Startseite Nietzsches spielerische Umwertung der Werte
Artikel Open Access

Nietzsches spielerische Umwertung der Werte

Gegen das Ernsthafte in der Lüge des Ideals (EH, Warum ich so klug bin 10)
  • Yulius Tandyanto ORCID logo EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. November 2023
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

1 Der historische Nietzsche und der metonymische Nietzsche

Vom Spielerischen in Nietzsches ‚Umwertung der Werte‘ (EH, KSA 6, 266) zu handeln, hat genau genommen etwas Spekulatives.[1] Das Ziel ist es, zu erwägen, ob es möglich ist, zwischen dem ‚Ich‘ beziehungsweise der Metonymie ‚Friedrich Nietzsche‘ im Text von Ecce homo (EH) und dem historischen Friedrich Nietzsche als Autor dieses Werks reflektiert zu differenzieren.[2] Je klarere Anhaltspunkte wir dafür haben, desto mehr können wir, das Spielerische in Nietzsches autogenealogischer Erzählung identifizieren.

Die Akte des Spielerischen zu rekonstruieren ist allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Das Problem liegt darin, dass wir als Leser die Figur ‚Nietzsche‘ verobjektivieren und sie mit den ihm zugeschriebenen philosophischen Überlegungen thematisieren. So kann beispielsweise die Figur Nietzsche im Kontext von EH als eine Selbstverkündigung des Antichrist verstanden werden, die darauf abzielt, das gesamte Erbe der christlichen moralischen Werte umzuwerten. Solche Verallgemeinerungen sind insofern in Ordnung, als sie durch den Text gerechtfertigt sind, was aber ja einigermaßen immer umstritten ist. Auf einer bestimmten Ebene kann eine solche eherne Identifizierung jedoch die Dynamik der Schreib-Denk-Praxis des Autors von EH verschleiern, ist diese doch experimentell, provokativ und auf Überzeugen ausgehend. Irritation entsteht oft, wenn die Leser im Text auf rätselhafte Aussagen des Ich-Erzählers stoßen. Einerseits etwa ruft ‚Nietzsche‘ als Metonymie des Erzählers zu seinem großen Krieg gegen das Christentum auf. Gleichzeitig aber bekundet der Erzähler auch, dass die große Negation kein ‚nein‘ sagender Geist ist, sondern ein ‚Ja‘-Sagen. In ähnlicher Weise ist die enigmatische Formel ‚Dionysos gegen den Gekreuzigten‘ der Höhepunkt der Provokation des autogenealogischen Anspruchs von EH. Gerade die Irritation aber kann auf einen Spalt hindeuten.

Wie also kann man EH lesen und verstehen? Vielleicht ist es produktiver, EH zunächst nicht als Nietzsches eigene philosophische Autobiographie zu lesen, sondern als eine autogenealogische Erzählung in drei Akten.[3] Der erste Akt (EH, Warum ich so weise bin und EH, Warum ich so klug bin) erzählt das Leben des Narrators ‚Nietzsche‘, bevor der zweite Akt (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe und so weiter) dessen Werke skizziert. Der letzte Akt (EH, Warum ich ein Schicksal bin) ist eine Synthese seines Lebens und seiner Werke als Protagonist, der die Weltgeschichte bestimmen wird, als ‚ein welthistorisches Untier‘ (KSA 6, 302). EH als autogenealogische Erzählung zeigt sich auch implizit in der Beschreibung, die sein Peritext gibt: „Und so erzähle ich mir mein Leben.“ (KSA 6, 263) Diese Aussage des Erzählers enthält drei Bezugsverhältnisse: nämlich eine Erzählung von Nietzsches Leben zu sein, die von Nietzsche geschrieben und an Nietzsche gerichtet ist. Einerseits bestärkt die Aussage die genealogische Diagnose bezüglich des Subjekts ‚Nietzsche‘ in EH, die rückwärts und vorwärts gerichtet ist, in ein und demselben Prozess nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv. Andererseits impliziert es auf der Ebene der Schreib-Denk-Praxis auch eine Art reflexiven Abstandseffekt, einen Text namens ‚Nietzsche‘ selbst beständig zu hinterfragen.[4] Eine solche Reflexion stellt eine relationale Differenz zwischen dem Autor Nietzsche und dem Protagonisten Nietzsche dar, die jedoch nicht nur performativ oder transzendental-pragmatisch ist,[5] sondern eben auch naiv.[6] Dies ergibt sich gleichsam naturgemäß, weil die Lesenden keinen direkten Zugang und Beweis zum historischen Nietzsche haben, sondern erst seine Existenz beim Lesen und gleichzeitig zur Rechtfertigung seiner Texte zwangsläufig voraussetzen müssen.

Dass es diese relationale Differenz gibt, bietet gewissermaßen einen größeren Spielraum des Interpretierens im Vergleich zu anderen Denkern, die die Logik der Kohärenz in ihren philosophischen Systemen betonen. Es erwächst daraus, dass Nietzsches Schreib-Denk-Praxis eher Provokationen von Ideen als eigentliche umfassende Argumente bietet. Dies zeigt sich denn auch in den eher karikaturhaften Zügen, in denen Figuren wie Sokrates, Jesus, Wagner und sogar Nietzsche selbst in den autogenealogischen Erzählungen von EH eingebracht sind. Sensibel für diese relationale Differenz zu sein, hemmt und relativiert also wesentlich die naive Haltung der Leser, die die sogenannten philosophischen Lehren, wie beispielsweise den Übermenschen oder die ewige Wiederkehr des Gleichen, ganz selbstverständlich als die von Nietzsche selbst angebotene philosophische Hauptposition verallgemeinern. Stattdessen wird man aktiv in den textlichen Spielraum einbezogen, um die verschiedenen philosophischen Fragen und Überlegungen des Autors zu erraten. Daher könnte das Projekt der Umwertung aller Werte seine Potenziale mehr noch darin zeigen, insofern es im Kontext der spielerischen autogenealogischen Narration von EH verstanden wird.

2 Das Spielen mit großen Aufgaben

Das Substantiv ‚Spiel‘ taucht interessanterweise nur ein einziges Mal in EH auf (KSA 6, 297), dennoch betont der Protagonist seine zentrale Bedeutung. Spiel zeigt sich als die einzige Möglichkeit, mit großen Aufgaben zurechtzukommen.[7] Im Rahmen seiner autogenealogisch-retrospektiven Erzählung sagt der Erzähler ausdrücklich: „Ich kenne keine andere Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Größe, eine wesentliche Voraussetzung.“ (Ebd.)

(I) Die Aussage des Protagonisten über die Bedeutung des Spiels steht unter der Überschrift „Warum ich so klug bin“. Es ist dort das letzte Stück (EH, Warum ich so klug bin 10). Darin gibt es mindestens drei wesentliche Gedanken. Erstens, die Provokation des Erzählers, die Größe und die kleinen Dinge umzuwerten (KSA 6, 295, Z. 25 bis 296, Z. 15). Zweitens, die übermütige Verkündigung des Erzählers als Kontrapunkt zu den Ansprüchen der Größe seiner Zeit (KSA 6, 296, 15–34). Drittens, der Kommentar des Erzählers zu ‚der Größe‘ (KSA 6, 296, Z. 34 bis 297, Z. 29). Die aggressive Tendenz in diesem Stück gegen den Idealismus muss dabei in den größeren Kontext der Erzählung von EH als Kriegserklärung eingeordnet werden. Der durchgehende Bogen der Kriegspraxis der Ich-Figur zeigt sich vom Vorwort von EH: „Götzen (mein Wort für ‚Ideale‘) umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk“ (KSA 6, 258), bis zur Schlussformel in EH, Warum ich ein Schicksal bin: „– Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten …“ (KSA 6, 374). Auch die Interpretation des Spiels bewegt sich demgemäß im Bereich dieser agonistischen Narrative.

Der Antagonismus in EH, Warum ich so klug bin 10 zeigt sich schon vor allem in der Priorisierung von Ernährung, Ort, Klima und Erholung durch den Erzähler. Dieses Kleine zu priorisieren wird auch als ‚Kasuistik der Selbstsucht‘ bezeichnet, mit der die Bedeutung der kleinen Dinge als Realität oder ‚Grundangelegenheiten des Lebens‘ (KSA 6, 296) gefördert werden soll. Gegenübergestellt wird die Provokation der Dringlichkeit des Trivialen und Konkreten den ideal-moralischen Konzepten, die als Realität gelebt und von der betroffenen Gesellschaftsordnung als die Größe geschätzt werden. Alles, was in der Geschichte der Menschheit bis zur Gegenwartszeit des Protagonisten als groß, wichtig und ernsthaft gilt, sei nichts anderes als eine Manifestation kranker Instinkte. Außer der Kennzeichnung ‚Lügen aus den schlechten Instinkten‘ liefert der Erzähler hier in diesem Stück keine weiteren Erklärungen oder Argumente, die Leser des Ganzen können es jedoch mit einigen anderen Äußerungen in EH in Verbindung bringen.

Für die zerstörerische Wirkung der Lüge des ideal-moralischen Paradigmas kann man sich auf EH, Vorwort beziehen: „Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über der Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden.“ (KSA 6, 258) Das Hauptproblem dürfte in der Bewusstlosigkeit, scheinbaren Sinnfälligkeit liegen – der Erzähler spricht von „Naivität“ –, die Realität mit der Lüge zu überblenden, Lüge und Realität gleichzusetzen. Auch der Protagonist in seiner autogenealogisch-prospektiven Erzählung (EH, Warum ich ein Schicksal bin) erklärt sich nach dem Muster einer solchen Naivität zu einer Figur des Introspektiven: „Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.“ (EH, KSA 6, 366) Die imperative Emphase des ‚Umlernens‘, mit der der Protagonist im Anfang von EH, Warum ich so klug bin 10 auftritt, kann sich denn in einer solchen Weise ebenso auf die Umwertung der Lüge als eine seiner großen Aufgaben beziehen, analog zu der in EH, Warum ich so klug bin 9 erwähnten Umwertung der Werte (EH, KSA 6, 294). – In diesem ersten Gedankenstück von EH, Warum ich so klug bin 10 besteht die Tendenz, implizit auf die agonistische Spannung zwischen der Ernsthaftigkeit der idealistisch-moralischen Propagatoren, die die Realität missversteht, und der Leichtigkeit des Protagonisten, der angesichts der Realität große Aufgaben übernimmt, abzuheben.

Der zweite Gedanke zeigt die sarkastische Verurteilung der Naivität bei der Idee der Größe und des ihr zugrunde liegenden kranken Instinkts durch den Protagonisten. Der Erzähler nimmt bewusst eine antagonistische Haltung gegenüber den bisher verehrten ‚ersten Menschen‘ ein, die negativ als ‚nicht einmal zu den Menschen‘ gehörig beschrieben und positiv als ‚unheilbare Unmenschen‘ identifiziert werden. Aus dem sprachlichen Kontext der Stelle lässt sich ableiten, dass mit der Bezeichnung ‚erste Menschen‘ höchstwahrscheinlich die Verfechter jener Gestalt der Ideal-Moral gemeint sind, die die Größe in den Begriffen ‚Gott‘, ‚Seele‘, ‚Tugend‘, ‚Sünde‘, ‚Jenseits‘, ‚Wahrheit‘ sogar ‚ewiges Leben‘ verorten. Der Erzähler betrachtet solche Überzeugungen als ‚Pathos der Attitüde‘, das nichts mit Größe zu tun habe. Hier für den Protagonisten den antagonistischen Typus zu beanspruchen, kann wohl mit dem ähnlichen Antagonismus zwischen dem Typus der Fanatiker und dem Typus des ‚frei-gewordnen Geistes‘ in AC 54 (KSA 6, 236 f.) zusammengebracht werden.[8] Der Typus der Fanatiker zielt auf ‚den Menschen der Überzeugung‘, der dadurch gekennzeichnet ist: „Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und nothwendige Optik in allen Werthen haben […] Aber damit ist sie [eine solche Art Mensch] der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen.“ (Ebd., 237)

So zusammengebracht, lässt sich ableiten, dass der Fanatismus und das ‚Pathos der Attitüde‘ Analogien zum Phänomen der vom Protagonisten hinterfragten Krankheit sind. Der Protagonist erzählt in diesem Sinne von sich selbst als einer Figur, die fähig ist, diese Naivität der Menschheit in mindestens zweierlei Hinsicht zu antizipieren. Erstens, in der Lage zu sein, das Phänomen der Lüge des Ideals genau dann als Krankheit zu empfinden – und zu diagnostizieren –, wenn alle anderen es für die Realität halten. Zweitens, imstande zu sein, sich von dieser naiven Situation des Lebens zu distanzieren und dabei gleichzeitig die Fähigkeit zu zeigen, sie zu verneinen. Das Weiter-Sein des Protagonisten zeigt sich hier in der Spannungsmetapher Krankheit/Gesundheit: „Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir; ich bin selbst in Zeiten schwerer Krankheit nicht krankhaft geworden; umsonst, dass man in meinem Wesen einen Zug von Fanatismus sucht.“ (EH, KSA 6, 296) Mit dieser Metapher scheint der Protagonist als ausgewiesen gesehen wissen zu wollen, dass die Werteordnung der Ideal-Moral in der Tat eine unausweichliche konkrete Realität in der Menschheitsgeschichte ist. Er selbst sei jedoch fähig, solche Werteordnung zu negieren. Der große Anspruch des Protagonisten gegen den Typus der Fanatiker beruht auf der Tiefe seiner Erkenntnis der décadence-Natur von dessen Typus. Anstatt in gleicher Weise angesteckt selbst zum Fanatiker zu werden, könne er sich spielerisch verhalten beziehungsweise sich in Bezug auf die ‚Gesamtprobleme des Lebens‘ (KSA 6, 264) frei bewegen. Es besteht darum ein konstitutiver Antagonismus zwischen der pathologischen Ernsthaftigkeit des Typus der Fanatiker und der gesunden Freiheit des Protagonisten.

Was diese Freiheit beim Erzähler bedeutet, rückt in seiner autogenealogisch-retrospektiven Beschreibung in dem dritten Gedankenstück von EH, Warum ich so klug bin 10 ins Zentrum. Die leichten und heiteren Nuancen werden gerade in der metaphorischen Leicht/Schwer-Spannung dargestellt: „Das Leben ist mir leicht geworden, am leichtesten, wenn es das Schwerste von mir verlangte.“ (EH, KSA 6, 296 f.) In diesem Zusammenhang scheint der Protagonist sich so zu positionieren, dass die fortschreitende Dekadenz der ideal-moralischen Menschheit ihn unweigerlich zu einer schicksalhaften Berufung führe, um der reinen Verhängnishaftigkeit zuvorzukommen. Dieser großen Verantwortung gerecht zu werden, wäre das, was ihn heraushebt aus dem Zeitalter: der einzige historische Akteur sein zu können, der in der Lage ist, durch seine Werke eine neue Werteordnung zu schaffen. Der Bezug zu den geschaffenen Werken des Protagonisten wird durch die Formulierung ‚siebzig Tage dieses Herbstes‘ angedeutet, die sich höchstwahrscheinlich auf den Zeitraum der letzten Werke von AC, DD und GD als ‚Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs‘ bezieht (EH, KSA 6, 263). Die Betonung der schicksalhaften Rolle und Verantwortung des Protagonisten ‚Nietzsche‘ zeigt sich darüber hinaus in seinen Selbstbeschreibungen, die sich als Appellativnamen auf verschiedene Themen beziehen, wie zum Beispiel der Name als eines welthistorischen Untiers (EH, KSA 6, 302), des Antichrist (ebd.), des ersten Immoralisten (KSA 6, 366) sowie der Agonistik zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten (KSA 6, 374).

(II) Um den Kontrast zur pathologischen Ernsthaftigkeit des Typus Fanatiker zu zeigen, erklärt der Protagonist das Spiel als einzige Möglichkeit, mit großen Aufgaben zu verkehren. In der Tat heißt es in einem übermütigen Ton: „Der geringste Zwang, die düstre Miene, irgend ein harter Ton im Halse sind alles Einwände gegen einen Menschen.“ (EH, KSA 6, 297) Provokativ zeigt der Protagonist, wie infektiös der Ernst des Typus Fanatiker ist. Das Spiel wird darum zum Gegenmittel, und nur durch das Spiel wird – beziehungsweise bleibt – der Mensch wirklich menschlich. Die Dimension des Spiels, auf die sich der Protagonist bezieht, könnte dabei eine Anspielung auf Schiller sein,[9] zumindest unter dem Aspekt der Verbindung zwischen dem Spiel und der Idee der Größe.

Das Spiel ist in gewisser Weise für Schiller ein ästhetischer Zustand, deren Weise die Fülle des Menschen zeigt: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[10] Bei Schiller gehört diese Aussage bekanntlich in den Kontext dessen, was bei ihm ebenfalls ein Ideal ist: sein Ideal der Schönheit und Vollkommenheitsideal des Menschen beziehungsweise der erlangten Göttlichkeit.[11] Der Protagonist in EH hat sich einen anderen Kontext eröffnet. Er nutzt die Verbindung zwischen dem Spiel mit großen Aufgaben und den Anzeichen der Größe, um seine Position der fanatischen, krankhaften Lüge des Ideals – jedweden Ideals – gegenüberzustellen. In diesem dritten Gedankenstück von EH, Warum ich so klug bin 10 wird die antagonistische Position des Protagonisten freilich nicht weiter dargelegt, abgesehen von der Andeutung eines pathologischen Instinkts, der ‚die [vermeinte] Größe der menschlichen Natur‘ und ‚Göttlichkeit‘ mit den ideal-moralischen Konzepten zusammenbringt, von denen das erste Gedankenstück sprach. Genaueres zu diesem Gegensatz lässt sich aber in der Beschreibung des Protagonisten zum Typus ‚Zarathustra‘ entnehmen, oder wo er von Dionysos spricht: „Das Halkyonische, die leichten Füsse, die Allgegenwart von Bosheit und Übermuth und was sonst alles typisch ist für den Typus Zarathustra ist nie geträumt worden als wesentlich zur Grösse.“ (EH, KSA 6, 344)

Sowohl Zarathustra wie Dionysos sind gewissermaßen die Schlüsselmetonymien für den Protagonisten von EH, um seine Kriegspraxis mit dem Typus des Fanatikers zu Wort zu bringen. Seit dem Vorwort von EH erzählt der Protagonist sich genau entgegen zu einem ‚Moral-Ungeheuer‘ (KSA 6, 257), das etwa für seine Frömmigkeit geehrt würde. In der Tat erklärt er als seinen Stolz, überhaupt das Gegenteil von dem Typus der Tugendhaftigkeit zu sein. Dieser Antagonismus wird nicht nur dadurch zur Darstellung gebracht, sich mit den Namen ‚Dionysos‘ und ‚Zarathustra‘ in Verbindungen zu bringen, sondern auch durch die Leichtigkeit, Heiterkeit und Freiheit, die ihn auszeichnen. Dass er sich als Jünger des ‚Philosophen‘ Dionysos beschreibt, könnte sogar als Parodie auf den ‚heiligen‘ Jesus fungieren, der seine Jünger als eine der hauptsächlichen moralischen Tugenden lehrte, ihre Feinde zu lieben.[12] Ebenso das, den Protagonisten mit einem Satyr zu assoziieren, deutet darauf hin, dass seine Autogenealogie-Erzählung nicht als ein neuer ideal-moralischer Traktat zu lesen ist, sondern als seine Kriegspraxis ‚in einer heitren und menschenfreundlichen Weise‘ (EH, KSA 6, 258). Auch Zarathustra wird denn weder als ‚Prophet‘ (EH, KSA 6, 259) noch als Fanatiker (EH, KSA 6, 260) bezeichnet, sondern rhetorisch als ‚Verführer‘ – ein Verführer mit der Besonderheit seines halkyonischen Tons. Darüber hinaus wird Zarathustra auch als Gegenfigur zu den Figuren ‚Weiser‘, ‚Heiliger‘ und ‚Welt-Erlöser‘ eingebracht, gerade weil seine Lehren im ‚Gegensatz zur Feigheit des ‚Idealisten‘‘ (EH, KSA 6, 367) stehen.

So kann die ‚spielerische‘ Umwertung der Werte, was der Protagonist betreibt, im Gegensatz zur ernsten, sogar fanatischen Werteordnung der Ideal-Moral gedeutet werden. Die spielerische Dimension im Projekt der Umwertung der Werte rehabilitiert Lüge als Lüge und aber nicht als Realität. Die neue Werteordnung, für die der Protagonist eintritt, ist daher nicht nur antagonistisch zum gesamten Erbe der Lüge des Ideals, sondern bewegt sich auch innerhalb einer sozusagen nicht-idealen Logik, die diese antagonistische Spannung einschließt. Andernfalls würde das Projekt der Umwertung der Werte zu lediglich einer Variante des pathologischen Instinkts des Typus der Fanatiker.

Vielleicht zeigt sich dieses alles grundierende Moment der antagonistischen Spannung, die gerade die große Einheit bei dem zu Bewerkstellenden ausmacht, auch in den Überlegungen des Protagonisten zu seinem eigenen Werk Also sprach Zarathustra, insbesondere zu den antagonistischen Eigenschaften der Figur des Zarathustra: „Er widerspricht mit jedem Wort, diesem jasagendsten aller Geister; in ihm sind alle Gegensätze zu einer neuen Einheit gebunden.“ (EH, KSA 6, 343) Diese ‚neue‘ Einheit wird vom Protagonisten aber auch als psychologisches Problem im Typus des Zarathustra erzählt (EH, KSA 6, 344 f.). Eine rätselhafte Spannung zeigt sich in der Einheit von Nein-/Ja-Sagen sowie von schwerstem/leichtestem Geist. Und nicht zuletzt zeigt die Inszenierung der Ähnlichkeit des Protagonisten mit Zarathustra sich auch in der Art und Weise, wie beide Figuren sich auf die das menschliche Schicksal bestimmende Aufgabe beziehen. So wie Zarathustra mit seiner vom Schicksal gesetzten Aufgabe ‚tanzt‘, ‚spielt‘ auch der Protagonist von EH mit seinen großen Aufgaben.

Den Hinweis gibt aber nicht nur das psychologische Problem im Typus des Zarathustra. Auch dass die spielerische Umwertung der Werte, die der Protagonist betreibt, untrennbar mit dem Kontext seiner antagonistischen Beziehung zum Typus der Fanatiker verbunden ist, lässt sich als Ariadnefaden durch die Erzählung nehmen. Wenn der Typus der Fanatiker die Idee der Größe auf ideal-moralische Konzepte projiziert, so formuliert der Protagonist dagegen die Größe am Menschen als amor fati. Wie amor fati innerhalb der autogenealogischen Erzählung von EH zu interpretieren ist, ergibt sich dabei vielleicht am gehaltvollsten, wenn man es in das Spannungsfeld der Wörter ‚groß‘ und ‚klein‘ stellt. Jakob Dellinger konnte hier in interessanter Weise zeigen, wie die Selbst-Ironie des Protagonisten durch die Deutungsmacht der ‚Selbstsucht‘ das Ideal der unbedingten Bejahung der Formel amor fati zugleich auch bricht.[13] So wird der Anspruch des Protagonisten auf die Größe in der reflektierten Wertschätzung des ‚Kleinen‘ parodistisch inszeniert.

Andererseits ruft die Formel amor fati bei den Lesern auch Vorstellungen einer Art Fatalismus gegenüber ‚dem Notwendigen‘ hervor. In EH, Warum ich so klug bin 10 gibt es keine explizite Beschreibung dazu, trotzdem ist ein Gefühl von unerträglicher Schwere sicher implizit ein Merkmal von Notwendigem. In dieser Weise erscheint es, wo von der Sequenz der Beziehungsintensität gegenüber dem Notwendigen die Rede ist: „[N]icht bloss ertragen, noch weniger verhehlen […], sondern es lieben …“ (EH, KSA 6, 297). Ebenso findet sich die Betonung der Schwere Sätze vorher in den Forderungen des Lebens an den Protagonisten: „[W]enn es [das Leben] das Schwerste von mir verlangte.“ Darüber hinaus ist es, wenn der Idealismus als Verlogenheit gegenüber dem Notwendigen gezeichnet wird, dies, den pathologischen Instinkt der Lüge des Ideals in Bezug auf die Realität noch einmal in Erinnerung zu bringen. Die irritierende Wirkung der fatalistischen Aussage, „[D]ass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in aller Ewigkeit nicht“ (ebd.), könnte daher auch produktiv sein – nämlich, wenn man sie in ein antagonistisches Szenario gegen die Lüge des Ideals stellt. In der Erzählung des Protagonisten ist der Idealismus nicht nur ein ‚Fluch über der Realität‘ (EH, KSA 6, 258), sondern auch eine ‚Flucht vor der Realität‘ (EH, KSA 6, 367). Die Größe am Menschen zeigt sich hier in der Inszenierung der rätselhaften Freude des Protagonisten dabei, dem Ruf der großen Aufgaben angesichts der schweren Anforderungen des Lebens zu folgen, ohne sich in die Lüge des Ideals zu flüchten. Anders formuliert, die Realität will konzipiert werden, ‚wie sie ist […], damit erst kann der Mensch Grösse haben‘ (EH, KSA 6, 370). – Es sind solche rätselhaften Bilder, die den Leser auf die seichte Spur verleiten, sich die Formulierung des amor fati sowohl, wegen ihres unrealistischen Charakters, als bloße Abirrung der poetischen Erzählung vorzustellen als auch den impliziten Verdacht zu haben, dass auch dies nur eine andere Art von Verlogenheit wäre, nämlich das ‚Lügen aus den guten Instinkten‘, statt der Sensibilisierung für Lüge als Lüge und nicht als Realität. Beides würde verkennen, dass amor fati als Formel der Größe am Menschen innerhalb der distanzierenden und spielerischen Umwertung des Idealismus, die der Kontext davon sind, operiert.

3 Der Schreibstil ‚Prado‘

Die autogenealogische Erzählung von EH zeigt die Inszenierung einer agonistischen Polarität: die Selbstinszenierung des Protagonisten Nietzsche als den Gegenspieler par excellence des Phänomens Lüge des Ideals. Durch den anmaßenden und zugleich so ausgelassen kommenden Sprachstil provoziert der Protagonist die Leser, alle ‚Moralisierung‘ und ‚Idealisierung‘ der Philosophen zu hinterfragen (vgl. EH, KSA 6, 258 f.). Bezüglich dieses spielerischen Sprachstils von EH findet sich einiges in den Epitexten von EH. Ein besonderes Beispiel dafür ist Nietzsches Brief vom 08.12.1888 an den schwedischen Schriftsteller August Strindberg (1849–1912), in dem er vom Stil ‚Prado‘ in der Erzählung von EH spricht:[14] „[I]ch habe es [das Buch EH] mitunter selbst im Stil ‚Prado‘ geschrieben.“ (KSB 8, 509, Nr. 1176)

Im Brief wird die Absicht bekundet, EH gleich auch auf Französisch und Englisch zu veröffentlichen. Der Autor Nietzsche benötigt daher zuverlässige und vertrauenswürdige Übersetzer: „Denn, unter uns, meinen ‚Ecce homo‘ zu übersetzen, bedarf es eines Dichters ersten Rangs; es ist im Ausdruck, im raffinement des Gefühls, tausend Meilen jenseits aller bloßen ‚Übersetzer‘.“ (KSB 8, 508 f., Nr. 1176) Die Notwendigkeit, die Sprachspiele eines ‚Weltregierenden‘ zu verstehen, ist eine absolute Voraussetzung, um die subtilen Ausdrücke des Protagonisten von EH im Stil ‚Prado‘ wiedergeben zu können. Nietzsche spielt hier an auf den Kriminalfall eines Angeklagten namens Prado alias Linska de Castillon, der in Frankreich Diebstahl und Mord begangen hatte. Die Einzigartigkeit dieses Falles liegt in der Figur des Prado, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Prado wurde als eine Figur dargestellt, die sich durch bewundernswerte Flexibilität, fesselnde Eloquenz, kreatives Denken und unerhörten Mut auszeichnet. Aber nicht nur das, auch das Publikum, das der gerichtlichen Verhandlung beiwohnte, war von den Antworten des Angeklagten gefesselt wie von einem Geschichtenerzähler, der seine Abenteuer zu erzählen weiß.[15] Dieses Phänomen brachte Nietzsche dazu, hier einen allgemeinen Typus zu formulieren (Typus Prado), um Prados Überlegenheit in ‚Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth‘ (KSB 8, 508, Nr. 1176) gegenüber seinen Gegnern hervorzuheben. So zielt der Stil ‚Prado‘ in der autogenealogischen Erzählung von EH darauf ab, die Überlegenheit des Protagonisten Nietzsche gegenüber den Propagatoren der Lüge des Ideals zu inszenieren.

Was lässt sich demnach folgern? Es handelt sich jedenfalls um mehrfache Dimensionen. Zum einen ist das Spiel ein thematischer Punkt; es ist entscheidend mit unter dem, was von dem Protagonisten ‚Nietzsche‘ gefördert wird. Durch die autogenealogische Erzählung von EH wird das Spiel als die einzige Art und Weise dargestellt, mit großen Aufgaben zu verkehren, einschließlich des Projekts Umwertung der Werte, im Gegensatz zur Ernsthaftigkeit des Typus der Fanatiker. Gleichzeitig mag das Spiel aber sicher auch als performative Praxis des Autors von EH fungieren, um seine Leser zu provozieren. Im Stil ‚Prado‘ bekundet sich die spielerische Schreib-Denk-Praxis des Autors in der Inszenierung des Protagonisten Nietzsche. In diesem ist der Autor von EH, Nietzsche, ungebunden, mit der Metonymie namens ‚Nietzsche‘ in der gesamten autogenealogischen Erzählung von EH frei zu experimentieren. Die Freiheit des Experimentierens beziehungsweise des Spiels, die in der Komposition von EH zum Vorschein kommt, mag dabei die Naivität der Leser von vornherein mit einkalkulieren, in deren natürlicher Neigung, die Aussagen des ‚Ichs‘ in der Erzählung von EH unbedenklich mit der philosophischen Position des historischen Nietzsche in Deckung zu bringen. Auf eine solche eigne Naivität sensibel zu sein, ist nur insofern möglich, als die relationale Differenz zwischen dem historischen Nietzsche und dem metonymischen Nietzsche in Erwägung steht. Die Spannung innerhalb dieser relationalen Differenz eröffnet den Lesern einen Spielraum der Interpretation als Rätselrater.


Anmerkung

Mein besonderer Dank gilt Prof. Rainer Adolphi für sprachlichen Rat bei der Ausformulierung meiner Überlegungen im Deutschen.


Online erschienen: 2023-11-01
Erschienen im Druck: 2023-10-25

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Zum Themenschwerpunkt
  3. Teil I: Der Wille zur Macht. „Werk“ – Wesen – Wirkungen
  4. Edition und Interpretation
  5. Die überraschende Ausdauer des Wille zur Macht in der englischsprachigen Welt (und ihre Folgen)
  6. Der ausgewechselte Horizont
  7. Metaphysik und Skeptizismus
  8. Nietzsche – Systematische Vorbehalte
  9. Götter und ihr Wille zur Macht – Zeus, Dionysos, Apollon
  10. „in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht“
  11. ‚Wille zur Macht‘ als antimetaphysisches Prinzip
  12. Nietzsches Wille zur Macht und die Selbsterkenntnis des Philosophen
  13. Kann und soll der Wille zur Macht überwunden werden? Ein Versuch des späten Nietzsche
  14. Nachtrag: Die ‚Lehre‘ vom Willen zur Macht aus der Sicht der nachgelassenen Aufzeichnungen
  15. Teil II: Nietzsche-Werkstatt: ‚Werte‘: Nietzsche und die Karriere eines Themas (30. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta vom 20. bis 23. September 2022) Wissenschaftliche Leitung: Helmut Heit und Rainer Adolphi
  16. Nietzsche und ‚die Werte‘ – Zum Rahmen eines Themas (Einleitung)
  17. Wert und Werte, Schulden und Schuld, Rache und Ressentiment
  18. Die Wertschätzung der Triebe
  19. Die Befreiung der Individualität vom Diktat des Gesellschaftlichen
  20. Werturteil und Kausalprinzip bei Nietzsche
  21. „‚Die wahre und die scheinbare Welt‘ – dieser Gegensatz wird […] zurückgeführt auf Werthverhältnisse“
  22. Die Vergesellschaftung der existenziellen Wertschätzungen
  23. Nietzsches spielerische Umwertung der Werte
  24. „Es giebt keine Gegensätze“
  25. Teil III: Beiträge
  26. Nietzsches Aphorismus Ursprung der Gerechtigkeit (MA I, 92) – aus spieltheoretischer und rechtsethnologischer Sicht
  27. Zur Erschließung semantischer Strukturen durch algebraisch-topologische Konzepte
  28. Teil IV: Rezensionen
  29. Wie in St. Moritz eine neue Philosophie entstand …
  30. Maskenspiel und Erkenntnis
  31. Literatur des Autors
Heruntergeladen am 29.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/NIFO-2023-019/html
Button zum nach oben scrollen