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Berner Samstagsgeheimnisse. Die Vertikale als Erzählformel in der ›Melusine‹

  • Hildegard Elisabeth Keller
Veröffentlicht/Copyright: 15. Januar 2008
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Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
Aus der Zeitschrift Band 127 Heft 2

Für den Namen von Ringoltingen entschied sich eine jener nobilitierten Aufsteigerfamilien, die wie Kometen am Stadtberner Polithimmel des 15. Jahrhunderts erschienen und nach ein paar Jahrzehnten im Zenith wieder verschwanden. So ein strahlender Name ist plötzlich da: Er leuchtet auf an der Spitze einer für eidgenössische Verhältnisse markant stratifizierten Stadtgesellschaft und überlebt – im Ausnahmefall derer von Ringoltingen – in der Memoria der Literaturwissenschaftler des 21. Jahrhunderts dank dem von Junker Thüring (um 1415–1483) verfassten Prosaroman ›Melusine‹ (1456). Die Etappen des familialen Aufstiegsweges bleiben, für die Zeitgenossen kaum minder als für die Historiker, weitgehend im Dunkeln: »Ihr Werdegang, der Aufstieg in die Spitze der Gesellschaft und die höchsten Ämter der Stadt entziehen sich unseren Kenntnissen.« Eine solche partielle Ausleuchtung eines familienhistorischen Weges ist konstitutiv für den Blick dieser Familien ›nach oben‹, zu einer Adelselite, an die sie ihr harkomen anzubinden suchen. Wie vielfältig sich diese eine, ›aufwärts führende‹ Richtung der sozialraumbezogenen Vertikale in Thürings Roman widerspiegelt, verdeutlichte Jan-Dirk Müllers ›Melusinen‹-Lektüre. Sie hat mich zu der hier präsentierten Untersuchung der Semantik der Vertikalen angeregt – einer Kategorie, welche in die Erzählstrukturen hinein führt und thematisch und poetologisch greifbar wird und zugleich für das soziohistorische Entstehungsumfeld des Texts und dessen Selbstdeutung relevant bleibt. Insbesondere fand ich mich in meiner These bestärkt, dass gerade die komplementäre, ›abwärts führende‹ Richtung der Vertikalen zu erhellen vermag, inwiefern sich textinterne und -externe Familiengeschichten einerseits, genealogisches Denken und poetologische Modelle andererseits ineinander reflektieren. ›Unten‹ – das meint genealogisch gesprochen die Wurzeln des Stammbaumes, das harkomen von den Vorfahren und möglicherweise auch eine im stratifikatorisch-soziologischen Sinne ›niedere‹ Herkunft.

Online erschienen: 2008-01-15
Erschienen im Druck: 2005-August-29

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005

Artikel in diesem Heft

  1. Die lateinisch-altrunische Kontakthypothese im Lichte der sprachhistorischen Evidenz
  2. Gewalt – Text – Ritual. Performativität und Literarizität im ›König Rother‹
  3. Berner Samstagsgeheimnisse. Die Vertikale als Erzählformel in der ›Melusine‹
  4. Enea Silvio Piccolominis ›Historia Austrialis‹. Anmerkungen zu einer neuen Studie über die Fassungen des Werks
  5. Helmut Glück, Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit
  6. Charles V. J. Russ, Die Mundart von Bosco Gurin. Eine synchronische und diachronische Untersuchung
  7. Irma Taavitsainen u. Andreas H. Jucker (Hg.), Diachronic Perspectives on Address Term Systems
  8. Mirjam-Kerstin Holl, Semantik und soziales Gedächtnis. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann
  9. Helmut Tervooren, Jens Haustein (Hg.), Regionale Literaturgeschichtsschreibung
  10. Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger und Horst Wenzel in Verbindung mit Kathrin Stegbauer (Hg.), Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters
  11. John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002
  12. Sonja Emmerling, Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des ›Parzival‹. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell
  13. Otto Neudeck, Erzählen von Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung von Geschichte in mittelhochdeutscher Literatur
  14. Der deutsche ›Lucidarius‹. Band 3, Kommentar, von Marlies Hamm
  15. Mechthild von Magdeburg, ›Das fließende Licht der Gottheit‹, hg. v. Gisela Vollmann-Profe
  16. Heidelberger Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der ›Frankfurter Dirigierrolle‹, des ›Frankfurter Passionsspiels‹, des ›Alsfelder Passionsspiels‹ und des ›Fritzlarer Passionsspielfragments‹, hg. v. Johannes Janota
  17. Guntram Haag, Traum und Traumdeutung in mittelhochdeutscher Literatur. Theoretische Grundlagen und Fallstudien
  18. Christian Kiening, Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit
  19. Johannes Reuchlin: Briefwechsel, Bd. 2 (1506–1513), bearbeitet von Matthias Dall'Asta und Gerald Dörner
  20. Hans-Jörg Künast, Helmut Zäh, Die Bibliothek Konrad Peutingers. Edition der historischen Kataloge und Rekonstruktion der Bestände, Band 1: Die autographen Kataloge Peutingers. Der nicht-juristische Bibliotheksteil
  21. Nicodemus Frischlin, Sämtliche Werke. Dritter Band: Dramen III. 1. Teil: Priscianus vapulans. Der geschlagene Priscian. Iulius redivivus. Julius Caesars Rückkehr ins Erdenleben, hg. u. übers. v. Christoph Jungck und Lothar Mundt
  22. Notker Hammerstein, Bildung und Wissenschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert
  23. Eingesandte Schriften
Heruntergeladen am 29.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/BGSL.2005.208/html
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