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Edition und Interpretation

Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Wille zur Macht
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Published/Copyright: November 1, 2023
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Die bevorstehende Edition des ‚Willens zur Macht‘ ist der Anlass,[1] aus der zeitlichen Distanz auf Heideggers Tätigkeit als Herausgeber von Nietzsches späten Nachlassmanuskripten im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe, die das Nietzsche-Archiv in Weimar in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unternahm, zurückzublicken.[2] Der Denker von Sein und Zeit lehnte die bereits 1931 festgelegten „Grundsätze der Edition“ ab,[3] erklärte sie für insbesondere den späten Texten Nietzsches völlig unangemessen und wollte deren Edition auf eigene philosophische Grundlagen stellen. Heideggers Nietzsche – Vorlesungen der 30er Jahre geben Auskunft über diese Zusammenhänge. Sie widmen sich dem Buch Der Wille zur Macht ebenso wie der Sache, dem Willen zur Macht als „Benennung dessen, was den Grundcharakter alles Seienden ausmacht“.[4] Weil die Lehre vom Willen zur Macht die ontologische Bestimmung des Seienden als Hauptsache der Philosophie betreffe, müsse das Hauptwerk Nietzsches diesen Titel tragen.[5] Dass Heidegger die bereits vorliegenden Publikationen des Willens zur Macht im Auge hat,[6] ist angesichts dieser Begründung, aber auch angesichts der Tatsache, dass er die Kritik an der Eigenmächtigkeit Elisabeth Förster-Nietzsches sowohl hinsichtlich der Kompilation der Texte als auch hinsichtlich deren Geltendmachung als Nietzsches Hauptwerk kennt, ausgeschlossen.[7] Die von Heidegger hergestellte Verbindung von Buch und Sache ist vielmehr ein Vorverweis auf sein eigenes Projekt, das sich ebenso entschieden von den existierenden ‚unkritischen‘ Ausgaben wie von der geplanten kritischen Edition abgrenzt. Es ist das von ihm erdachte Konzept der ‚Seinsgeschichte‘, auf dem die für Edition und Interpretation der Nachlassmanuskripte Nietzsches geltend gemachten Prinzipien begründet werden.

Im ersten Teil dieses Beitrags rekapituliere ich einige in Hinsicht auf Heideggers Beteiligung an der historisch-kritischen Gesamtausgabe Nietzsches relevante Fakten und Konzepte. Im zweiten Teil stelle ich die Hauptthesen Heideggers zu Nietzsches Metaphysik anhand der ersten Vorlesung vom WS 36/37 in der Absicht vor, an diesem Material die ‚seinsgeschichtlichen‘ Grundlagen von Interpretation und Edition herauszustellen und einer kritischen Diskussion zugänglich zu machen.[8]

1

Heideggers antiszientifischem Verständnis von Philosophie gemäß verzichtet die Gesamtausgabe seiner Werke auf die kritische Behandlung der edierten Texte und gibt über ihre Entstehungsgeschichte nur spärlich Auskunft.[9] Dass die Herausgeberin der beiden 1961 bei Neske erschienenen Nietzsche-Bände, Brigitte Schillbach, im Rahmen der Gesamtausgabe (1996, 1997) nicht auf die Beteiligung Heideggers an der historisch-kritischen Ausgabe verweist, entspricht also den Vorgaben.[10] Auch Heidegger selbst hatte 1961 im Vorwort zum ersten Nietzsche-Band nichts darüber verlauten lassen.[11] Es gehe ihm darum, den Denkweg, den er „seit 1930 bis zum ‚Brief über den Humanismus‘ (1947) gegangen“ ist, darzustellen.[12] Es wird Heidegger opportun erschienen sein, seine Mitarbeit in diesem wichtigen Gremium des personell und ideologisch dem Nationalsozialismus nahestehenden Nietzsche-Archivs unerwähnt zu lassen,[13] um den Versuch, seine Befassung mit Nietzsche als Akt geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus auszugeben, nicht zu gefährden und seinen Nietzsche-Interpretationen in der Nachkriegszeit autoritative Geltung zu verschaffen.[14] Otto Pöggeler, der die Manuskripte der Vorlesungen und Abhandlungen für den ersten Druck vorbereitete, wurde allerdings von Heidegger im August 1960 brieflich darüber in Kenntnis gesetzt, dass er den ‚Willen zur Macht‘ neu herausgeben wollte.[15] Im Zuge der Edition der originalen Manuskripte zur zweiten Nietzsche-Vorlesung über die „Ewige Wiederkehr des Gleichen“ aus dem SS 1937 im Rahmen der Gesamtausgabe Heideggers habe ich 1986 –[16] veranlasst durch die zahlreichen Indizien für Heideggers über den publizierten Forschungsstand hinausgehende Kenntnis der Nachlassmanuskripte Nietzsches – bei Hermann Heidegger nachgefragt, ob es im Nachlass seines Vaters Dokumente über dessen Befassung mit Nietzsche-Handschriften im Archiv in Weimar gebe, was zunächst verneint wurde. Nachdem ich durch Recherchen an diesem Ort einiges darüber in Erfahrung gebracht hatte, erhielt ich im Juni 1986 aus Freiburg Kopien der dort inzwischen aufgefundenen Dokumente, die sich mit den in Weimar vorhandenen deckten.

Gestützt auf diese Materialien benenne ich im Folgenden nur einige für die Neuedition des ‚Willens zur Macht‘ relevante Fakten,[17] die – nach dem Buch von Felsch[18] oder auch der neuen Heidegger-Biographie von Guillaume Payen zu urteilen –[19] noch nicht allgemein bekannt sind. 1935 erfolgte auf Betreiben Walter F. Ottos Heideggers Berufung in den Wissenschaftlichen Ausschuss der Historisch-kritischen Ausgabe (im Folgenden WA),[20] dessen Mitglieder vom Vorstand des Nietzsche-Archivs gewählt wurden.[21] Heideggers Engagement ging über die Beratung und Beaufsichtigung der neuen Ausgabe weit hinaus; er plante – wie bereits angesprochen – eine neue Edition der als Wille zur Macht bereits 1901, 1906 und 1911 teilweise publizierten Nachlassmanuskripte nach von ihm selbst zu entwickelnden philosophischen Prinzipien. In seinem Brief vom 6. August 1960 schreibt Heidegger an Pöggeler: „Bei den öfteren Aufenthalten im Nietzsche-Archiv konnte ich den handschriftlichen Bestand durcharbeiten. Ich hatte mir als besondere Aufgabe die Vorbereitung einer neuen Ausgabe des ‚Willens zur Macht‘ gewählt, die den ganzen Nachlass von 1884 bis 1888 umfassen sollte. Ich habe darüber mehrfach meinen Plan in der Kommission vorgetragen“.[22]

Manuskripte zu diesen Vorträgen haben sich bislang weder in den Akten des Nietzsche-Archivs, noch in den Heidegger-Beständen des Literaturarchivs Marbach finden lassen. Allerdings lässt sich der Zeitraum dieser Darlegungen anhand der Akten in Weimar verlässlich eingrenzen: Im Januar 1938 wurde Heidegger von Staatsminister a. D. Richard Leutheußer, dem Vorsitzenden des Vorstands des Nietzsche-Archivs, gebeten, auf der für März des Jahres geplanten Sitzung des WA einen Vortrag über seine Auffassungen zur Edition des ‚Willens zur Macht‘ zu halten.[23] In seiner Antwort vom 12.1.1938 führt Heidegger dazu aus:

„Vor allem aber bin ich mit dem, was ich bei einer solchen Vortragsgelegenheit sagen möchte, noch nicht weit genug, nämlich in der Frage der einheitlichen Gestaltung von Nietzsches Vorarbeiten zu dem Werk, das er zeitweilig als Der Wille zur Macht betitelt. So wie dieses Material jetzt [in der sog. Großoktavausgabe] auf die Bände XIV–XVI verteilt und geordnet ist, kann es keinesfalls bleiben. Wie aber hier vorzugehen sei, das kann nur aus einem ursprünglicheren Verständnis von Nietzsches Grundfragen heraus entschieden werden. Wenn ich mich über diese m. E. für die ganze Krit.Ges.Ausgabe entscheidendste Frage äußern soll, möchte ich nichts Halbes bieten. // Ich sehe darin die Hauptverantwortung des Nietzsche-Archivs dafür Sorge zu tragen, daß die höchste Stufe des N’schen Denkens in einer Gestalt den kommenden Geschlechtern überliefert wird, die das Zukünftigste seines Ringens sichtbar macht und seiner Arbeit über jede billige Zeitgemäßheit – auch die heutige – hinaushebt. // In dieser Aufgabe dürfen wir nicht versagen, während es im Grunde gleichgültig bleibt, ob nun wirklich jeder Zettel von Nietzsche und über Nietzsche gedruckt wird oder nicht. Ich habe zuweilen ein Grauen vor dieser Vollständigkeit und Wühlerei und ein weitaus größeres hätte vermutlich N[ietzsche] selbst gehabt.“[24]

Seine „große Idee“ zur Edition des Nachlasses muss Heidegger erstmals auf der Tagung des WA vom 25. bis 27. März 1938 in Weimar vorgestellt haben.[25] Karl Schlechta spricht in einem Brief an Heidegger vom 8. April 1938 darüber,[26] und Heidegger selbst erwähnt diesem gegenüber wenige Tage später, am 13.4.38, seine Darlegungen in „jener Vormittagssitzung […], daß wir […] versuchen müssen, nach Möglichkeit für das ‚Werk‘ Nietzsches zu arbeiten.“ Er sei über die „allseitige Zustimmung betroffen [gewesen]. Widerstand wäre mir [Heidegger] lieber gewesen, weil eine größere Klärung unseres Vorgehens und der Gesamthaltung möglich geworden wäre.“[27] Am 10. Oktober 1938 bittet Richard Oehler Heidegger erneut, bei der nächsten Sitzung „eine Aussprache über Grundgedanken Nietzsches oder, wie man es nennen will, herbeizuführen […]; dürfen wir Sie um Ihre Ansicht bitten, wie etwa dieser schöne Plan, den alle [bei der letzten Sitzung] lebhaft begrüßt haben, ausgeführt werden könnte, das heißt, ob Sie geneigt sein würden, einen Vortrag zu halten, oder ob Sie die gemeinsamen Besprechungen durch eine Darlegung über Nietzsche in dem Sinne Ihrer damaligen Ausführungen eröffnen würden.“[28] Heidegger antwortet, seine „Darlegungen sollten nicht einen Vortrag bieten, sondern die Anregung zu einer Aussprache, die unmittelbar mit der Arbeit an den Manuskripten sich verbinden müßte.“[29] Und noch nach Kriegsbeginn, am 11.12.39, schlägt Heidegger vor, den Vortrag über seine Pläne zur Edition „auf die nächsten Monate“ zu vertagen.[30] Nach der Aktenlage zu urteilen, hat Heidegger also tatsächlich mindestens einmal, im März 1938 und vermutlich außerdem an der letzten von ihm besuchten Sitzung des WA vom 22. bis 23. Oktober 1938 seine Überlegungen vorgetragen.[31] In welcher Form, welchem Grad von Ausarbeitung und welchem Umfang, das sind Fragen, die zumindest vorläufig unbeantwortet bleiben müssen.

In seinem Brief an Leutheußer vom 26.12.1942 erklärt Heidegger seinen Austritt aus diesem Ausschuss und schließt mit den Worten:[32] „Meine langjährigen Vorarbeiten zur Neuausgabe des ‚Willens zur Macht‘ sind vernichtet.“ Oder heißt es „verrichtet“?[33] Welches die richtige Lesart ist, lässt sich aus der Handschrift nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Gegen „vernichtet“ im wörtlichen Sinne spricht, dass Heidegger im Brief an Schlechta von Dezember 1939 mitteilt,[34] seine Aufzeichnungen über den Willen zur Macht seien bei dem schon zu Kriegsbeginn veranlassten Transport seiner Manuskripte zu seinem Bruder nach Meßkirch unter andere Manuskripte geraten und er habe sie „bis heute“ nicht unter den in Freiburg verwahrten gefunden. Weiterhin zu suchen, wäre dann also sinnvoll.

Aber auch ohne den Fund eines Manuskripts zu Heideggers Vorträgen im Archiv sind wir über seine Kritik an der HKGW und sein Konzept zu einer neuen Edition des Willens zur Macht vor allem durch die ersten beiden Nietzsche-Vorlesungen vom WS 1936/37 Der Wille zur Macht als Kunst und Die ewige Wiederkehr des Gleichen vom SS 1937 einigermaßen gut im Bilde. Und schon der oben zitierte Brief Heideggers an Leutheußer vom November 1938 lässt die Frontstellung gegen die HKGW erkennen: Der Forderung, Nietzsches Denken als Zukünftiges für die kommenden Generationen aufzuschließen, liegt Heideggers eigene Konzeption der Geschichtlichkeit des Seins zugrunde, die die metaphysische Bestimmung des Seins aus der als bleibende Gegenwart verstandenen Zeit ebenso wie die Dichotomie von Zeitlichem und Ewigem durch den Gedanken eines partikularen Sinngeschehens ablösen soll. Diesem Sinngeschehen wird eine zeithafte Bewegtheit zugesprochen, durch die das Gewesene das Zukünftige ermöglicht und bestimmt.[35] Dieser Versuch, das Sein aus der Zeit zu denken, kann als ein „radikale[r] Antihistorismus“ bezeichnet werden,[36] der sich konsequenterweise auch gegen eine auf historistischen Prämissen beruhende Edition richten muss. Im Paradigma des Historismus sind Heidegger zufolge die am Maßstab überzeitlicher wissenschaftlicher Wahrheit ausgerichteten Prinzipien historisch-kritischer Editionen das Pendant zum Relativismus und Subjektivismus sich wandelnder Deutungen eines Werks.[37] Wenn es aber das ausgezeichnete Verdienst Nietzsches ist, die Zusammengehörigkeit von Platonismus und Nihilismus und dessen Erscheinungsformen unverbindlicher Beliebigkeit erkannt zu haben, bekundet Heideggers Rede vom „Grauen vor dieser Vollständigkeit und Wühlerei“ keinen subjektiven Abscheu, sondern das Bewusstsein der Verkehrtheit und Gedankenlosigkeit einer historisch-kritischen Edition in Anbetracht desjenigen Werkes, das diese radikalen Einsichten hervorgebracht hat. Weil Heidegger in dem Ziel – wenn auch nicht in den philosophischen Grundlagen – mit ‚seinem‘ Nietzsche darin übereinstimmt, dass der Nihilismus überwunden werden soll, muss er eine dem Grundgedanken Nietzsches entsprechende und folglich dieses geschichtsphilosophische Ziel befördernde Konzeption für die Präsentation von dessen Werk entwickeln.[38] In seiner ersten Nietzsche-Vorlesung von 1936/37 heißt es dazu deutlicher:

„Diese historisch-kritische Gesamtausgabe […] bleibt in ihrer Anlage zweideutig:

  • Als historisch-kritische Gesamtausgabe, die alles und jedes Auffindbare bringt und vom Grundsatz der Vollständigkeit geleitet ist, gehört sie ganz in die Reihe der Unternehmungen des 19. Jahrhunderts.

  • In der Art der biographisch – psychologischen Erläuterung und des gleichfalls vollständigen Aufspürens aller ‚Daten‘ über das ‚Leben‘ Nietzsches […] ist sie eine Ausgeburt der psychologisch-biologischen Sucht der Jetztzeit.

  • Nur in der wirklichen Bereitstellung des eigentlichen ‚Werkes‘ (1881–89) wird sie zukünftig sein, falls ihr diese Aufgabe gelingt. […] Niemals […] ist dieses Eigentliche zu leisten, wenn wir nicht im Fragen Nietzsche als das Ende der abendländischen Metaphysik begriffen haben und zu der ganz anderen Frage nach der Wahrheit des Seins übergegangen sind.“[39]

Die ersten beiden Punkte formulieren Heideggers Kritik an der HKGW, indem sie dieses Unternehmen historisieren und damit dessen den Prägungen des Zeitgeistes geschuldete Prämissen des 19. und 20. Jahrhunderts kenntlich machen. Laut Vorwort zum ersten Band dieser Ausgabe von Carl August Emge beabsichtigte sie tatsächlich,[40] durch die Prinzipien Vollständigkeit und Chronologie „Einblick“ nicht nur in die Werkstatt des Philosophen, sondern auch in dessen „inneren Werdegang mit allen Stimmungsschwankungen, Wandlungen, anscheinend schroffen Brüchen und Umkehrungen im einzelnen zu verdeutlichen“.[41] Dagegen setzt Heidegger im 3. Punkt seine Idee der unauflöslichen Einheit von Interpretation und Edition, die er durch seinen Gedanken von ‚Seinsgeschichte‘ begründen will. Das ist zunächst so zu verstehen, dass die beabsichtigte Edition nicht dem Selbstverständnis der Philologie des 19. Jahrhunderts folgt, die nichts weiter als eine objektive, wissenschaftliche Basis für die Interpretation der Texte und die Erfassung ihres gedanklichen Gehalts bereitstellt. Im Horizont der ‚Seinsgeschichte‘ wird die Edition jedoch in ihrer Gestalt, ihren Begriffen und Zielsetzungen durch die bereits ‚seinsgeschichtlich‘ imprägnierte Interpretation des zu edierenden Werks bestimmt. Das Konzept der ‚Seinsgeschichte‘ hat sowohl destruktive wie konstruktive Bedeutung: Es macht das metaphysische Fundament wissenschaftlicher Edition und Interpretation in deren Zeit-Sinn erst erkennbar und stellt andererseits die Grundlage für die Ausgestaltung ebenso wie für die Begründung der Notwendigkeit einer postmetaphysischen Edition dar, die Nietzsches Denken als die Schwelle zwischen metaphysischem und postmetaphysischem Denken zugänglich macht. Ich gehe zunächst exemplarisch am Begriff des Werks und am Verständnis von Interpretation auf die ‚seinsgeschichtlichen‘ Umformungen des hermeneutischen Instrumentariums ein.

Der von Heidegger intendierte ‚seinsgeschichtliche‘ Werkbegriff wird sowohl gegen „alles Auffindbare“, also gegen die positivistische Auffassung der HKGW, als auch gegen die klassische Auffassung eines durchgestalteten, in sich abgeschlossenen, vorbildlichen Produkts vernünftiger Subjekte gesetzt. 1939 heißt es, Nietzsche habe im Sinne der neuzeitlichen philosophischen Werke von Descartes oder Kant überhaupt kein Werk verfassen wollen; er habe vielmehr um die „denkerische Gestaltung“ seines einzigen Gedankens gekämpft und gewusst,[42] dass diesem der Charakter eines Werks unangemessen ist. Gerade darauf komme es aber an, die „innere Gestaltungsform und Weite, … die Sammlungskraft und Helle des Denkens“ von Nietzsche zu verstehen. Das in diesem Sinne eigentliche Werk Nietzsches liegt für Heidegger bekanntlich in den späten Nachlasstexten: „Die eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß‘ zurück.“[43] „Zurückbleiben“ heißt hier: Als Gewesenes aufbewahrt und für Zukünftiges aufbehalten zu sein. Geschichtliche Reichweite dieser Art kommt offenbar solchen Gedanken zu, die weder in ihrem Entstehen noch in ihrer Wirksamkeit in der Verfügbarkeit der sich souverän setzenden, neuzeitlichen Vernunft stehen. Die Idee von ‚Seinsgeschichte‘ ist also das Interpretament von Heideggers Werk-Begriff: Wie allgemein das Gewesene der verborgene, Möglichkeiten des Zukünftigen bewahrende, Grund ist, so birgt analog der späte Nachlass das entscheidende Potential für die Zukunft der Deutschen oder des Abendlandes, nicht aber der Menschheit.[44] Um es geschichtlich wirksam werden zu lassen, bedarf es allerdings der postmetaphysischen, die Zeit des Seins bedenkenden, Philosophie Heideggers und der darauf begründeten Präsentation des Werks.[45]

Heideggers Editionsprojekt fußt inhaltlich auf einer ‚seinsgeschichtlichen‘ Deutung von Nietzsches Denken als Ende der Metaphysik, die bereits ein ‚seinsgeschichtliches‘ Verständnis von Interpretation als Methode der Befassung mit dem überlieferten Gedachten und Gefühlten zur Anwendung bringt.[46] Darunter kann nicht mehr ein hermeneutisches Verfahren, mittelst dessen die Bedeutung eines Textes im subjektiven Sinne der mens auctoris oder im objektiven Sinne eines ‚an sich‘ bestehenden gedanklichen Gehalts zu klären ist, verstanden werden. Interpretation ist vielmehr als Moment eines Geschehens von Sein zu denken; als jene, Geschichte in Heideggers Sinn initiierende Erschließung der Gedanken Nietzsches, hat sie selbst den Charakter des Geschehens. Diese geschehensimmanente Erschließung, die selbst ein Geschehen ist, wird mit dem Terminus Auseinandersetzung belegt,[47] der zwei Hauptbedeutungen hat: Zum einen spielt die Herstellung zeitlich-geschichtlicher Distanz zwischen interpretiertem und interpretierendem Gedanken eine Rolle; zum anderen ist die Bedeutung von Gegnerschaft, Kampf wesentlich. Dazu heißt es, Auseinandersetzung sei „auslegende[r] Aufbau des Hinstellens des Gegners […] in seiner höchsten Kraft und Gefährlichkeit“.[48] Die Verbindlichkeit eines Gedankens kann ‚seinsgeschichtlich‘ nur durch geschichtliche Auseinandersetzungen „erkämpft“ werden, weil die Idee außergeschichtlicher Geltung „überwunden“ ist. Auch die konkrete Ausgestaltung der Edition wird durch das „Konzept“ der ‚Seinsgeschichte‘ geprägt. Wie Interpretation und Edition ineinandergreifen, zeigt Heideggers Vorschlag der Anordnung der Nachlassfragmente nach so genannten Grundstellungen,[49] die er aus der „gewaltsamen“ Anwendung seines ‚seinsgeschichtlichen‘ Konzepts von Metaphysik auf Nietzsches Denken gewinnt.[50]

Folgenreich ist die Begründung von Interpretation und Edition auf dem Konzept der ‚Seinsgeschichte‘ auch für die Verbindung von Realgeschichte und ‚idealer‘ Geschichte der Seinsbedeutungen in der Artikulation der Zielsetzung, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen. Es muss als Implikation dieses Konzepts begriffen werden, dass Heideggers angeblich „widerwillig“ akzeptierte Mitarbeit an der HKGW beabsichtigt,[51] das von Nietzsche Gedachte vermittelst der Publikation seiner späten Manuskripte in einer bestimmten realgeschichtlichen Situation – dem sogenannten Dritten Reich – sowohl zu realer politischer wie zu philosophischer Wirksamkeit zu bringen. Heidegger ist überzeugt, nur so könne die geschichtliche Existenz des deutschen Volkes gesichert werden,[52] dass es durch die Erkenntnis des Nihilismus in jene, seine Zukunft entscheidende Situation versetzt wird, die dank Heideggers Philosophie als Ende der Metaphysik und Möglichkeit des anderen Anfangs, als Denken des Seins aus der Zeit, erkannt werden kann. Diese Einsicht ermöglicht es dem Denker auch, das Verhältnis von Philosophie und Politik in einer konkreten geschichtlichen Lage zu bestimmen: „Es ist überdies bekannt, daß die beiden Männer, die in Europa von der politischen Gestaltung der Nation bzw. des Volkes her – und zwar in je verschiedener Weise – Gegenbewegungen eingeleitet haben, daß sowohl Mussolini wie Hitler von Nietzsche wiederum in verschiedener Hinsicht wesentlich bestimmt sind und dieses, ohne daß dabei der eigentliche metaphysische Bereich des Nietzscheschen Denkens unmittelbar zur Geltung käme.“[53] In dem durch Nietzsche bestimmten Ziel der Überwindung des Nihilismus stimmen die Staatsmänner und der Denker überein; Notwendigkeit und Möglichkeit der eingeleiteten politischen Gegenbewegungen in ihrem metaphysischen Grund zu erkennen, ist allerdings Heidegger vorbehalten.

2

Im Zentrum seiner ‚seinsgeschichtlichen‘ Auseinandersetzung mit Nietzsche, von der die geplante Edition gänzlich abhängig gemacht wird, steht der Nachweis, dass im Denken Nietzsches die Metaphysik an ihr Ende gekommen ist, dieses Ende aber als solches nicht von Nietzsche selbst gedacht werden kann. Wie dieses Ergebnis erzeugt wird, soll hier anhand der ersten Vorlesung aus dem WS 1936/37 in groben Zügen rekonstruiert werden. Am Beginn der Gedankenführung steht die Kennzeichnung von Nietzsches metaphysischer Grundstellung:[54]

„1. Der Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ nennt den Grundcharakter des Seienden.“[55]

2. Der Wille zur Macht ‚ist‘ als ewige Wiederkehr des Gleichen.[56]

3. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ‚ist‘ als die „höchste[…] Bestimmung [und d. h. als die zeithafte Wahrheit] des Seins“[57]

Heidegger macht keinen Hehl daraus, dass er dieser Verhältnisbestimmung von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr sein eigenes Verständnis von Philosophie als Frage nach dem Sinn von Sein unterlegt: Über die bisherige Ontologie hinausgehend gelte es, den Sinn des Seins selbst zu bestimmen, und „Sinn“ sei „dabei genau in seinem Begriff umgrenzt als dasjenige, von woher und auf Grund wovon das Sein überhaupt als solches offenbar werden und in die Wahrheit kommen kann.“[58] In der Vorlesung vom WS 1936/37 ist der Gedanke von der ewigen Wiederkehr als Nietzsches Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins angesetzt. Damit ist die Behauptung aufgestellt, es gehe Nietzsche, wie der gesamten Metaphysik, um die Frage nach dem, was das Seiende ist, und seine Antwort, die Wahrheit des Seins qua Wille zur Macht sei die ewige Wiederkehr, setze den Zeitsinn der Präsenz fraglos voraus.[59] Das Ziel dieser Vorlesung besteht darin zu erweisen, dass Nietzsche die ewige Wiederkehr als Grund des Seins denken musste, um den Willen zur Macht als Sein des Seienden unter der Bedingung des Nihilismus überhaupt fassen zu können. Und mit diesem Nachweis der notwendigen Einheit beider Gedanken soll Nietzsches Position als das Ende der abendländischen Metaphysik kenntlich werden.

Den um den Anschein von Text-Nähe bemühte Interpretationsgang Heideggers gilt es im Folgenden zu analysieren. Dass es für Nietzsche notwendig ist, die ewige Wiederkehr des Gleichen als Sinn des Seins qua Wille zur Macht geltend zu machen, leitet Heidegger in dieser Vorlesung aus dem unter der Bedingung des Nihilismus als geschichtlicher Tatsache notwendig hervorbrechenden Entsetzen angesichts des Zwiespalts zwischen Kunst und Wahrheit her: und dieses Entsetzen belegt er zunächst durch eine Selbstbeschreibung Nietzsches von 1888: „Noch jetzt stehe ich [Nietzsche] mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt.“[60] Um nun Heideggers Verständnis dieses Zwiespalts begreiflich zu machen, ist bei dessen Deutung von Nietzsches Umdrehung des Platonismus einzusetzen, die dem Anschein entgegen doch keine Herausdrehung, das heißt keine Abschaffung des platonischen Ordnungsschemas als solchen, zustande bringen soll.[61] Nietzsche erkennt nach Heidegger, dass der Anspruch der Erkenntnis, das Wahre zu erfassen, unhaltbar ist. Begriffe, Kategorien, Urteile und Gesetze sind bloß der Selbstinterpretation des Subjekts entnommene logische Formen, denen keinerlei Objektivität zukommt. Nietzsche erkennt auch, dass die Geschichte des abendländischen Denkens durch den Platonismus beherrscht ist und dass diese Grundgestalt der Metaphysik notwendig in den Nihilismus führt. Diese Einsicht in die Nichtigkeit aller Spielarten, das Übersinnliche als Wert anzusetzen, hat zunächst die Umdrehung des Platonismus zur Folge, die das Sinnliche zum Wahren erheben muss. Denn Nietzsche „kann nicht meinen“, – so der Interpret – dass mit der Abschaffung der vormals wahren Welt zugleich die aus dem Gegensatz zu dieser bestimmte scheinbare Welt des Sinnlichen abgeschafft wird. Wenn nämlich diese beiden Bestimmungen den Bereich dessen erschöpfen, was das Seiende ist, würde „alles in das reine Nichts“ fallen.[62] Nietzsches „innerster denkerischer Wille“ gehe aber im Gegenteil dahin,[63] den Nihilismus zu überwinden.[64] Also rettet er das Seiende in Gestalt des Sinnlichen und stuft das Verhältnis zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem neu ein:[65] Das Lebendige hat den Charakter des Perspektivischen, und das heißt es legt das ihm Begegnende allein unter der Rücksicht seiner Nützlichkeit zu seiner eigenen Lebenserhaltung und -steigerung aus.[66] Was im Ansehen der Erkenntnis steht, ist demnach nichts als Zurechtmachung der Dinge zu diesem Zweck. Das „Wahre als das Beständige, ist eine Art von Schein, der sich als notwendige Bedingung der Lebensbehauptung rechtfertigt.“[67] Von den jeweiligen Perspektiven der Triebe und Kräfte will Heidegger das Perspektivische selbst und als solches als jene dem Sinnlichen als dem Realen zugehörige Art von Wahrheit unterscheiden, in der „überhaupt etwas sich zeigt und zum Vorschein kommt“.[68]

Dem ‚seinsgeschichtlichen‘ Interpretationsmodell zufolge bestimmt Nietzsche zunächst das Sein des Seienden als das durch den Willen zur Macht bestimmte Sinnliche und dessen spezifische Art von Wahrheit als perspektivisches Scheinen-lassen. Als Beleg für diese Deutung verwendet Heidegger das folgende Stück aus dem Jahr 1886: „Ich [Nietzsche] setze also nicht ‚Schein‘ in Gegensatz zur ‚Realität‘, sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in einen imaginativen Wahrheitswert widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre der ‚Wille zur Macht‘, nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren, flüssigen Proteus-Natur aus.“ (NL, KSA 13, 50)[69] Dieses Stück ist zurecht für eine nicht- oder antimetaphysische Deutung Nietzsches in Anspruch genommen worden. Denn es besagt, dass der Wille zur Macht gerade keine metaphysische Konzeption des Seins von Seiendem ist, sondern ein bloßer Name, mit dem jenes Innere, das nur in seinen unendlichen und unendlich verschiedenen Auslegungen sichtbar werden kann, bloß zu bezeichnen ist. Das aber heißt, dass auch die Bedeutung dieses Namens nur als eine beliebige unter unendlich vielen Auslegungen gelten muss und keinen privilegierten Status als Erkenntnis des Seins der Dinge in ihrem Inneren oder Wesen beanspruchen kann.[70]

Um der Einrede, damit sei jeder Möglichkeit von Metaphysik der Boden entzogen, zum Trotz sein Interpretationsziel, Nietzsches Denken sei die letzte Gestalt der Metaphysik, erreichen zu können,[71] verlagert Heidegger seine Problemstellung. Es geht jetzt um die Frage, welche – allein durch Menschen zu leistende – Erfassung des Seienden in seiner Wahrheit der Umdrehung des Platonismus gemäß ist. Allem Anschein nach ist es die Kunst, die der Wahrheit des Seins qua perspektivisches Scheinen-lassen angemessen ist. Denn die „Kunst ist der eigentlichste und tiefste Wille zum Schein“;[72] sie ist daher „mehr wert als die Wahrheit“, und das heißt sie ist „als Verklärung lebenssteigernder denn die Wahrheit als Festmachen eines Anscheins“.[73] Wenn das Leben als Wille zur Macht ‚ist‘, indem es sich vermittelst perspektivischer Auslegungen seiner selbst über sich und über anderes Seiende hinaus zu steigern sucht, ist es der Kunst vorbehalten, dieses Sein des Seienden in seiner genuinen „Wahrheit“ qua perspektivisches Scheinen zum Scheinen zu bringen.[74]

Zwischen Kunst und Wahrheit besteht genauer besehen ein zwiespältiges Verhältnis, insofern als die Kunst der Wahrheit des Wahren paradoxerweise nur in dem Sinne als angemessen gelten kann, als sie selbst bloßer Schein ist.

„Dieses Verhältnis wird aber erst entsetzlich, wenn wir bedenken, daß das Schaffen, d. h. die metaphysische Tätigkeit, die Kunst, noch eine völlig andere Notwendigkeit erhält in dem Augenblick, wo die Tatsache des größten Ereignisses, des Todes des moralischen Gottes, erkannt ist. Jetzt ist das Dasein überhaupt nur noch zu überstehen im Schaffen, d. h. die Überführung der Realität in die Macht ihres Gesetzes und der höchsten Möglichkeiten gewährleistet überhaupt noch das Sein. Schaffen aber ist als Kunst Wille zum Schein, steht in der Entzweiung zur Wahrheit.“[75]

Der Tod Gottes ist das Signum des Nihilismus, der den Menschen in die absolute Sinnlosigkeit stürzt und ihn mit dem Verlust aller an sich bestehenden Werte in das Schaffen als einzig mögliche Weise zu existieren zwingt. Dann aber wird der Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit „entsetzlich“: Produziert das Schaffen qua Kunst selbst nur Schein, verfestigt es den Zustand der Sinnlosigkeit und zerstört jede Aussicht auf deren Überwindung. Wird aber das Entsetzen ausgehalten, ermöglicht es die Peripetie: Die Kunst kommt als höchster Wille zur Macht zu sich selbst und will das Werden und das Scheinen ‚sein‘. Bejahung des Werdens bedeutet aber, es als solches ‚beständig‘ zu machen, und das heißt als ewige Wiederkehr des Gleichen zu denken.[76] „Für Nietzsche bleibt das ‚Seiende‘ (Wirkliche) das Werden und das ‚Sein‘, eben die Festmachung und Verbeständigung. Nietzsche bleibt in der Metaphysik hängen: vom Seienden zum Sein; und Nietzsche erschöpft alle Möglichkeiten dieser Grundstellung“.[77] Mit dieser philosophiegeschichtlichen Positionsbestimmung Nietzsches verbindet Heidegger die metaphilosophische These, Nietzsche sei es, „ohne dass [er] es eigentlich zu wissen bekam, um die Selbstbegründung der Philosophie“ gegangen,[78] die schließlich zur Einsicht in deren Begründung im Wesen der Wahrheit werde. Indem sich Nietzsches Denken dem Nihilismus als „geschichtliche[r] Tatsache“ stellt und dessen Konsequenzen gedanklich zum Austrag bringt,[79] wird die neuzeitliche Figur der Selbstbegründung der Philosophie gebrochen zugunsten eines Verständnisses von Philosophie als Zur-Sprache-bringen der allem Denken vorgelagerten geschichtlichen Wahrheit.[80] Und dieser Wandel, in dem sich die Philosophie aus dem Paradigma neuzeitlicher Rationalität herausdreht, kann – oder muss sich vermutlich – ohne Wissen des Denkers vollziehen; in Befindlichkeiten wie dem Entsetzen wird der Denker von diesem überkommen, und darin bezeugt sich gerade dessen geschichtliche Notwendigkeit.

Reflektieren wir resümierend auf das Verfahren mittels dessen dieses Ergebnis hervorgebracht werden konnte. Es handelt sich weder um eine auf das Subjekt des Gedankens, noch auf dessen objektiven Gehalt bezogene Interpretation von Texten, sondern um eine ‚gewaltsame‘ Auseinandersetzung,[81] die jene ‚Logik‘ von Gedankenfolgen ermittelt, die durch eine allem Denken vorgelagerte geschichtliche Notwendigkeit begründet sein soll. Es ist evident, dass Heidegger damit Maßstäbe für das Ge- und Misslingen von Interpretation eingeführt hat, die gegen Einreden, die sich aus den Paradigmen des 19. und 20. Jahrhunderts speisen, immun sind. Es ist auch klar, dass er eine zirkuläre Begründungsfigur aufbietet, um sein Unternehmen zu rechtfertigen: Unter Zugrundelegung des Konzepts der ‚Seinsgeschichte‘ soll Nietzsches Texten die „Einsicht“ abgewonnen werden, dass er der geschichtlichen Tatsache des Nihilismus in ihrem metaphysischen Horizont denkerisch gewachsen war und dass er – wenn auch unwissentlich – eine neue Bestimmung von Philosophie ermöglicht hat. Auf dem Boden dieser Ergebnisse rechtfertigt Heidegger sein eigenes, Interpretation und Edition integrierendes, Projekt konsequenterweise als geschichtlich notwendiges Unternehmen, das der geschichtlichen „Hauptaufgabe“, den Nihilismus zu überwinden, dient.[82]

Blickt man abschließend auf die Implikationen und Konsequenzen dieses Unternehmens, muss das Konzept der ‚Seinsgeschichte‘ noch einmal hinsichtlich seiner philosophisch und politisch fragwürdigen Implikationen konturiert werden.[83] Ich beschränke mich auf zwei miteinander verschränkte Punkte: 1. Die Einheit von Bedeutungs- und Realgeschichte und 2. die Einsetzung des Volkes als Akteur der Geschichte. Unter ‚Seinsgeschichte‘ wird ein zeithaftes Geschehen verstanden, in dem sich Bedeutungen von Sein ereignen, die durch das Verhältnis des Menschen zu diesem Geschehen für die Bezüge des Menschen zu sich, zu anderen und zu Dingen realgeschichtlich bestimmend werden. Der Mensch steht immer schon in der Geschichte des Wesenswandels der Wahrheit, und es wäre töricht – wie Heidegger sagt – aus ihr herausspringen zu wollen.[84] Seins- und Realgeschichte als einheitlichen Geschehenszusammenhang zu denken, ist nach dem Ende der Metaphysik notwendig. Daraus, dass der Gegensatz von Zeit und Ewigkeit obsolet wird, folgt für Heidegger, dass die sich unabhängig vom Menschen vollziehende Wahrheit des Seins als das seine wirkliche Geschichte durchherrschende Geschehen erfahrbar werden kann. Der Mensch kann sich in dieser Lage entweder ins Verhältnis zu dem Grund der Metaphysik, dem ganzen Zeitspielraum des Seins, setzen und damit in eine neue geschichtliche Epoche eintreten, oder er bleibt – sein eigenes geschichtliches Wesen verkennend – in „schleichende[r] Verlogenheit“ den morschen Überresten von Religion,[85] Philosophie und Politik verhaftet. Darin sieht Heidegger die höchste Verantwortung der Philosophie, den Menschen seiner Gegenwart vor die Not dieser Entscheidung zu stellen.

Das unabhängig vom Menschen sich vollziehende Seinsgeschehen bildet nach Heidegger also mit der Realgeschichte die eine und einzige Einheit eines partikularen Gesamtgeschehens, in dem sich das Schicksal der Völker entscheidet.[86] „Es liegt im Wesen einer schaffenden Zielsetzung und deren Vorbereitung, daß sie als geschichtliche nur in der Einheit des vollen geschichtlichen Daseins des Menschen in der Gestalt des einzelnen Volkes zum Handeln und zum Bestand kommt.“[87] Mit dem Rationalismus und Platonismus der Metaphysik werden normative universalistische Kategorien wie Recht und Menschheit und die daraus begründeten Formen politischer Herrschaft, Demokratie oder Republik, hinfällig. Die Wahrheit des Seins ist eine partikulare Wahrheit, die einem bestimmten Volk in einem bestimmten Raum und in einer bestimmten Zeit[88] sein Schicksal bestimmt.[89] Die metapolitische Programmatik, die Heidegger in den 30er Jahren mit dem Konzept der ‚Seinsgeschichte‘ verbindet, beinhaltet daher die philosophische Aufgabe, einem bestimmten „Menschentum“,[90] dem deutschen Volk, seine in einem unvordenklichen Wahrheitsgeschehen begründete Zukunft zu eröffnen, die es seine den Griechen komplementäre geschichtliche Stellung einnehmen lässt.

Der Philosoph könnte sich dabei nicht ohne Selbstwiderspruch auf eine Theorie oder – wie auch immer geartete – Erkenntnis des Wahrheitsgeschehens stützen: Das „Denken des Seyns ist keine ‚Lehre‘, und kein ‚System‘, sondern [muss] die eigentliche Geschichte […] werden“.[91] Der Denker kann wie die Staatsmänner dazu beitragen, Geschichte zu initiieren.[92] Weil es Nietzsche ist, der die Gegenwart in ihrem geschichtlichen Wesen am tiefsten begriffen hat, kommt alles darauf an, durch die Auseinandersetzung mit seinem Denken „den kommenden Geschlechtern …das Zukünftigste seines Ringens sichtbar zu machen“, wie im Brief von 1938 gesagt wurde. An den peinlichen Versuchen seiner Zeitgenossen, Nietzsche in einer allzu billigen Weise den politischen und ideologischen Desideraten des Nationalsozialismus verfügbar zu machen, beteiligt sich Heidegger nicht.[93] Aber als die von Heidegger geltend gemachten Zeugnisse geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus taugen, seine Befassungen mit Nietzsche auch nicht.[94] Im Gegenteil: Die Vorlesungen beweisen in Verbindung mit den Reden und Dokumenten von 1933 mindestens bis zum Ende der 30er Jahre, zu denen auch die sogenannten Schwarzen Hefte gehören, dass Heidegger eine eigene ‚seinsgeschichtliche‘ Version von Nationalsozialismus ersonnen hat und politisch umzusetzen bestrebt war.[95]

Online erschienen: 2023-11-01
Erschienen im Druck: 2023-10-25

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/NIFO-2023-001/html
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