An den Grenzen des Strafrechts – Stalking, Graffiti, Weisungsverstöße
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Frank Neubacher
Abstract
I. Einleitung: „Risiko-Management“ und „New Penology“
So unterschiedliche Autoren wie Jakobs, Prittwitz und Frehsee haben bereits vor geraumer Zeit die Verwandlung des Strafrechts in ein „Risikostrafrecht“, gar in ein „Feindstrafrecht“ konstatiert, das hergebrachte rechtsstaatliche Begrenzungen unterlaufe. Auf die in der modernen „Risikogesellschaft“ ubiquitären, aber nur schwer kontrollierbaren abstrakten Gefahren reagiere das Strafrecht zunehmend mit Kriminalisierungen, die immer komplexer und weniger verständlich würden, immer abstraktere Rechtsgüter schützten und immer schwieriger zu implementieren seien. Durch die Verlagerung der Strafbarkeit in das Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung („Vorfeldkriminalisierung“) würden nicht nur Freiheitsrechte beschnitten, sondern – in Form von Kontrollierbarkeitsphantasien – unerfüllbare Erwartungen an das Strafrecht hervorgerufen. Die Strafgesetzgebung weise daher zusehends symbolische Züge auf und schädige auf Dauer das Rechtsbewusstsein. Weil diese materiellrechtlichen Tendenzen einhergingen mit strafprozessualen Ansätzen zu einer Beweislastumkehr und zu einer Ausweitung von polizeilichen Kontrollrechten (als verdachtsunabhängigen Vorfeldermittlungen), drohe ein Wandel vom Bürgerstrafrecht zum „Feindstrafrecht“, dessen Basis nicht mehr das Vertrauen in den grundsätzlich rechtstreuen Bürger sei, das gelegentlich enttäuscht werde, sondern latentes Misstrauen. Während Jakobs unter dem Eindruck der Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus seinen Frieden mit diesem Strafrecht gemacht zu haben scheint, hält die Strafrechtswissenschaft ihre Kritik an der jüngeren Entwicklung mehrheitlich aufrecht. Ihr Einfluss auf die Strafgesetzgebung ist dadurch nicht größer geworden – vielfach kann nur noch das Bundesverfassungsgericht Einhalt gebieten (z. B. Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzugs, Europäischer Haftbefehl, präventive Telefonüberwachung, akustische Wohnraumüberwachung, Rechtsschutz gegen Überbelegung im Strafvollzug, Vermögensstrafe). Von einer Krise des Strafrechts zu sprechen, ist wohl noch untertrieben – erweckt es doch den Eindruck, die künftige Entwicklung sei offen und das Strafrecht stünde gleichsam noch am Scheideweg. Tatsächlich ist der Formenwandel im Strafrecht weitgehend vollzogen, und die neue Sicherheits- und Kontrollbewegung hat ihren Zenit vermutlich noch nicht überschritten.
© Walter de Gruyter
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