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Nachleben neu denken: Homer und kollektives Gedächtnis

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Published/Copyright: September 10, 2025
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1. Nachleben

Als Bruno Snell den ersten Band der Zeitschrift Antike und Abendland kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges herausgab, wählte er als Untertitel «Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens». Obwohl diese Zeitschrift seit 2024 auf Snells Untertitel verzichtet, soll es im Folgenden noch einmal um das Konzept des ‹Nachlebens› – bzw. um Optionen seiner zeitgemäßen Aktualisierung – gehen.[1] Als weit verbreitete Denkfigur im frühen 20. Jahrhundert (in der Altphilologie, bei Walter Benjamin und in der Warburg-Schule) stand ‹Nachleben› für das Interesse an der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart.[2] Dabei ging es auch darum, komplexe Temporalitäten und diverse Erscheinungsformen der Gegenwart des Vergangenen zu beschreiben, von expliziten Rückgriffen auf die als solche konstruierte ‹Geschichte› bis hin zum impliziten Weiterwirken von Materialitäten und Erfahrungen der Vergangenheit.

Das internationale Feld der Memory Studies widmet sich solchen Fragen seit etwa zwei Jahrzehnten wieder verstärkt, nicht selten mit dem Begriff der afterlives.[3] Ziel dieses Beitrags ist es, die Präsenzen der Antike in sich wandelnden Gegenwarten als Effekt von Dynamiken des collective memory zu fassen – und dabei auch zu zeigen, wie die aktuellen Memory Studies innovative Zugänge zum notorisch vagen Begriff des Nachlebens eröffnen können.

Mein Beispiel ist die homerische Dichtung und insbesondere die Odyssee. Bei der Odyssee handelt es sich um einen der über die Jahrtausende hinweg wohl am stärksten rezipierten antiken ‹Texte›[4] und um ein Beispiel für einen Erinnerungsgegenstand von nahezu globaler Reichweite, ein «travelling memory».[5] Das weltweite Nachleben der Odyssee gibt auch Anlass dazu, das ‹Abendland› im Titel der von Snell gegründeten Zeitschrift zu überdenken, und zwar nicht nur in unserem Zeitalter der Globalisierung, sondern (wie am Ende des Artikels argumentiert wird) bereits mit Blick auf die Aneignung von Homer als ‹erstem Dichter des Abendlands› im ausgehenden Mittelalter.[6]

2. Rezeption, Transformation, Erinnerung

Was im frühen 20. Jahrhundert noch eng verschränkt war – Interesse an Antikenzeption und an kollektivem Gedächtnis (wie wir es etwa bei Friedrich Nietzsche oder bei Aby Warburg finden) – hat sich mittlerweile auseinanderentwickelt. Vereinfachend kann man sagen, dass die heutige Forschung zum kollektiven Gedächtnis (in den Memory Studies) ohne die Antike auszukommen scheint, während die Forschung zur Antikenrezeption (in den anglophonen Classical Reception Studies sowie in Studien zu «Transformationen der Antike» im deutschsprachigen Raum) ohne Gedächtnistheorie arbeitet. Ziel dieses Beitrags ist es auch, diese benachbarten Felder, in denen Phänomene des Nachlebens adressiert werden, wieder miteinander ins Gespräch zu bringen.

Classical Reception Studies, historische Transformationsforschung und Memory Studies decken mit unterschiedlichen begrifflichen und methodologischen Akzentuierungen sich überlappende Terrains ab – was Erkenntnisinteresse, Problembewusstsein und teils auch Material angeht.[7] Bislang gibt es jedoch kaum wissenschaftliche Arbeiten, die versuchen, diese neueren Zugänge zur Gegenwart der Vergangenheit zusammenzuführen.[8] Im Folgenden werden am Beispiel der homerischen Odyssee und aus der Perspektive der Memory Studies kommend einige konzeptionelle Voraussetzungen für ein ‹Aufeinandertreffen› von Erinnerungs-, Rezeptions-, und Transformationsforschung erörtert.

Den drei Feldern liegt ein sehr ähnliches Erkenntnisinteresse zugrunde – jene Frage nach der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, die bereits Bruno Snell bewegte.[9] Die Felder versuchen, neue Zugänge zu der alten Frage zu entwickeln, wie Texte und Ereignisse der Vergangenheit in der Gegenwart ‹ankommen› und aus sich verändernden Gegenwarten heraus immer wieder neu konstituiert werden.

Temporalitäten stehen damit im Zentrum des Interesses, und die Entwicklung von komplexeren Perspektiven auf Zeitverhältnisse ist ein zentrales Anliegen. So betonen alle genannten Felder (viel stärker als zuvor die Geschichtstheorie, die Altertumswissenschaften und frühere Formen der Rezeptionsforschung), dass alte Texte und historisches Geschehen nicht ‹stabil› sind, sondern unablässig konstruiert und rekonstruiert werden. Es geht um eine Sensibilisierung für die Dynamik der Vergangenheit und die nicht-linearen Formen ihrer Bewegungen und Resonanzen durch die Zeit hindurch.[10] Was die hier diskutierten Felder von früheren Formen der Einflussstudien zudem unterscheidet, ist die außerordentliche Bedeutung, die sie dem späteren, dem ‹sekundären›, scheinbar ‹derivativen› Werk beimessen, von dem aus sie ‹rückwärts lesen›.[11]

Die Felder grenzen sich dabei strategisch von dem als ihr ‹Anderes› Konstruierten ab – etwa von ‹der klassischen Tradition› und ‹der Geschichte›. Gemeint sind damit Konzepte und akademische Praktiken des Bezugs auf Vergangenheit, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebten, in den damals neuen Disziplinen der Geschichts- und Altertumswissenschaften.[12] Die ‹klassische Tradition› und ‹die Geschichte› (beide im Singular und in Großbuchstaben zu denken) stehen für eine Reihe vereinfachender Vorstellungen, insbesondere für das Konzept einer ‹abgeschlossen Vergangenheit›,[13] deren beste Erzeugnisse wie ein kostbarer «Goldklumpen»[14] als Erbstück problemlos von Generation zu Generation weitergereicht werden.

Eine Verschiebung des Blickwinkels – vom ‹Original› oder ‹Ereignis› auf Prozesse seiner retrospektiven Konstruktion und Aneignung durch Akteure in sich verändernden Gegenwarten – ist der eigentliche Ausgangspunkt für die hier diskutierten Ansätze. So untersucht die Gedächtnisforschung nicht nur den Holocaust von 1941–1945, sondern den Holocaust, wie er erinnert (oder vergessen, verleugnet, aufgearbeitet) und zum prägenden Ereignis des vergangenen Jahrhunderts wurde.[15] Die Classical Reception Studies analysieren nicht die homerische Odyssee, sondern ihre Rezeptionen und Transformationen – von der Antike bis zur Gegenwart, in verschiedenen Zeiten, Kulturen und Medien – die sie zum Gründungstext der ‹westlichen Literatur› gemacht haben.

Meine Beispiele verweisen bereits auf eine zentrale Beschränkung der Memory Studies: Die aktuelle Forschung zum kollektiven Gedächtnis konzentriert sich weitgehend auf Ereignisse und Erinnerungspraktiken des 20. und 21. Jahrhunderts (vom Holocaust über 9/11 bis zur Coronavirus-Pandemie). Neuere Studien zu Erinnerung an Kolonialismus und Sklaverei haben den Fokus einige Jahrhunderte weiter vorverlagert. Mit der Diskussion des Anthropozäns öffnet sich zudem die geologische deep time für die Gedächtnisforschung.[16] Aber das Potential und die Vision einer zeitenübergreifenden Forschung zum kollektiven Gedächtnis – wie sie insbesondere in Jan und Aleida Assmanns Forschung vom alten Ägypten bis zum modernen Europa repräsentiert ist[17] – ist bislang nicht ‹eingelöst› worden (um Martindales Begriff des redeeming auf die Wissenschaftsgeschichte anzuwenden, die ebenfalls ein Rezeptionsphänomen ist).[18] Gerade in dieser Hinsicht können historische Transformationsforschung und Classical Reception Studies eine Inspiration für die Memory Studies sein, denn sie zeigen an zahlreichen Beispielen, wie sich Gedächtnisgeschichten über Jahrtausende erstrecken können. Welche neuen Akzente ein an der aktuellen Gedächtnisforschung geschulter Blick in den Feldern der Antikenrezeption setzen könnte, soll im Folgenden diskutiert werden.

3. Was heißt ‹kollektives Gedächtnis› heute?

Kollektives Gedächtnis (collective memory) ist der Schlüsselbegriff der anglophon geprägten Memory Studies, die sich als internationales und interdisziplinäres Feld vor etwa zwei Jahrzehnten konstituiert haben.[19] Der gewichtigste Beitrag zu den Memory Studies aus dem deutschsprachigen Raum ist Aleida und Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Eingeflossen sind in das Feld aber auch die französische Diskussion um lieux de mémoire, die amerikanische Gedächtnissoziologie und Holocaustforschung, lateinamerikanische Arbeiten zu memoria histórica, die britische Oral History, die Erfahrungen mit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission sowie zahlreiche weitere Ansätze, die heute von archipelagischer Erinnerung auf den Philippinen bis zum deep time im indigenen Australien reichen.

Das Feld sieht seinen Ausgangspunkt im frühen 20. Jahrhundert, als die sozialen und materialen Dimensionen des Erinnerns erstmals systematisch untersucht wurden. Maurice Halbwachs prägte den Begriff des kollektiven Gedächtnisses in seinen Arbeiten zu la mémoire collective.[20] Aby Warburg beschäftigte sich mit dem «sozialen Gedächtnis» der Kunst.[21] Mittlerweile sind auch die Beiträge von Sigmund Freud, Walter Benjamin, Karl Mannheim, Frederic Bartlett, Lev Wygotski und zahlreichen weiteren Forschenden des frühen 20. Jahrhunderts für unser Verständnis von kollektivem Gedächtnis erschlossen worden.[22]

Memory ist eine Abkürzung für collective memory.[23] Bei ‹Uneingeweihten› mag der Begriff eher reduktive Assoziationen zu rein individuellen Erinnerungsprozessen wecken. Tatsächlich geht es jedoch sowohl um die biologischen und mentalen als auch um die sozialen, kulturellen, medialen und materialen Dynamiken gegenwärtiger Vergangenheiten. Der Wahl des Begriffs memory als Kurzform für collective (oder: cultural, social, distributed etc.) memory hat eine programmatische Dimension. Ganz im Sinne von Halbwachs wird damit auf die Tatsache hingewiesen, dass Gedächtnis niemals ausschließlich ein neuronales oder mentales Phänomen ist, sondern stets aus dem Zusammenwirken von Körper und Geist mit sozialen Gruppen, Institutionen, materieller Kultur und medialen Formen (von Pyramiden und Papyri über gedruckte Texte und Filme bis hin zu sozialen Medien) entsteht. Deshalb hat es eigentlich keinen Sinn, begrifflich zwischen memory und collective memory zu unterscheiden.[24]

Das kollektive Gedächtnis ist ein relationales Gedächtnis. Was die verschiedenen Ansätze zum kollektiven Gedächtnis heute verbindet, ist die Überzeugung, dass es sich um ein verteiltes Phänomen handelt, das neuronale, mentale, soziale, materiale sowie menschliche und mehr-als-menschliche Dimensionen aufweist. Erst aus der Interaktion dieser verschiedenen Dimensionen gehen Erinnerungen hervor. Es sind emergente Phänomene.

Besonders interessant an der internationalen Gedächtnisforschung ist, dass sie geistes-, sozial- und naturwissenschaftliche Dimensionen hat. Vertreter*innen der Geschichtswissenschaften, Soziologie, Psychologie, Literatur- und Medienwissenschaften arbeiten gemeinsam zu Fragen des Erinnerns und Vergessens. Als ein ‹interdisziplinär geborenes› Feld weisen die Memory Studies daher einen großen methodischen Pluralismus auf, der es ermöglicht, verschiedene Phänomene und Dimensionen des Erinnerns in den Blick zu nehmen.[25]

Eine Memory Studies-Perspektive auf die Rezeption und Transformation antiker Texte wie der Odyssee wäre daran interessiert, den Blick zu weiten, d. h. erstens nicht nur Text-Text-Relationen zu untersuchen (wie es im Bereich der Classical Reception Studies hauptsächlich geschieht) und zweitens über den Gegenstandsbereich der Kulturwissenschaften (der die historische Transformationsforschung prägt) hinauszudenken. Die Perspektive der Memory Studies ermöglicht es, ein denkbar breites Spektrum von Erinnerungsakten (wie Lesen, Übersetzen, Verfilmen, Umschreiben, historische Analogien bilden, Museen errichten, die Odyssee als mentales Schema nutzen usw.) als emergente Phänomene des kollektiven Gedächtnisses zu begreifen, in dem kognitive, affektive, sozio-politische, institutionelle, medientechnologische und ökonomische Elemente interagieren – und das zudem stets durch vorgängige Erinnerungsakte («the memory of memory»[26]) geprägt ist.

4. Die Odyssee als Gedächtnisgeschichte

Aus der Perspektive der Memory Studies wird Nachleben greifbar in und als Gedächtnisgeschichte. Das Nachleben der homerischen Odyssee ist in diesem Sinne ein sich über tausende von Jahren erstreckender Gedächtnisprozess. Bei den homerischen Epen handelt es sich wohl um das am stärksten erinnerte antike narrative Material. Daher widmen sich auch zahlreiche grundlegende Studien den unzähligen Homer-Kommentaren, intertextuellen Bezügen, Übersetzungen und Adaptionen – wie wir sie bei Platon, Zenodot, Vergil, Dante, Johann Heinrich Voß, James Joyce, Stanley Kubrick oder Derek Walcott finden.[27] Genau diese Erinnerungsdichte macht die homerischen Epen zu einem idealen Fall, um Erinnerungsprozesse zu beobachten.

Bei dem Nachleben der Odyssee handelt es sich um das, was Jan Assmann in Moses der Ägypter als ‹Gedächtnisgeschichte› definiert hat.[28] Assmanns Studie aus dem Jahr 1998 wird aus der Rückschau als erster Brückenschlag zwischen Classical Reception Studies, historischen Transformationsstudien und Memory Studies (allesamt avant la lettre) erkennbar. Gedächtnisgeschichte definiert Assmann folgendermaßen:

Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es der Gedächtnisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird.[29] Sie untersucht die Pfade der Überlieferung, die Netze der Intertextualität, die diachronen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Lektüre der Vergangenheit. Gedächtnisgeschichte steht nicht im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, sondern bildet einen ihrer Zweige wie auch Ideengeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte oder Alltagsgeschichte. Sie hat jedoch einen eigenständigen Ansatz, indem sie bewußt die synchronen Aspekte ihres Untersuchungsgegenstandes abblendet zugunsten der diachronen oder vertikalen Linien der Erinnerung. Sie konzentriert sich auf jene Aspekte der Bedeutung oder Relevanz, die das Produkt der Erinnerung im Sinne einer Bezugnahme auf die Vergangenheit sind und die nur im Lichte späterer Rückgriffe und Lektüren hervortreten. In dieser Hinsicht könnte man Gedächtnisgeschichte als auf die Geschichte angewandte Rezeptionstheorie definieren.[30]

Jan Assmanns ‹Gedächtnisgeschichte› wird in den Memory Studies heute als mnemohistory erforscht.[31] Dabei geht es oft um langwellige Prozesse des Erinnerns und Vergessens, die als longue durée-Phänomene verstanden werden.[32]

Welche Fragen stellen sich, wenn man die Rezeptions- und Transformationsgeschichte der Odyssee mit dem konzeptuellen Repertoire der Memory Studies als Gegenstand einer longue durée mnemohistory begreift? Bereits Jan Assmann hat die normativen und formativen Funktionen der Erinnerung an die homerischen Epen im antiken Griechenland thematisiert und gezeigt, wie durch wiederholte Erinnerungsakte (etwa bei den Panathenäischen Spielen) kollektive Identitäten und geteilte Normen und Werte produziert sowie immer wieder aktualisiert wurden.[33]

Neuere, medienkulturwissenschaftlich geprägte Ansätze in den Memory Studies untersuchen, wie ‹Remedialisierung› (remediation)[34] bestimmte Erinnerungen durch die Zeit hindurch stabilisiert und zugleich gemäß der Affordanzen neuer Medien verändert. Mit ihrem Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit sind die homerischen Epen wohl das berühmteste Beispiel für diesen Prozess. Buchdruck, Übersetzungen, Film-Adaptionen gehören ebenfalls zum Spektrum der Remedialisierung. Die Odyssee auf YouTube und TikTok zählen zu den rezentesten Formen der Remedialisierung. Die in den Classical Reception Studies neuerdings untersuchten Verfilmungen, Bühnenversionen oder Videospiele sind damit auch Beiträge zum Verständnis der Remedialisierung von Erinnerung.[35]

Remedialisierung ist eine Form des Nachlebens. Gerade die homerischen Epen zeigen zudem, dass Erinnerungsprozesse nicht nur nach, sondern bereits vor dem Text oder Ereignis am Werk sind. Denn Ilias und Odyssee sind nicht nur Gegenstand, sondern auch Medien der Erinnerung. Sie werden erinnert, aber sie erinnern auch selbst – an Mythen, die viele hundert Jahre vor ihrer Niederschrift in Griechenland und Vorderasien zirkulierten. In der Sprache der Memory Studies: Ilias und Odyssee sind damit ‹mnemonisch prämedialisiert› durch ältere Erinnerungsmedien, zu denen orale Traditionen, aber auch das Gilgamesch Epos oder mündliche Seefahrergeschichten gehören könnten.[36]

Prämedialisierung verweist also auf eine Art mediales ‹Vorleben›. Ein (imaginiertes) Vorleben kann Nachleben prägen. (Für Joyce’s Ulysses war der ‹semitische Seefahrer› wichtiger als der griechische Held.[37]) Und Nachleben kann zum Vorleben neuer und anderer Erinnerungen werden. Man denke etwa an die Aeneis, die sich deutlich als durch die Odyssee prämedialisiert zeigt; aber auch an Daniel Mendelsohn, der seine Erinnerungen an den Vater mit der Odyssee als prämedialisierendem Schema erzählt (An Odyssey: A Father, a Son and an Epic, 2017), oder an die Verwendung des Odyssee-Schemas im Zusammenhang mit der sogenannten ‹Flüchtlingskrise› in Europa (z. B. Patrick Kingsleys The New Odyssey, 2016).[38]

Zu den weiteren typischen Fragen der Memory Studies (die am Ende dieses Beitrags am Beispiel der Homer-Rezeption im Mittelalter genauer diskutiert werden) gehören die nach dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen auf kognitiver und sozialer Ebene, nach der Dynamik des transkulturellen Gedächtnisses, nach Erinnerbarkeit (memorability) bzw. erinnerungskultureller Resonanz bestimmter Texte und Ereignisse sowie nach der Generativität und prämedialisierenden Wirkung bestimmter Akte des Erinnerns und Vergessens.

5. Ereignisse in Bewegung und temporale Multidirektionalität

Was erinnerte Phänomene eigentlich sind, konstituiert sich maßgeblich im Erinnerungsprozess. Denn ‹der Originaltext› oder ‹das historische Ereignis› sind schwer fassbare Phänomene. So erscheint der 11. September 2001 zwar als ein klar datierbares Ereignis, bei genauerer Betrachtung (Vorgeschichte, Nachwirkungen, Reinterpretationen) erweist er sich aber, wie die Soziologin Robin Wagner-Pacifici argumentiert, als ein hochgradig ‹mobiles Ereignis›.[39] Die homerischen Epen sind ebenfalls ein solches Ereignis in Bewegung. Es gibt für sie, wie der Altphilologe Gregory Nagy zusammenfassend darstellt, weder eine identifizierbare ‹Original›-Version noch einen klar bestimmbaren Moment im Übergang von einer ausschließlich mündlichen performativen Tradition zu einer textuellen Tradition.[40]

Diese Einsicht führt zur Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit vom Ereignis auf Prozesse zu lenken – auf die Frage, wie Texte und Geschehnisse im Nachhinein konstruiert, mit Bedeutung versehen, rezipiert, erinnert und angeeignet werden, und zwar (mit einem Begriffspaar des Soziologen Jeffrey K. Olick) durch Erinnerungspraktiken und -produkte.[41] In diesem Sinne zeigt Graziosi in Inventing Homer, wie Homer als Dichterfigur bereits in der frühen Antike (6.–4. Jh. v. Chr.) Gegenstand zahlreicher Erinnerungs-Praktiken und -Produkte war (die sie «early receptions» nennt), von den Vorträgen der Rhapsoden bis zu den Vitae (den frühen Homer-Biographien aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr.).[42]

Die erinnerungskonstitutiven Akte der Auswahl, (Neu)kombination und Deutung finden nicht nur einmal statt, sondern immer und immer wieder. Platon, Aristoteles, Vergil oder Lukian von Samosata aktualisierten die homerischen Epen jeder auf seine Weise. Dasselbe gilt für Dares und Dictys, Petrarca, George Chapman, François Fénelon, Madame Dacier, Victor Bérard, James Joyce oder Margaret Atwood. Erinnerung ist ein unabschließbarer Prozess.[43] Aber wie ist das Verhältnis zwischen dem Akt des Erinnerns und dem Erinnerten sowie zwischen älteren und neueren Erinnerungen zu modellieren?

Maurice Halbwachs beschreibt den Erinnerungsprozess in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Les cadres sociaux de la mémoire, 1925) folgendermaßen:

[D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet.[44]

Halbwachs weist auf das hin, was die Neurowissenschaften heute als Rekonsolidierung des Gedächtnisses bei jedem Abruf bezeichnen würden. Gedächtnisinhalte sind Konstrukte aus der und für die Gegenwart. Sie verändern sich mit jedem Akt der Erinnerung. Dabei gibt es Pfadabhängigkeiten (frühere Rekonstruktionen bereiten spätere Rekonstruktionen vor).[45] Es gibt aber gerade bei viel erinnerten Inhalten auch Sprünge (das Vergessen oder Ignorieren bestimmter Erinnerungsstränge) sowie mehrsträngige mnemohistories. Für alle drei Formen des Erinnerungsprozesses bietet Homer im Mittelalter Beispiele, wie noch zu zeigen sein wird.

Im Feld der Classical Reception Studies finden sich ähnliche Denkfiguren. Rezeptionen werden als fortwährende ‹Dialoge› mit der Vergangenheit verstanden.[46] Julia Gaisser argumentiert, dass klassische Texte «not only moving but changing targets»[47] seien. Für Lorna Hardwick ist jeder Rezeptionsakt ein «two-way relationship»[48], bei dem sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit neu gestaltet werden:

It used sometimes to be said that reception studies only yield insights into the receiving society. Of course they do this, but they also focus critical attention back towards the ancient source and sometimes frame new questions or retrieve aspects of the source which have been marginalized or forgotten.[49]

Für diese Ko-Konstruktivität von Gegenwart und Vergangenheit hat der Berliner SFB «Transformationen der Antike» den Neologismus der «Allelopoiese» eingeführt (von griechisch allelos ‹gegenseitig, wechselseitig› und poiein ‹machen›). Dieser Begriff soll die wechselseitige Hervorbringung von «Aufnahme- und Referenzkultur» akzentuieren.[50] Mit den Begriffen von Reinhart Koselleck: ‹Gegenwärtige Vergangenheiten› und ‹vergangene Gegenwarten› stehen in einem ko-konstitutiven Verhältnis.[51]

Eine Memory Studies Perspektive würde hinzufügen, dass jedem Akt der Erinnerung zudem (implizit oder explizit) eine Vision für die Zukunft, ein future thinking,[52] innewohnt. Denn kollektives Gedächtnis operiert nicht ausschließlich vergangenheitsbezogen, sondern es handelt sich um ein Remembering-Imagining-System,[53] in dem der enge Zusammenhang von Erinnern der Vergangenheit und Imaginieren der Zukunft bis auf die hirnorganische Ebene beschreibbar ist. Die als «bi-direktional»[54] beschriebene Allelopoiese ist tatsächlich als temporal multidirektionaler Prozess zu verstehen, in dem neben unterschiedlichen Formen der Präsenz von (rekonsolidiertem) Vergangenem in jeweiligen Gegenwarten auch Vorstellungen von der Zukunft Wirkung entfalten.[55]

6. Odyssee 2020: Praktiken der Hoffnung

Als Beispiel für die Zukunftsorientierung des kollektiven Gedächtnisses sei ein kurzer Blick auf aktuelle Formen der Homer-Erinnerung in der englischsprachigen Welt geworfen. Die von Hardwick erwähnten ‹marginalisierten oder vergessenen Aspekte› der homerischen Epen werden derzeit intensiv diskutiert. Dabei handelt es sich insbesondere um Fragen zu Gender und zu Sklaverei. Neue Übersetzungen wie Emily Wilsons The Odyssey (2018) und The Iliad (2023) sowie die literarischen Bestseller von Pat Barker (The Silence of the Girls, 2018) und Madeleine Miller (The Song of Achilles, 2011) ermöglichen es heutigen Leser*innen, darüber nachzudenken, ob Odysseus’ ‹treulose Mägde› eher als ‹Sklavinnen› zu betrachten wären oder ob das Lager der ‹edlen Griechen› genauer als ‹Vergewaltigungslager› bezeichnet werden müsste (als «rape camp», wie es Barker in ihrem Roman ausdrückt).[56]

Bei Emily Wilson kommt dabei Übersetzungsgeschichte als eine eigene Form der Gedächtnisgeschichte in den Blick.[57] Im Vorwort zu ihrer Neuübersetzung der Odyssee deckt Wilson eine moderne Übersetzungsgeschichte auf, die Odysseus’ dmoe (Wilson zufolge ‹weibliche Haussklavinnen›) über die Jahrhunderte hinweg immer wieder entweder euphemistisch als ‹Mägde› oder herabwürdigend als ‹Prostituierte› und ‹Schlampen› wiedergab.[58] Die stilprägenden Übersetzungen von Mme Dacier und Alexander Pope gehören dazu.[59]

Auf diese Weise werden die zwölf jungen Frauen, die von Telemachus am Ende der Odyssee, in Buch 22, auf grausame Weise erhängt werden, in einem Rahmen verortet, der das Wissen um ihren bedauernswerten Status als Sklavinnen auslöscht. Für die Leserschaft ist ihr Leben daher (in Judith Butlers Worten) «nicht beklagenswert».[60] Mit jeder neuen Übersetzung, die auf diesen bestehenden Gedächtnisrahmen zurückgreift (und für das Englische können mindestens ein Dutzend davon aufgezählt werden), hat sich diese falsche Erinnerung weiter konsolidiert. Die Tatsache, dass die homerischen Epen bis heute kanonische Referenztexte in der anglophonen Welt sind, verleiht diesem misogynen Blick normative Kraft.

Wilson versteht ihre Aufgabe als Übersetzerin darin, sich von solchen (oft nicht bewussten) prämedialisierenden Erinnerungsakten zu lösen. Die Übersetzung wird dabei zur strategischen Gegenerinnerung (und zu einer Form von repair) und die Übersetzerin zur Erinnerungsakteurin. Ganz typisch für unsere heutigen ‹plurimedialen›[61] Erinnerungskulturen ist dabei, dass Wilson ihre Übersetzungsentscheidungen sowohl in ihrer «Translator’s Note» als auch auf Twitter diskutiert sowie auf YouTube inszeniert – und damit über die verfügbaren Medienplattformen hinweg kommuniziert.[62] Das ‹Original› (d. h. die mittelalterlichen Manuskripte, auf denen moderne kritische Editionen heute basieren) wird von Wilson neu perspektiviert, als ein Text, der sensibler mit dem Thema Sklaverei und dem Status versklavter Frauen an Odysseus’ Hof umgeht, als die moderne Übersetzungs-als-Gedächtnisgeschichte es vermuten ließe.

Dieses Beispiel für aktuelle Diskussionen um die Odyssee zeigt: Veränderungen in der Erinnerung der Vergangenheit ermöglichen Veränderungen in der Gegenwart und für die Zukunft. Es sind Praktiken der Hoffnung.[63] Dies ist ein interessanter Prozess, der aus wissenschaftlicher Distanz beobachtet und untersucht werden kann, zugleich aber auch etwas, in das die Wissenschaft selbst unauflöslich verwickelt ist. Daher bewegt sich jede wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit innerhalb eines Spektrums von analytisch ‹kalten› bis hin zu ethisch-normativ ‹heißen› Optionen der Forschung. In die Richtung des politisch engagierten ‹heißen› Pols verweisen beispielweise Studien zur postkolonialen Rezeption,[64] zu kolonialen und westlich geprägten Archiven und zum ‹Erinnerungsaktivismus›.[65] Gerade in den stark ethisch und gesellschaftspolitisch geprägten Memory Studies schwingt dabei die Hoffnung mit, durch die Auseinandersetzung mit problematischen Aspekten des kollektiven Gedächtnisses (Beispiel: dmoe) eine gerechtere Zukunft zu ermöglichen. Dies ist gepaart mit der Einsicht, dass bestimmte toxische Erinnerungsfiguren nicht einfach ohne eine Hinterfragung von bewussten und nicht-bewussten Praktiken der (kulturellen und wissenschaftlichen) Erinnerung verschwinden werden.

7. Homer im Mittelalter: Elemente einer Gedächtnisgeschichte

Emily Wilsons Übersetzungen und die neuere anglophone Romanliteratur mit ihren Homer-Remedialisierungen stehen am vorläufigen Ende eines Prozesses der Erinnerung an die homerischen Epen als fundierende Ereignisse des westlichen Europa, der im Mittelalter begann. Am Beginn seiner Studies in Text and Transmission of the Iliad stellt M. L. West fest: «If an adequate history of the medieval transmission of the Homeric Iliad is ever written, it will be a wonderful achievement, but a poor return for the substantial portion of a human life that its production will cost.»[66] Noch größere ‹Lebenszeit-Kosten› entstehen, wenn man in eine longue durée Perspektive investiert, die mittelalterliche Homer-Erinnerungen vorwärts und rückwärts mit antiken und modernen Erscheinungsformen einer über 2500 Jahre währenden Gedächtnisgeschichte verbindet.[67]

Als Bausteine einer longue durée Odyssean mnemohistory werden in den folgenden Abschnitten drei Beispiele für ‹(Nicht-)Präsenzen› von Homer im Mittelalter sowie deren Bedeutung für die gegenwärtige Homer-Erinnerung betrachtet. Die Frage lautet, was sichtbar wird, wenn wir mittelalterliche Homer-Rezeptionen ‹durch die Brille› der Memory Studies betrachten. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht eine kleine Auswahl der bekanntesten Erinnerungs-Akteure der homerischen Gedächtnisgeschichte: Petrarca, Dares und Dictys sowie Dante.

8. Petrarca: Soziales Vergessen und Transkulturelles Gedächtnis

Der ‹Fall Homer› im mittelalterlichen Westen ist ein Fall von sozialem Vergessen. ‹Vergessen› bedeutet aus der Perspektive der Memory Studies nicht, dass ein Aspekt der Vergangenheit in jedem Teil der Gesellschaft (oder mit Halbwachs: in jedem sozialen Rahmen) vergessen wäre, sondern dass in der Mehrheit der Gesellschaft kein Wissen über diese Vergangenheit verfügbar ist.[68]

Aleida Assmann hat mit der Unterscheidung von Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis auf einen wichtigen Mechanismus hingewiesen, der Vergessen in Schriftkulturen prägt: Was auf offizieller Ebene, im Kanon oder Mainstream nicht aktualisiert ist – also nicht (mehr) zum Funktionsgedächtnis gehört – kann doch im Speichergedächtnis (d. h. in verschiedenen Formen des Archivs) bewahrt werden und als «Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens» und als «Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels»[69] zu einem späteren Zeitpunkt wieder aktualisiert werden. Das Beispiel von Homer im Mittelalter zeigt zweierlei: erstens, dieser ‹Rettungsmechanismus› des kulturellen Gedächtnisses kann sogar in Schriftkulturen zusammenbrechen; zweitens, als Ressource und ‹Rettung› kulturellen Wissens kann transkulturelle Erinnerung auf den Plan treten.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches ging die Kenntnis der altgriechischen Sprache im mittelalterlichen Westeuropa mehr oder weniger verloren. Vom 6. Jahrhundert n. Chr. bis zum 14. Jahrhundert konnten 99 Prozent der westeuropäischen Bevölkerung kein Griechisch und hatten somit keinen direkten Zugang zum homerischen Epos.[70] Manuskripte der homerischen Epen waren so gut wie verschwunden, Übersetzungen ins Lateinische nicht existent.[71] Homer war nicht nur unverständlich, sondern auch unverfügbar.

Die vage Erinnerung an einen im Grunde ‹verlorenen Homer› war eine der treibenden Kräfte des frühen Humanismus. Petrarca schrieb 1360 in einem Brief an seinen Freund Boccaccio von einem «Homer, der, was uns betrifft, ein verlorener Autor ist»[72]. Mitte des 14. Jahrhunderts bedeutete das Projekt der Homer-Erinnerung einen sehr materiellen Akt: Zunächst musste ein griechisches Manuskript der homerischen Epen beschafft werden. Solche Manuskripte existierten fast nur noch im byzantinischen Reich, wo die Texte, im Gegensatz zum mittelalterlichen Westen, seit dem Ende der Antike aufbewahrt, studiert und kontinuierlich kopiert wurden. In den 1350er Jahren erhielt Petrarca ein solches Manuskript von einem Botschafter des byzantinischen Reiches. Gemeinsam mit Boccaccio organisierte und förderte Petrarca die erste Übersetzung der homerischen Epen ins Lateinische. Sie wurde 1366 von Leonzio Pilato fertiggestellt. Die Humanisten wurden damit zu ‹Gedächtnisunternehmern›,[73] die bereit waren, eine enorme ‹Investition› in das homerische Gedächtnis zu tätigen, sowohl in affektiver als auch in finanzieller Hinsicht.

Obwohl Leonzios Interlinearübersetzung holprig war und Petrarca enttäuschte, war sie doch ein wichtiger Anfang für den mit der Renaissance eine enorme Dynamik entwickelnden Prozess der Homer-Remedialisierungen: Neue Übersetzungen verwendeten frühere Übersetzungen; handschriftliche Manuskripte wurden in gedruckte Bücher umgewandelt – und die erste gedruckte altgriechische Version der homerischen Epen erschien 1488.[74]

Petrarcas Akt der Erinnerung wurde häufig, nicht zuletzt von den Humanisten selbst, als ‹Wiedergewinnung der Antike› für das Projekt der Moderne verstanden. Was die humanistische Tradition gerne vergaß, ist, dass diese Wiedergewinnung auf einem Akt der transkulturellen Erinnerung beruhte.[75] Petrarca und seine Freunde griffen über einen als kulturell und religiös empfundenen Abgrund hinweg und profitierten von einem Gedächtnis, das andere im Laufe der Jahrhunderte kuratiert hatten. Nur mit Hilfe der byzantinischen Erinnerungskultur konnte der europäische Westen in der Neuzeit eine literarische Genealogie konstruieren, die von Homer über Vergil zu Petrarca und zur klassischen Moderne reichte.

Heute werden solche «lateralen Dialoge»[76] zwischen Kulturen meist diskutiert, wenn es darum geht, Klassikerrezeptionen zu dezentrieren und postkoloniale Stimmen in die Diskussion mit einzubeziehen. Der Fall Petrarca zeigt, dass Westeuropa jedoch nicht umstandslos als das ‹natürliche Zentrum› der homerischen Gedächtnisgeschichte anzunehmen ist. Homer als «erster Dichter des Abendlandes»[77] oder als «Grundtext der europäischen Zivilisation»[78] ist ohne Akte transkultureller Erinnerung, ohne ‹Gedächtnishilfe› aus dem byzantinischen Osten nicht denkbar. Tatsächlich ist es ein stärker werdendes Anliegen zeitgenössischer Forschung, die byzantinischen Elemente in der homerischen Gedächtnisgeschichte aufzudecken und besser zu verstehen.[79] Dies ist auch ein Beispiel dafür, wie die Wissenschaft in die laufende ‹Arbeit am Gedächtnis› impliziert ist.[80]

9. Dares und Dictys: Abruf-induziertes Vergessen und Funktionen der Erinnerung

Was ab dem vierten oder fünften Jahrhundert in lateinischer Sprache verfügbar war – und damit genau in die Lücke stieß, die der Verlust der griechischen Sprache in Westeuropa hinterlassen hatte – waren zwei kurze antihomerische Prosaerzählungen über den Trojanischen Krieg: Dictys Cretiensis’ Ephemeris belli Troiani[81] und Dares Phrygius’ Acta diurna belli Troiani.

Beide Texte geben vor, Augenzeugenberichte zu sein. Beide behaupten, dass die homerische Version des Trojanischen Krieges falsch sei, da sie viele Jahrhunderte nach den Ereignissen aufgeschrieben worden sei. In den Texten werden Dictys, ein griechischer Soldat, der für Idomeneus gekämpft habe, und Dares der Phryger, ein (auch in der Ilias kurz erwähnter) trojanischer Priester, als ‹Autoren› vorgestellt. Beide Texte wurden erst in der frühen Neuzeit als Fälschungen entlarvt.

In einer Situation, in der der Zugang zu den homerischen Epen bald unmöglich werden würde, erlangten diese beiden Texte in Westeuropa den Status der einzigen maßgeblichen Berichte über den Trojanischen Krieg. Casey Dué stellt fest: «Dares and Dictys became the primary means of transmitting the story of Troy after the disappearance of the Greek language in western Europe».[82] Was ursprünglich möglicherweise als ironische und spielerische Gegenerzählung zu den homerischen Epen gedacht gewesen sein mag, wird im mittelalterlichen lateinischen Westen bald als das einzig maßgebliche Medium der Erinnerung an den Trojanischen Krieg verwendet.[83]

Der Fall von Dares und Dictys ist damit ein Beispiel für Vergessen durch selektives Erinnern bzw. für das, was Kognitionspsychologen heute als «retrieval-induced forgetting» (abrufinduziertes Vergessen) bezeichnen. Eng verwandte, aber nicht abgerufene Information wird am leichtesten vergessen. Dies ist ein kognitives Phänomen, das auch auf sozialer und kultureller Ebene Wirksamkeit entfaltet.[84]

Ihr authentisierender Stil und ihre erinnerungskulturelle Resonanz scheinen den Aufstieg der Erzählungen von Dares und Dictys begünstigt zu haben.[85] Der nüchterne Stil beider Texte schien für die mittelalterliche Leserschaft ihre Autorität als zuverlässige Gedächtnismedien zu unterstreichen. In The First Pagan Historian schreibt Frederic Clark über Dares:

Dares wrote up the war in dry, bare bones, quasi-journalistic prose; rejecting poetic flourishes, he promised to deliver the truth and nothing but the truth. His battlefield reports included precise casualty figures, and the squabbling gods of Homer’s Iliad were wholly absent from his dispatches.[86]

Die erinnerungskulturelle Wirkung dieser stilistischen Entscheidungen war dramatisch. Dares und Dictys, die man las, waren ‹Geschichte›. Homer, den keiner mehr lesen konnte, war ‹Literatur›. In The Ulysses Theme fasst W. B. Stanford zusammen: «These plain narratives were, it was believed, the bedrock of history. These were the authentic facts narrated by eye-witnesses in contrast with the poetic figments of Homer and Virgil».[87]

Zudem standen die Erzählungen von Dares und Dictys mit dem mittelalterlichen Erinnerungsregime in Einklang, in dem der Trojanische Krieg als Gründungsmythos fungierte. Im mittelalterlichen Westen folgten die Könige dem Beispiel Vergils und Roms und konstruierten trojanische Genealogien, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Gerade Dares war wegen seiner trojanischen Perspektive so erfolgreich.[88] Wie Clark zeigt, wurde der recht kurze Text von Dares häufig mit mittelalterlichen genealogischen Texten zu großen Kodizes zusammengebunden. So erschien allein durch diesen materiellen Zusammenhang die daretische ‹Geschichte› des trojanischen Kriegs als Vorgeschichte westeuropäischer Königreiche: «The Destruction of Troy was transformed from a stand-alone text into a prologue: an ancient history became an introduction to many a new medieval genealogy».[89] Dares und Dictys boten mittelalterlichen Erinnerungskulturen also eine usable past. Es waren Schlüsseltexte für die Erinnerung an fundierende Mythen – an ‹Ereignisse›, die die Ursprünge und Identitäten westeuropäischer Gesellschaften erklärten.[90]

Für all jene, die die Ilias und die Odyssee als die vollendetsten Beispiele antiker epischer Dichtung begreifen (und Odysseus als ihren komplexesten Helden), ist dieser Zustand der mittelalterlichen Erinnerungskultur sicherlich empörend. In seiner umfassenden Studie The Ulysses Theme, in der er die Rezeption von Odysseus/Ulysses von der Antike bis zur Moderne nachzeichnet und feststellt, dass nur James Joyce der Komplexität der homerischen Figur gerecht wurde, kann W. B. Stanford daher nicht umhin auszurufen:

Ulysses’s reputation reaches its lowest level at the end of the classical period and remains there for over a thousand years of the Western literary tradition. He enters, as it were, a Cyclops’s cave of ignorant hostility, and he will only emerge safely from it when the uncouth ogre of the anti-Homeric tradition has been blinded by the torch of renaissance learning.[91]

Betrachtet man den Fall jedoch aus dem Blickwinkel der Gedächtnisforschung, muss dieses Narrativ von der ‹Erlösung durch die Renaissance› modifiziert werden. Es wird deutlich, dass Dares und Dictys (so gefälscht und unterkomplex erzählt sie auch waren) wichtige soziale Funktionen erfüllten, indem sie genealogische Narrative unterstützten und Herrschaft legitimierten. Sie erfüllten damit die typischen identitätsbildenden, fundierenden und legitimierenden Funktionen des kulturellen Gedächtnisses.[92]

Nicht zuletzt waren Dares und Dictys in Bezug auf die Literaturgeschichte äußerst generativ. Obwohl die Texte als ‹Geschichtsschreibung› verstanden und verwendet wurden, hatten sie einen massiven Einfluss auf weitere literarische Produktionen. Um 1160 stützte Benoît de St-Maure seinen Roman de Troie auf die Erzählungen von Dares und Dictys. Dieser Roman war ein Grundlagentext für den Trojastoff, wie er in den folgenden Jahrhunderten in ganz Europa geschrieben und umgeschrieben werden sollte. Benoît verwandelt die trojanischen Krieger in christliche Ritter und führt zum ersten Mal die Romanze von Troilus und Briseida ein.[93] In Boccaccios Il Filostrato (1335) wird der Name Briseida in Criseida geändert. Von hier aus gelangt die Geschichte Mitte der 1380er Jahre zu Chaucers Troilus und Criseyde und – über Prosaübersetzungen und -adaptionen von Guido delle Colonne, John Lydgate, Raoul Lefevre und William Caxton – schließlich zu Shakespeares Troilus und Cressida (ca. 1602).

Dares und Dictys drängten Homer in das Vergessen ab. Heute sind sie selbst vergessen. Doch ohne Dares und Dictys gäbe es kein Shakespearesches Troja. Und ohne Shakespeares Troja gäbe es (wie Daniel Dornhofer argumentiert) einen Großteil der Troja-Remedialisierungen auf britischen Bühnen seit 1945 nicht.[94]

10. Dante: Generativität und Prämedialisierung

Was Generativität betrifft, so ist die Bedeutung von Dares und Dictys für die Literaturgeschichte vergleichbar mit dem ansonsten sehr verschiedenen Fall von Dantes Inferno. Im frühen 14. Jahrhundert konnte Dante noch nicht auf die homerischen Epen zurückgreifen. Aber wie Piero Boitani in The Shadow of Ulysses argumentiert, hatte Dante durch verschiedene lateinische Quellen ein Gespür für die ‹zweite Reise› des Odysseus entwickelt.[95] In der homerischen Odyssee prophezeit der Seher Tiresias, dass Odysseus eine zweite Reise unternehmen müsse und schließlich «ex halos» sterben werde – was entweder «weit weg vom Meer» oder «aus dem Meer» bedeuten kann.[96] Diese zweite Reise wird jedoch in dem Epos nicht erzählt.

Boitani vermutet, dass dieser «excess of information» einen «chasm of secrecy» geöffnet habe, «which readers of successive ages, whether poets or commentators, have tried to fill with new stories».[97] Dante geht von diesen rätselhaften Gedächtnisspuren aus und erschafft seine eigene neue Erzählung: die Version einer gefährlichen zweiten Reise, bei der Odysseus und seine Mannschaft sich ‹jenseits der Säulen des Herkules› wagen, Schiffbruch erleiden und am Berg Fegefeuer sterben.

In dieser neuen Odysseus-Erzählung schwang so sehr die Imagination von Abenteuern und der Entdeckung einer ‹neuen Welt› mit, dass sie Amerigo Vespuccis Selbstdarstellung als Entdecker von Amerika ein halbes Jahrhundert später prämedialisierte.[98] Dante brachte einen neuen Strang in der odysseischen Gedächtnisgeschichte hervor: Odysseus, der Entdecker. Dieser Strang zieht sich bis zu Alfred Lord Tennyson, Giovanni Pascoli, Konstantin Cavafy, Paul Valéry, James Joyce und Stanley Kubrick. Er passt besonders gut zum Denken der westlichen Moderne (auch hier ist also mnemonische Resonanz für Erinnerungspraxis entscheidend), das seinerseits von Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) kritisiert wurde.

Im mittelalterlichen Westeuropa, in einer Situation des semiotischen Vergessens (Verlust der griechischen Sprache), des materiellen Vergessens (Verlust der Manuskripte) und des daraus resultierenden sozialen Vergessens, schafft Dante eine neue Erinnerung an Odysseus. Dieser Gedächtnisstrang wird neben dem älteren Strang der homerischen Erinnerung an die Odyssee weiterwirken, sobald dieser in der frühen Neuzeit durch eine Vielzahl von Homer-Übersetzungen in die Volkssprachen wiederhergestellt wird.[99] Und manchmal vermischen sich diese Stränge auf interessante Weise.[100]

Dante führte eine neue Erinnerung in einer Situation des kulturellen Vergessens ein. In diesem Sinne ist sein Fall mit dem von Dares und Dictys vergleichbar. Aber Dares und Dictys kann man heute bestenfalls als Gegenstand des impliziten kollektiven Gedächtnisses bezeichnen.[101] Sie sind eine uneingestandene Präsenz, zum Beispiel auf der modernen Shakespeare-Bühne. Dares’ und Dictys’ Texte selbst gerieten in Vergessenheit, nachdem sie als Fälschungen entlarvt worden waren und ihr Status als ‹historische Augenzeugenberichte› unhaltbar geworden war. Dantes neue Erinnerung an Odysseus hingegen ist bis heute sowohl stark als auch explizit, erstens weil Dante ein kanonischer Autor ist und zweitens weil viele der Remedialisierungen seiner Odysseus-Erzählungen selbst kanonisch geworden sind.

In einigen dieser inzwischen hyperkanonischen Remedialisierungen wird die Erinnerung an Dantes Odysseus mit gänzlich anderen Erinnerungen verbunden: Primo Levi zum Beispiel mobilisiert in Ist das ein Mensch? (Se questo è un uomo, 1947) seine Erinnerung an Dantes Inferno und dessen Odysseus-Figur, um seine traumatisierenden Erfahrungen in Auschwitz zu rahmen und überhaupt erzählbar zu machen. Der Danteische Odysseus ist zu einem Gedächtniswerkzeug (memory tool), zu einem prämedialisierenden Schema geworden, das dabei hilft, neue Situationen erfahrbar und erinnerbar zu machen.[102]

Dies ist ein Moment, in dem die Erinnerung an antike Texte (und deren Erinnerung im Mittelalter) dynamisch mit Erinnerungen an moderne Massengewalt und Völkermord interagiert. Literatur und Leben, Erzählung und Gewalt, Ästhetik und Ethik sind in der Gedächtnisgeschichte eng miteinander verwoben – und wirken dabei oft über die longue durée hinweg. Vielleicht ist es diese besondere Aufmerksamkeit auf die Implikation des Gedächtnisses (von unserer mentalen Welt bis hin zur Konstruktion von kulturellem Erbe) in politische, oft gewaltförmige Gegenwarten, die den besonderen Zugang der Memory Studies zu der alten Frage nach dem Nachleben prägt. Es geht also darum, neue Wege zu finden, um Kognition, Kultur und politische Dynamik zusammenzudenken.[103]

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Online erschienen: 2025-09-10
Erschienen im Druck: 2025-09-05

© 2025 the author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 13.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/anab-2025-0002/html
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