Startseite Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik, Kristin Kuck, Lars Bülow & Robert Mroczynski (Hg.). 2023. Sprachliche Grenzziehungspraktiken. Analysefelder und Perspektiven (Studien zur Pragmatik 5). Tübingen: Narr Francke Attempo. 373 S.
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Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik, Kristin Kuck, Lars Bülow & Robert Mroczynski (Hg.). 2023. Sprachliche Grenzziehungspraktiken. Analysefelder und Perspektiven (Studien zur Pragmatik 5). Tübingen: Narr Francke Attempo. 373 S.

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Veröffentlicht/Copyright: 4. November 2025

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Marie-Luis Merten, Susanne Kabatnik, Kristin Kuck, Lars Bülow & Robert Mroczynski (Hg.). 2023. Sprachliche Grenzziehungspraktiken. Analysefelder und Perspektiven (Studien zur Pragmatik 5). Tübingen: Narr Francke Attempo. 373 S.


In Anbetracht des seit den letzten zwei Jahrzehnten gestiegenen Interesses an Border Studies und der sukzessiven Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs ist dieser Sammelband eine zeitgemäße und wünschenswerte Initiative. Er widmet sich aus sprachwissenschaftlicher Perspektive dem Phänomen der Grenzziehung. Da Grenzen im Rahmen der Border Studies nicht als etwas ‚natürlich‘ Gegebenes, sondern als soziales, politisches und epistemisches Konstrukt verstanden werden, verdient die sprachlich-diskursive Konstituierung von Grenzen besondere Aufmerksamkeit. Denn ein solches Konstrukt muss nicht zuletzt sprachlich-diskursiv konstituiert, perpetuiert und ggf. remodelliert werden. Ganz in diesem Sinne ist im Titel des Bandes auch nicht von ‚Grenzen‘ per se die Rede, sondern von ‚sprachlichen Grenzziehungspraktiken‘. In der Einführung wird dementsprechend zusammenfassend festgestellt, dass „die Beiträge des Bandes mehrheitlich heraus[arbeiten], dass Grenzen mehr oder weniger diffus, durchlässig und verhandelbar sind sowie sprachlich bzw. multimodal im Zuge allgegenwärtiger Grenzziehungs- und Positionierungspraktiken (ko-)konstruiert werden“ (S. 19). So weist der Gegenstandsbereich des Bandes über räumlich-territoriale Grenzen hinaus und wirft vor allem einen Blick auf die sprachliche Konstituierung sozialer und epistemischer Grenzen.

Der Bezug auf territoriale Grenzen spielt lediglich in einem der Beiträge eine Rolle, in dem es im Zusammenhang mit Diskursen über Migration um Bezüge auf die Sicherung territorialer Grenzen im neurechten Diskurs geht. Die so geartete Erweiterung des Blicks auf das Phänomen ‚Grenze‘ ist insofern plausibel, als Räumlichkeitskonzeption und -metaphorik den Sprachgebrauch nicht nur in vielfältiger Weise durchziehen, sondern sich auch auf Sprache und Kommunikation selbst beziehen. So kann etwas inner- oder außerhalb des Gegenstandsbereichs liegen, ober- oder unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, es kann jemand in sprachliche Kommunikation ein- oder ausgeschlossen werden, es kann eine Äußerung im Rahmen sein etc. Darauf verweisen die Herausgeber:innen gleich zu Beginn ihrer Einführung – und das nicht ohne Grund, denn die meisten der Beiträge beruhen auf solchen sprachlichen Räumlichkeitskonzeptionen und erhellen gerade nicht das Verhältnis zwischen sprachlicher und räumlicher Grenze, sondern vor allem die sprachliche Konstituierung sozialer und epistemischer Grenzen. Zwar werden in einigen Beiträgen auch die Grenzen und Grenzziehungspraktiken zwischen Kommunikationsbereichen (!) online und offline thematisiert, aber die Konzeptualisierung des digitalen Raums ist bereits Teil der vorgängigen räumlichen Konzeptualisierung von Sprache, sprachlicher Interaktion und Diskurs.

Vor diesem Hintergrund fächern die Beiträge ein interessantes Spektrum an Perspektiven auf. Dabei werden sowohl der Sprachgebrauch wie auch metasprachliche Äußerungen, sprachliche Interaktion und lexikalisch-semantische Felder untersucht. Dem Sprachsystem inhärent, damit aber auch epistemische Kategorisierungen reflektierend, sind etwa lexikalische Strukturen zur Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, wie in dem Beitrag von Lena Späth dargelegt. Die von Cordula Meißner analysierte adversative Konstruktion ‚es geht nicht um X, sondern um Y‘ wird ebenfalls als Mittel zur epistemischen Grenzziehung analysiert.

In einigen Beiträgen spielt Epistemisches auch in Gestalt von Sagbarkeitsgrenzen in Bezug auf nicht greifbare oder kaum verbalisierbare ‚Grenzerfahrungen‘ eine Rolle. Zwei der Beiträge in dem Band betreffen das Reden über den Tod, wobei es in dem Kapitel von Isabella Buck und Juliane Schopf um das Sprechen über Sterben und Tod in der medizinischen Kommunikation geht und in Karina Fricks Kapitel um Beiträge auf Online-Gedenkseiten. Dem Beitrag von Friedrich Markewitz liegen schriftliche Zeugnisse von Gefangenen im Ghetto Litzmannstadt zugrunde, deren Existenz davon zeugt, wie Opfer der Shoah versuchen, die „Grenzen des Nicht-Sagen-Könnens zu überwinden“ (S. 143).

Die Beiträge, die auf der Analyse metasprachlicher Äußerungen beruhen, zeigen auf, wie damit Grenzen bezüglich Angemessenheit und Normgerechtheit gezogen werden. Der Beitrag von Hanna Völker behandelt metasprachliche Äußerungen von Parlamentarier:innen im Bundestag in Debatten über Migration, wobei es um die Angemessenheit verbalen Bezugs auf zugewanderte Menschen geht. Fragen der Normgerechtheit thematisieren die Beiträge von Florian Busch und Judith Kreuz. Florian Busch analysiert metasprachlich reflektierende Äußerungen Jugendlicher über ihre sprachlichen Normorientierungen in verschiedenen Kontexten, beim Schreiben in der Schule und beim Verfassen von Textnachrichten in der Freizeit. Judith Kreuz untersucht normverfestigende meta­sprachliche Äußerungen im schulischen Kontext, in der Kommunikation im Klassenrat. Diese Beiträge heben also auf die Grenzziehungen ab, denen zufolge Charakteristika des Sprachgebrauchs situationsbedingt innerhalb oder außerhalb geltender Normen verortet werden. Dabei wird in den Beiträgen von Busch und Völker auch deutlich, dass (un-)angemessener Sprachgebrauch verschiedenen sozialen Gruppen zugewiesen wird und somit soziale Grenzziehungen vorgenommen werden.

Im Zusammenhang mit metasprachlichen Äußerungen können auch die Beiträge erwähnt werden, die sich Diskursen über Grenzen widmen. Simon Meier-Vierackers Beitrag analysiert neurechte Diskurse, in welchen die Sicherung oder Schließung territorialer Grenzen eingefordert und das angebliche Ausbleiben solcher Maßnahmen skandalisiert wird. Susanne Kabatnik untersucht Tweets zum Thema Depression, wobei Betroffene rekurrent ihren Zustand als ‚Grenze‘ im Sinne von Hemmnis und Limitierung thematisieren.

Einige der Beiträge beziehen sich mehr als die bisher genannten auf Räumlichkeit und Raumkonzeptionen. Der Beitrag von Konstanze Marx analysiert rekurrente Strategien der Gegenrede in Gestalt von Grenzziehungen zwischen ‚argumentativen Positionen‘, die überwiegend raummetaphorisch gefasst werden. Sarah Brommer fokussiert auf Sprachmuster, die als konstitutiv für Wissenschaftlichkeit gelten können, im Vergleich von Beiträgen in Fachzeitschriften und in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, wodurch unterschiedlich gelagerte Handlungsräume sprachlich konstituiert werden. Das bereits genannte Kapitel von Karina Frick zu Beiträgen auf Online-Gedenkseiten beschäftigt sich mit deiktischen Verweisen auf verschiedene (Diskurs-)Räume und mit transkontextuellen Elementen, wobei das Präfix trans auf das Überschreiten von Grenzen räumlich konzeptualisierter Kontexte hinweist. Auch die von Florian Busch analysierten metakommunikativen Aussagen enthalten die Unterscheidung verschiedener Diskursräume, die durch mehr oder weniger soziale Nähe und Formalität geprägt sind. Vermisst habe ich Beiträge, die sich der Grenz(voll)ziehung durch Sprache widmen, etwa dem Thema Sprachkompetenz in Migrationskontexten und in der Integrationspolitik oder Sprachpolitik und Mehrsprachigkeit. Dies sind thematische Schwerpunkte, auf denen aufbauend viel Relevantes zu sprachlichen Grenzziehungspraktiken zu sagen wäre.

Viele der Beiträge zeigen auf, wie soziale Grenzen sprachlich ausgehandelt und markiert werden, vor allem durch den Ein- und Ausschluss sozialer Gruppen oder bestimmter Adressaten. Annika Frank beschäftigt sich mit der Beleidigung als sozialer Grenzziehungspraktik und Ausgrenzung der beleidigten Person, wobei mit der möglichen Sanktionierung von Beleidigungen auch die oben schon erwähnten Sagbarkeitsgrenzen angesprochen werden. In Buschs Kapitel weisen metasprachliche Aussagen auch auf die soziale Grenzziehung zwischen Generationen hin. Völkers Beitrag verdeutlicht die strategische Verwendung metasprachlicher Thematisierungen, indem nicht angemessener Sprachgebrauch der ‚outgroup‘ zugewiesen wird. Aus Kabatniks Beitrag geht hervor, wie beim Reden über Depression eine ‚ingroup‘ von Betroffenen konstruiert wird, die eine Grenze zwischen ihren eigenen Erfahrungen und der Verständnislosigkeit einer nicht betroffenen ‚outgroup‘ zieht. In dem Kapitel von Markewitz wird deutlich, wie durch Ironie eine epistemische Grenze gezogen wird, indem diese Ironie ihre Funktion nur für die auf geteilter Erfahrung von Diskriminierung und Bedrohung beruhende ‚ingroup‘ entfaltet. Der Beitrag von Marx verdeutlicht Strategien der exkludierenden argumentativen Positionierung.

Die Beiträge sind ausnahmslos von guter Qualität und empirisch sowie konzeptuell solide fundiert. Sie sind den leicht unterschiedlichen Teildisziplinen der Sozio-, Diskurs- und Pragmalinguistik verpflichtet und wählen verschiedene methodische Herangehensweisen. Wie eingangs schon angemerkt, bettet sich der Fokus auf Grenzziehungspraktiken in weiter gefasste, über den physischen Raum hinausgehende Raumkonzeptionen ein. Darin liegt meines Erachtens zugleich eine Stärke und eine Schwäche des Bandes. Die Stärke besteht darin, dass diese Verfasstheit erstens eine Vielfalt an Gegenständen eröffnet und zweitens dem theoretischen Grundsatz der Konstruiertheit von Grenzen die Treue hält. In der Vielfalt der Gegenstände und Perspektiven lässt sich allerdings auch eine Schwäche sehen. Durch die große Offenheit dahingehend, was als Grenze und Grenzziehungspraktik betrachtet wird, gelingt es auf der einen Seite nicht so recht, das Konzept der Grenze, das Inventar der sprachlich-semiotischen Realisierung von Grenzen oder der strategisch-diskursiven Mobilisierung von Grenzziehungen weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite wären die in diesem Band versammelten Beiträge problemlos ohne das Konzept der Grenze ausgekommen. Sie können die Verbindung zum Thema zwar jeweils plausibel machen, aber es ließen sich in den meisten Fällen auch weitere oder anders gelagerte konzeptuelle Anknüpfungspunkte denken.

Genau diese Schwäche trifft bekanntlich auf viele dennoch nützliche Sammelbände zu – eine recht offen gehaltene, vielseitige Erkundung einer Thematik oder eines Konzepts kann in vielen Fällen geradezu als prägendes Charakteristikum betrachtet werden. Der Bezug auf räumliche Grenzen tritt im vorliegenden Band zwar in den Hintergrund, aber die vielen Beiträgen zugrunde­liegenden Raumkonzeptionen sind interessant. Das Konzept der – durch Grenzziehungspraktiken konstituierten – Grenze bleibt dadurch zwar etwas unscharf, der sich daraus ergebende Schwerpunkt auf soziale Inklusion und Exklusion ist allerdings durchaus relevant.

Im Fazit ergibt sich: Auch wenn der Band für künftige Forschung zu Grenze und Grenzziehung aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine belastbare konzeptuelle oder methodische Grundlage darstellt, bietet er zahlreiche Anknüpfungspunkte und setzt hoffentlich Impulse für die weitere Beschäftigung mit dieser sozial und politisch relevanten Thematik.

Online erschienen: 2025-11-04

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 11.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zrs-2025-2038/html
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