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Griechische Grenzverschiebungen. Transformationen des Hellas-Bildes im griechischen Nationalstaat

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Grenzen der Antike
Ein Kapitel aus dem Buch Grenzen der Antike
Griechische Grenzverschiebungen259Griechische Grenzverschiebungen. Transformationendes Hellas-Bildes im griechischen NationalstaatOliver LeegeBereits die Gründung eines Nationalstaates mit dem antiken Namen »Hellas« sig-nalisierte den Versuch einer Aufhebung der Grenzen der griechischen Antike, derzahlreiche Antike-Transformationen nach sich zog: Hellas sollte demnach nichtnur gewesen, sondern – wie auch immer geartet – erneut da sein. Die dazu erfor-derliche weitgehende projektive Identifikation gräkophoner Christen mit den Hel-lenen, die allerdings nie einen Nationalstaat gekannt hatten, führte die Griechenzu einer beharrlichen Suche nach den zeitlichen und räumlichen Grenzen von Hel-las, das für sie nun beinahe antik und modern zugleich war. Die Grenzdebatten,Grenzverschiebungen und Grenzkonflikte, welche die 180-jährige Geschichtedieses Staates prägten (und immer noch prägen), steuerten maßgeblich dazu bei,dass diese Transformationsprozesse äußerst erfolgreich verliefen und sich da-durch ein in Europa wohl einzigartiges (wenn auch bisweilen obskur und be-fremdlich wirkendes) Verhältnis zur Antike herausbilden konnte. Fungiert näm-lich die griechische Antike in den meisten europäischen Staaten als eingrundlegender Aspekt weit zurückliegender gesamteuropäischer Kulturge-schichte, wird sie in diesem Land, das unter jahrhundertelanger osmanischer Herr-schaft von den historischen und kulturellen Entwicklungen in Westeuropa weitge-hend abgegrenzt war, oft als eine nahezu unmittelbar erlebte Vergangenheitempfunden, deren Geschichte als ein exklusives nationales Eigentum zu betrach-ten sei.Gegründet wurde der griechische Nationalstaat im Jahr 1830, in der Folgedes griechischen Unabhängigkeitskrieges von 1821 gegen das Osmanische Reich.Die Grenzen des Staates umfassten zu dieser Zeit allerdings noch nicht sämtlicheGebiete, die heute zu Griechenland zählen. Der am Südzipfel des Balkans gegrün-dete Staat umfasste zunächst folgende Regionen: die Halbinsel der Peloponnes,die Inselgruppe der Kykladen und der nördlichen Sporaden, die Insel Euböa undschließlich das griechische Festland, dessen Grenze im Norden südlich der StädteArta im Osten und Volos im Westen verlief.1 Thessalien, Epirus, die griechischen1 Über die Grenzen des Nationalstaates wurde lange verhandelt. Die oben genannten Grenzenwurden 1831 in London endgültig beschlossen. Zuvor sah das Londoner Protokoll von 1830

Griechische Grenzverschiebungen259Griechische Grenzverschiebungen. Transformationendes Hellas-Bildes im griechischen NationalstaatOliver LeegeBereits die Gründung eines Nationalstaates mit dem antiken Namen »Hellas« sig-nalisierte den Versuch einer Aufhebung der Grenzen der griechischen Antike, derzahlreiche Antike-Transformationen nach sich zog: Hellas sollte demnach nichtnur gewesen, sondern – wie auch immer geartet – erneut da sein. Die dazu erfor-derliche weitgehende projektive Identifikation gräkophoner Christen mit den Hel-lenen, die allerdings nie einen Nationalstaat gekannt hatten, führte die Griechenzu einer beharrlichen Suche nach den zeitlichen und räumlichen Grenzen von Hel-las, das für sie nun beinahe antik und modern zugleich war. Die Grenzdebatten,Grenzverschiebungen und Grenzkonflikte, welche die 180-jährige Geschichtedieses Staates prägten (und immer noch prägen), steuerten maßgeblich dazu bei,dass diese Transformationsprozesse äußerst erfolgreich verliefen und sich da-durch ein in Europa wohl einzigartiges (wenn auch bisweilen obskur und be-fremdlich wirkendes) Verhältnis zur Antike herausbilden konnte. Fungiert näm-lich die griechische Antike in den meisten europäischen Staaten als eingrundlegender Aspekt weit zurückliegender gesamteuropäischer Kulturge-schichte, wird sie in diesem Land, das unter jahrhundertelanger osmanischer Herr-schaft von den historischen und kulturellen Entwicklungen in Westeuropa weitge-hend abgegrenzt war, oft als eine nahezu unmittelbar erlebte Vergangenheitempfunden, deren Geschichte als ein exklusives nationales Eigentum zu betrach-ten sei.Gegründet wurde der griechische Nationalstaat im Jahr 1830, in der Folgedes griechischen Unabhängigkeitskrieges von 1821 gegen das Osmanische Reich.Die Grenzen des Staates umfassten zu dieser Zeit allerdings noch nicht sämtlicheGebiete, die heute zu Griechenland zählen. Der am Südzipfel des Balkans gegrün-dete Staat umfasste zunächst folgende Regionen: die Halbinsel der Peloponnes,die Inselgruppe der Kykladen und der nördlichen Sporaden, die Insel Euböa undschließlich das griechische Festland, dessen Grenze im Norden südlich der StädteArta im Osten und Volos im Westen verlief.1 Thessalien, Epirus, die griechischen1 Über die Grenzen des Nationalstaates wurde lange verhandelt. Die oben genannten Grenzenwurden 1831 in London endgültig beschlossen. Zuvor sah das Londoner Protokoll von 1830

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter i
  2. Inhaltsverzeichnis v
  3. Auf den Grenzen der Antike. Eine Einleitung 1
  4. Raumteilungen: Logik und Phänomen der Grenze 15
  5. Exodus. Gesetzgebung und Landnahme im kulturellen Gedächtnis Europas 27
  6. Klemens von Alexandrien und die Grenze zwischen Christen und Heidentum 39
  7. Die ordenunge dirre welte. Narrativierung und Integration antiken Wissens im mittelhochdeutschen Lucidarius 55
  8. Dionysos und die »Grenzen des schönsten Gebildes«. Martin Heideggers erster Griechenlandaufenthalt im Kontext seiner Re-Definition der griechischen Antike 69
  9. Die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Unterweltreisen in der klassischen Moderne 99
  10. Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther 117
  11. Lorenzo Valla und das Neue Testament 145
  12. Wissen über Grenzen: Die Entdeckung der indischen Philosophie und die Pluralisierung der Antike 169
  13. Der Limes als Kulturgrenze und seine Reflexion in herrschaftlichen Gärten um 1800: Eulbach und seine Vorgänger 209
  14. Rasse, Raum und Rom – Grenzkonstruktionen im British Empire 241
  15. Griechische Grenzverschiebungen. Transformationen des Hellas-Bildes im griechischen Nationalstaat 259
  16. Remus in Rheinsberg oder Leaping the fence the other way. Über die Funktionalität von Grenzziehungen in Gartenprogrammen des 18. Jahrhunderts 291
  17. »Historische Richtigkeit« und die Grenzen des Wissens. Die Pluralisierung der Altertümer durch Karl von Brühls Berliner Kostümreform 1815–1828 325
  18. Kanonisierung und neue Deutungsräume. Die Grenzen der Antike in Andreas Althamers Commentaria zur Germania des Tacitus (1536) 353
  19. Vom Imperium zur Souveränität und zurück. Raumpolitische Geltungsgrenzen zwischen Jean Bodins antiimperialem Souveränitätsverständnis und Carl Schmitts postsouveräner Imperiumsfurcht 377
  20. Register 411
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