schien, als sei die eine oder andere der Geschichten noch etwas unvollendet geblieben. Ein wenig mehr Mut, den Beitrag der Aufsätze auf den Punkt zu bringen, hätte den Erkenntniswert mancher Artikel womöglich nochmals steigern können. Sammelbände, in denen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlagen wird, bergen zudem immer die Gefahr, „zwischen den Stühlen“ positioniert zu sein und die teils diversen Ansprüche dieser unterschiedlichen Subsysteme nicht verbinden zu können. Dies ist hier nicht der Fall. Im Gegenteil. „Beyond Storytelling“ überzeugt mit spannenden Ideen und faszinierenden Geschichten und wird reflektierte Praktikerinnen und Praktiker ebenso ansprechen wie praxisinteressierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. In diesem Sinne sei ein Blick in diesen Sammelband allen bedenkenlos ans Herz gelegt, die mehr über das Arbeiten mit Geschichten in Unternehmen lernen möchten. Ein umfangreicheres praktisches Nachschlagewerk wird schwer zu finden sein.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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