Abstract
Als Adolf Hitler 1933 das Amt des Reichskanzlers übernahm, galt in der Hansestadt Bremen das Rotlichtmilieu als polizeiliches Ordnungsproblem ersten Ranges. Früh begann dort die Kriminalpolizei, Sexarbeiterinnen und Zuhälter ohne richterliches Urteil, in alleiniger Zuständigkeit zu inhaftieren. Kurz nachdem Preußen im November 1933 die „vorbeugende Polizeihaft für Berufsverbrecher“ eingeführt hatte, diskutierte man in Fachkreisen deren Ausweitung auf Zuhälter. Die Begründungszusammenhänge, welche die Bremer Kriminalisten in dieser Debatte vorbrachten, legten einen wichtigen Grundstein für die Erweiterung des kriminalpräventiven Zugriffs auf neue Zielgruppen. Allerdings wurde die Geschichte der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in der Historiografie über den Nationalsozialismus lange vernachlässigt. Bis heute zählen Verfolgte wie die Zuhälter zu den „unbequemen Opfern“. Doch gerade ihre Geschichte rückt Traditionslinien und Entwicklungsdynamiken in den Blick, die, so zeigt Julia Hörath, zentral für das Verständnis der Radikalisierung von Polizei- und Strafgewalt seit dem Ende der 1930er Jahre sind.
Abstract
When Adolf Hitler became Reich Chancellor in 1933, the Bremen red light milieu was considered a top police problem in the city. Early on, the Criminal Police started to incarcerate sex workers and pimps on their own account without court judgments. Shortly after the introduction of the “preventative police detainment for professional criminals” policy in Prussia in November 1933, expert circles were already discussing its extension to include pimps. The argumentative contexts, which the Bremen criminalists presented in this debate, laid important groundwork for the extension of “preventative crime fighting” to new target groups. In the historiography of National Socialism, however, the history of “preventative crime fighting” has been neglected for a long time. To date persecuted persons such as pimps are considered “inconvenient victims”. Yet, as Julia Hörath shows, it is their history which highlights traditions and developmental dynamics which are central for the understanding of the radicalisation of police and penal power since the late 1930s.
Vorspann
Die Jahre 1933 bis 1938 standen im Zeichen kriminalpräventiver Strategien. Nach dem Machtanritt der Nationalsozialisten wurde die „Vorbeugungshaft“ für „Berufsverbrecher“ eingeführt, von der vor allem Mehrfachtäter im Bereich der Eigentumskriminalität betroffen waren, nicht jedoch Zuhälter, deren Verfolgung auf Schwierigkeiten stieß. In Bremen standen diese jedoch schon früh im Visier der Kriminalpolizei: Sie lieferte Argumente für die „Gefährlichkeit“ der Zuhälter, die sie als „Volksschädlinge“ bezeichnete, und stellte eine diskursive Verbindung zum „Berufsverbrechertum“ her. Die Hansestadt spielte, wie Julia Hörath zeigt, eine Vorreiterrolle bei der strategischen Ausweitung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf die Gruppe der Zuhälter.
I. Einleitung und Fragestellung
„Die Eigenart Bremens als Hafenstadt [...] hat stets das Vorhandensein eines [...] besonders zahlreichen Dirnentums zur Folge gehabt. [...] Hand in Hand hiermit machte sich das Zuhälterunwesen mit seinen üblen Begleiterscheinungen breit“.[1] Diese Einschätzung formulierte Conrad Parey, ab 1. Mai 1933 Leiter der Bremer Kriminalpolizei,[2] Personalreferent der Polizeidirektion und Pressereferent der Innenbehörde, in einer kriminologischen Abhandlung über die Methoden der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in Bremen, die er 1935 in den Kriminalistischen Monatsheften (KM) veröffentlichte. Ähnlich wie die Polizei in anderen Städten gegen „Berufsverbrecher“ und die sogenannten Ringvereine vorging, schritt die Bremer Polizei kurz nach der Machtübernahme Hitlers mit Kontrollen und Razzien gegen Zuhälter ein.[3] Außerdem ordnete sie – und darin unterschied sie sich von den meisten anderen Städten – bereits im ersten Jahr der NS-Herrschaft Überwachungsauflagen und gegebenenfalls einen straftatunabhängigen Freiheitsentzug für Personen an, die sie der Zuhälterei verdächtigte.[4] Kriminalkommissar Helmut von Dorpowski,[5] ein weiterer Spezialist der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in Bremen, schrieb 1936 rückblickend, dass von den insgesamt 70 Zuhältern, die man Anfang 1933 noch gezählt hatte, etwa 30 im Verlauf des Jahrs die Stadt verlassen hätten, „größtenteils nach Verbüßung von drei- bis sechsmonatiger Vorbeugungshaft“.[6] Auch die Zahl der Anzeigen wegen Zuhälterei sei zwischen 1932 und 1934 um 54 Prozent zurückgegangen.[7]
Der Ausdruck „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ ist eine zeitgenössische Sammelbezeichnung für die „planmässige polizeiliche Überwachung“, die polizeiliche „Vorbeugungshaft“ und die „Sicherungsverwahrung“, die, im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft eingeführt, die Regulierung von abweichendem Sozialverhalten und Kriminalität effektivieren sollten. Entsprechende Konzepte wurden seit dem ausgehendem 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine allgemeine Reform des Strafrechts entwickelt. Eine solche Reform schien notwendig, da die Entstehung der Kriminologie als Wissenschaft einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Strafrechtstheorie, den Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht, herbeigeführt hatte. Zentraler Strafzweck des Täterstrafrechts war die präventive Gefahrenabwehr.[8] Damit verschob sich die Stoßrichtung staatlicher Intervention von der Vergeltung vergangenen Unrechts hin zur Abwehr künftiger Gefahren. Gleichzeitig wohnte dem Täterstrafrecht die Tendenz inne, den Einfluss der Judikative auf die Verbrechensbekämpfung zu schwächen und die Exekutive zu stärken. Doch die Rechtsunsicherheit, die daraus zu erwachsen drohte, sorgte im demokratischen Gesetzgebungsverfahren für Reibungen, die den Prozess immer wieder ins Stocken brachten, bis die Bemühungen um eine Strafrechtsreform schließlich in der parlamentarischen Lethargie der untergehenden Weimarer Republik scheiterten.[9]
Erst der Machtantritt der Nationalsozialisten ermöglichte die Realisierung einiger zentraler Elemente der Strafrechtsreform auf dem Wege der Gesetzesnovellierung.[10] Andere präventive Maßnahmen wurden von eigenverantwortlich handelnden Akteuren aus den unteren und mittleren Verwaltungsbehörden zunächst auf lokaler Ebene erprobt, bevor sie Eingang in die Reichsgesetzgebung fanden. So entwickelte sich die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ in den ersten Jahren des NS-Regimes, die an anderer Stelle als „Phase des praktischen Experimentierens“[11] beschrieben wurden, in einem Wechselspiel zwischen zentralen und lokalen Instanzen. Dabei setzten die Reichsbehörden mit einigen punktuellen Vorgaben den Rahmen, den selbstermächtigte Akteure in den unteren und mittleren Verwaltungsebenen mit ihren Initiativen ausgestalteten, variierten und erweiterten. Der konkrete Zuschnitt ihrer Programme war oft stark an den lokalspezifischen Problemlagen orientiert, mit denen sie sich konfrontiert sahen.[12]
Mitte der 1930er Jahre setzte dann ein Prozess der Zentralisierung, Systematisierung und Radikalisierung im Polizeiapparat und in der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ ein, der im März 1937 sowie im April und Juni 1938 in Massenrazzien mündete, bei denen weit mehr als 10.000 Personen als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verhaftet und in Konzentrationslager (KZ) eingeliefert wurden. Die „Phase des praktischen Experimentierens“ verband die Eskalation der Kriminalprävention ab 1937/38 mit den Debatten und Konzepten der Strafrechtsreformbewegung vor 1933 wie ein Scharnier. Dem bislang wenig erforschten Zeitabschnitt zwischen 1933 und 1937/38 kam eine hohe Bedeutung in der Entwicklung der kriminalpräventiven Strategien zu. Hier konkretisierte sich die Zielgruppenbestimmung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, die Kooperation zwischen den beteiligten Akteuren wurde eingeübt; ebenso wurden die Legitimationszusammenhänge für das Vorgehen gegen „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ formuliert und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft.[13]
Einige der Verantwortlichen in den unteren und mittleren Verwaltungsebenen verfügten jedoch schon in dieser Phase über ein starkes Sendungsbewusstsein und hielten ihre lokalen Programme für besonders vorbildhaft. Bisweilen versuchten sie sogar, ihre Konzepte über das jeweilige Einzugsgebiet hinaus auf andere Regionen oder gar das gesamte Reich auszudehnen.[14] So waren auch einige Vertreter der Bremer Behörden in den 1930er Jahren davon überzeugt, mit ihrem Vorgehen gegen das Rotlichtmilieu Maßstäbe für die Politik auf Reichsebene zu setzen. Die staatsorganisatorische Sonderstellung als Stadtstaat ermöglichte der Bremer Verwaltung eine besonders zeitnahe und stringente Realisierung neuer Politikansätze und Verfolgungsmaßnahmen.[15] Die Senatsressorts unterstanden zwar als Mittelbehörden den jeweiligen Zentralbehörden in Berlin, doch behielt Bremen während der gesamten NS-Zeit eigene Residualgesetzgebungskompetenzen.[16] Hinzu kam, dass die Abstimmungserfordernisse, Kommunikationsprobleme und das Konkurrenzverhalten in der Landes- und der Kommunalpolitik entfielen, weil Stadt- und Landesverwaltung miteinander verbunden waren.[17]
Mit den Zuhältern rückten die Bremer Behörden eine Gruppe in das Visier der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, in der sich traditionell die Bilder des „Asozialen“ und des „Berufsverbrechers“ überlagerten. Daher fungierten die Zuhälter in den 1930er Jahren als wichtige Schnittstelle in der Entwicklung der kriminalpräventiven Polizeistrategien. Die Ausweitung der „planmässigen polizeilichen Überwachung“ und der „Vorbeugungshaft“ auf diese Zielgruppe, die eben nicht zu den „Berufsverbrechern“ im engeren Sinne zählte,[18] bewirkte eine deutliche Herabsetzung der polizeilichen Eingreifschwelle, was dazu beitrug, die Einbeziehung weiterer Gruppen vorzubereiten. Bremen spielte in diesem Prozess eine Vorreiterrolle. Die „Vorbeugungshaft“ für Zuhälter, mit der die Hansestadt schon in den frühen 1930er Jahren experimentiert hatte, wurde ab 1937/38 im ganzen Reichsgebiet angewandt. Gleichzeitig belegen die von den hanseatischen Kriminalisten in ihrem Kampf gegen das Rotlichtmilieu entwickelten Begründungszusammenhänge die Scharnierfunktion des Zeitabschnitts 1933 bis 1937/38.[19] Ihre Argumentationen schlossen einerseits an die Ende des 19. Jahrhunderts etablierten kriminologischen Diskursmuster an und werteten die in Bremen seit der „Machtergreifung“ gewonnenen praktischen Erfahrungen aus. Andererseits zeichneten sie einen Legitimationszusammenhang vor, der in ähnlicher Form auch in den Befehlen und Anordnungen für die Massenrazzien 1937/38 zu finden ist.
Trotz ihrer Relevanz für die Entwicklung und das Verständnis der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus sind die Zuhälter eine der am schlechtesten erforschten Untergruppen der „Asozialen“ beziehungsweise „Berufsverbrecher“. Zwar geben juristische Abhandlungen Aufschluss über den Wandel der strafrechtlichen Bestimmungen zur Ahndung von Zuhälterei, doch die Zeit des Nationalsozialismus wird dabei meist recht knapp besprochen.[20] Ein Blick in die kriminologische Literatur zum Thema offenbart die Veränderungen, vor allem aber die bemerkenswerten Kontinuitäten, die das Bild des Zuhälters vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart prägten.[21] Eine historiografische Darstellung der Geschichte der Zuhälterei liegt bislang nicht vor. Für die Zeit des Nationalsozialismus liefert jedoch die Studie von Patrick Wagner einen ersten Überblick.[22]
Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, das Vorgehen der Bremer Behörden als frühes Experimentierfeld der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ gegen Zuhälter zu rekonstruieren. Wer waren die verantwortlichen Akteure? In welchem rechtlichen Bezugssystem bewegte sich ihr Handeln und auf welche konzeptionellen Vorläufer stützten sie sich? Welche Rechtfertigungsmuster wurden aus den Debatten der Strafrechtsreform übernommen beziehungsweise welche diskursiven Verschiebungen sind zu beobachten? Welche Wirkungen meinte man, durch die Maßnahmen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf tatsächliche oder vermeintliche Zuhälter erzielen zu können? Um darüber hinaus die Dynamik zwischen den Zentralbehörden und den Akteuren in Bremen in den Blick zu nehmen, wird ein besonderes Augenmerk auf den Bezügen liegen, welche die Verantwortlichen in der Hansestadt zwischen ihren Maßnahmen und der Politik der Reichsregierung herstellten.
Die Ergebnisse des Beitrags weisen über die Regionalgeschichte Bremens beziehungsweise über die Geschichte der polizeilichen Verfolgung sozialer Randgruppen im Nationalsozialismus hinaus. Mit dem Diskurs über die Ausweitung der „Vorbeugungshaft“ auf Zuhälter wird eine rechtsgeschichtliche Traditionslinie der „Vorbeugungs-“ und „Schutzhaft“ in den Mittelpunkt gerückt, die bislang kaum Beachtung fand. So lassen sich die Diskussionen über den Ursprung der „Schutzhaft“ im militärischen Ausnahmezustand und im Polizeirecht, auf die sich die Historiografie bei ihrer Suche nach den Vorläufern bislang konzentrierte,[23] durch Überlegungen zur Tradition des „Gefahrenbegriffs“ in der Strafrechtsreformbewegung ergänzen, dem nicht nur für die rechtstheoretische Begründung der „Vorbeugungshaft“, sondern ebenso für die „Schutzhaft“ eine hohe Bedeutung zukam.
II. Zuhälter als Schnittstelle im Kampf gegen „Asozialen-“ und „Verbrechertum“
Nach Auffassung der zeitgenössischen Kriminologie bildete das Milieu der „Asozialen“ den „Nährboden“, in dem das „Verbrechertum“ seine Wurzeln schlagen und aus dem es sich rekrutieren konnte.[24] Das Bild einer „Gauner-“ oder kriminellen „Unterwelt“ verdankte sein Entstehen ab dem 19. Jahrhundert unter anderem der immer beliebter werdenden Kriminalliteratur. In unzähligen (pseudo)wissenschaftlichen Abhandlungen, Dokumentationen, Reportagen, aber auch in Romanen und Filmen malten die Autorinnen und Autoren, darunter sowohl Angehörige des „Milieus“ als auch Kriminalisten und Strafrechtler,[25] dem Publikum in schillernden Farben die Ausschweifungen und Machenschaften des „Verbrechertums“ aus und riefen damit ambivalente, zwischen Faszination und Bedrohungsängsten schwankende Gefühle einer bürgerlichen Leserschaft wach.[26] Spielte sich das „gesittete“ Leben der Bürger am Tage ab, repräsentierte insbesondere das Rotlichtmilieu den moralischen „Zerfall“, gleichsam die „Nacht-“ oder „Schattenseite“ bürgerlicher Normen.[27]
Gerade den Zuhältern schrieb man schon lange vor 1933 zu, Kriminellen „Unterschlupf“ und Unterstützung zu gewähren. Bestätigung fand dieses Bild nach Ansicht der Polizeifachleute und Kriminologen in den Strafregistern von Zuhältern, die oft auch Verurteilungen wegen anderer Delikte enthielten.[28] Der Zuhälter galt im kriminologischen Diskurs als eine besonders „minderwertige“ Person. Man unterstellte ihm, ähnlich wie der „Dirne“, „Prunksucht“, „Prahlerei“ und das Streben nach einem leichten Luxusleben. Gleichzeitig verkörperte der Zuhälter die höchste Steigerung der „Arbeitsscheu“, denn im Gegensatz zur Prostituierten, die zwar keine „ehrliche“, aber doch immerhin „unehrliche“ Arbeit leistete, arbeitete der Zuhälter überhaupt nicht. Aus der „Arbeitsscheu“ wiederum leitete sich die Einstufung des Zuhälters als „Parasit“ ab, der einer der „schlimmsten Schädlinge der Gesellschaft“ sei.[29]
Trotz der unterstellten Verbindungen zum „Verbrechertum“ zählten die Zuhälter gemäß den zeitgenössischen „Verbrechertypologien“ nicht zu den „Berufsverbrechern“. Derartige Klassifikationsschemata hatten durch den Paradigmenwechsel im Strafrecht zunehmend an Bedeutung gewonnen. An die Stelle des klassischen Vergeltungsstrafsystems, in dem die Schuld, die der Delinquent durch das Verbrechen auf sich geladen hatte, nach dem Talionsprinzip durch die Strafe abgegolten wurde, wollten Strafrechtsreformer wie Emil Kraepelin und Franz von Liszt die „Schutz-“ beziehungsweise „Zweckstrafe“ setzen.[30] Sie sollte dazu dienen, die Gesellschaft durch Abschreckung, „Besserung“ oder „Sicherung“ der Täter vor künftigen Straftaten zu bewahren. Um eine optimale kriminalpräventive Wirkung zu erzielen, musste die Strafe jedoch auf die individuelle „Besserungsfähigkeit“ des Delinquenten abgestimmt sein. Aufgabe der „Verbrechertypologien“ war es, für dieses auch Spezialprävention genannte System ein Klassifikationsschema bereitzustellen, das die Mehrfachstraftäter anhand von Charaktereigenschaften, modi operandi, „Erziehbarkeit“ und gegebenenfalls auch aufgrund körperlicher Merkmale in Gruppen unterteilte und ihnen die jeweils passenden Strafformen zuordnete.[31]
Der „Berufsverbrecher“ zeichnete sich diesen Typologien zufolge durch seine professionelle Spezialisierung auf bestimmte Kriminalitätssparten, zum Beispiel Geldschrankeinbrüche oder Fassadenkletterei, aus, wobei ihn seine „Gewinnsucht“ angeblich immer wieder zum Verbrechen trieb. Daher galt in der Vorstellungswelt von Kriminologen, Strafrechtsreformern und Polizeifachleuten die Eigentumskriminalität als typisches Delikt des „Berufsverbrechers“, der seine Taten nach einem immer gleichen Muster beging. Man gestand ihm also ein gewisses Können, eine Expertise zu – wenn auch auf dem Gebiet des Verbrechens.[32] Demgegenüber repräsentierte der Zuhälter die höchste Steigerungsform des „Nichtsnutzes“.
Für die kriminalpolizeiliche Arbeit waren Zuhälter ein ärgerliches Alltagsproblem, sahen sie es doch als ihre Aufgabe an, bei „Beobachtung nahender Streifen der Sittenpolizei“[33] ihre „Dirnen“ zu warnen.[34] In den Augen der Kriminalpolizei machten sie sich dadurch der Strafvereitelung schuldig. Allerdings waren sie ausgesprochen schwer zu überführen.[35] Im Grunde konnten Zuhälter, so die vielfache Klage von Polizeifachleuten, nur aufgrund einer Anzeige ihrer Prostituierten dingfest gemacht werden. Diese verweigerten jedoch meist die Aussage. Hatte sich eine Frau doch einmal entschlossen zu reden, widerrief sie später häufig ihre Angaben. Dies geschah, wie die Polizei in solchen Fällen regelmäßig mutmaßte, unter Androhung von Gewalt seitens des Zuhälters.[36]
Da ein positiver Nachweis der Zuhälterei also kaum zu führen war, stützte sich die Polizei auf Indizien, vor allem den Lebensstil des Verdächtigen. Schilderungen wie „ist sehr nobel gekleidet“ und tritt „stets als vornehmer Mann in Erscheinung“[37] dienten dazu, den Verdacht der Zuhälterei zu erhärten, indem sie die oben genannten negativen Charaktereigenschaften aufriefen. Eine ähnliche Funktion wie der Verweis auf die „Prunksucht“ hatte der Vorwurf der „Arbeitsscheu“. Selbst wenn eine Person nachweislich einer Beschäftigung nachging, unterstellte die Polizei zumeist, dass es sich lediglich um ein gezieltes Täuschungsmanöver des angeblichen Zuhälters handelte, mit dem dieser jeden Verdacht von sich abwenden wollte.[38] Vor Gericht hatten derartige Indizien freilich kaum Bestand, konnten sie handfeste Beweise doch nicht ersetzen. Für die Verhängung von „Vorbeugungshaft“ reichten sie hingegen aus.
III. Die rechtliche Ausgangslage
Im Jahr 1900 fügte der Gesetzgeber den Straftatbestand der Zuhälterei nachträglich als Paragraf 181a in den 13. Abschnitt „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ des Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) ein. Den Anlass bildete ein Mordprozess, den das Berliner Schwurgericht 1891 verhandelte. Als Angeklagte standen die Eheleute Heinze vor Gericht, denen die Staatsanwaltschaft vorwarf, einen Nachtwächter ermordet zu haben. Öffentliches Aufsehen erregte der Fall unter anderem deswegen, weil Herr Heinze als Zuhälter seiner Ehefrau galt, die zudem älter war als er.[39]
Die Debatten, die der Reichstag und seine Sonderausschüsse unter dem Signum Lex Heinze führten, erstreckten sich über ein knappes Jahrzehnt. Dabei kam dem oben beschriebenen Konnex zwischen Rotlichtmilieu und „Verbrechertum“ eine wichtige Legitimationsfunktion zu, denn man war der Ansicht, aus dieser Verbindung eine besondere „Gefährlichkeit“ von Zuhältern ableiten und so das geplante Gesetz begründen zu können.[40] Noch im Jahr des Mordprozesses konstatierte Kaiser Wilhelm II., das „Zuhältertum“ habe „sich zu einer gemeinen Gefahr für Staat und Gesellschaft entwickelt“.[41] Die Befürworter des „Zuhälterparagraphen“[42] griffen dieses kaiserliche Diktum in unzähligen Variationen auf, wobei das Argument der Staatsgefährdung gegenüber dem der angeblichen Sozialschädlichkeit des Zuhälters zunehmend an Bedeutung verlor. Im Jahr 1907 brachte der Jurist Willy Hartung den oft bemühten Legitimationszusammenhang auf die eingängige und zukunftsträchtige Formel, der Zuhälter stelle „eine Gefahr für die Allgemeinheit“ dar und sei „durch seine Arbeitsunlust und Neigung zu strafbaren Handlungen ein gesellschaftlicher Schädling allerbedenklichster Natur“.[43]
Die Fassung des Paragrafen 181a RStGB, die der Reichstag schließlich verabschiedete, umriss drei Formen der Zuhälterei. Die erste Form, die der „ausbeuterischen Zuhälterei“, beschrieb eine passive Verhaltensweise, bei der „eine männliche Person“ von „einer Frauensperson, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, unter Ausbeutung ihres unsittlichen Erwerbes, ganz oder teilweise den Lebensunterhalt bezieht“.[44] Bei der zweiten Form, der „kupplerischen Zuhälterei“, trat der Zuhälter aktiv in Erscheinung, indem er „einer solchen Frauensperson gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz in Bezug auf die Ausübung des unzüchtigen Gewerbes Schutz gewährt oder sonst förderlich ist“.[45] Die dritte Form, der Straftatbestand der „qualifizierten Zuhälterei“, lag vor, wenn er entweder der Ehemann der Prostituierten war oder wenn er eine Frau durch Gewaltausübung beziehungsweise Drohungen zur Prostitution zwang.[46] Diese Fassung des Straftatbestands blieb während der Weimarer Republik unverändert.[47]
IV. Die Einführung der „Sicherungsverwahrung“ und „Vorbeugungshaft“ im Nationalsozialismus
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten führte Preußen am 13. November 1933 als erstes deutsches Land die „Vorbeugungshaft“ für „Berufsverbrecher“ ein. Es reagierte damit auf eine „Lücke“,[48] die Mitarbeiter des preußischen Justizministeriums während der Vorbereitungen für das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ meinten entdeckt zu haben. Durch das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ sollte eine Reihe von kriminalpräventiven Maßregeln realisiert werden, deren Einführung die Strafrechtsreformer jahrzehntelang erfolglos gefordert hatten. Allerdings band das geplante Gesetz sie an einen richterlichen Urteilsspruch. Beispielsweise konnte die „Sicherungsverwahrung“, die vor 1933 stark umstritten war, weil sie einen gravierenden Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte darstellte, auch gemäß der Novelle nur unter der Voraussetzung verhängt werden, dass der Richter den Angeklagten schuldig sprach, eine Strafverschärfung verfügte und ihn als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ einstufte.[49] All jene Delinquenten, welche die Polizei zwar einer Straftat verdächtigte, aber nicht überführen konnte, bleiben von einer Verhängung der Maßregeln gänzlich ausgenommen. Eben darin bestand die von Mitarbeitern des preußischen Justizministeriums kritisierte „Lücke“.
Per Geheimerlass ermächtigte der preußische Ministerpräsident Hermann Göring die Kriminalpolizei daher, unter bestimmten Voraussetzungen Mehrfachstraftäter ohne ein richterliches Urteil, allein aufgrund ihrer Vorstrafen und einer subjektiven Einschätzung der individuellen Täterpersönlichkeit, in „Vorbeugungshaft“ zu nehmen und auf unbestimmte Zeit in ein KZ einzuweisen. Das machte einen neuerlichen Tatnachweis überflüssig. Mit dieser Regelung übertrug die preußische Regierung ein kriminalpräventives Instrument, das im Zuge der Debatten über die Strafrechtsreform konzipiert, aber auch mit Kautelen wie der Bindung an einen richterlichen Urteilsspruch versehen worden war, in die alleinige Verfügungsgewalt der Polizei. Im Februar 1934 kodifizierte ein Folgeerlass zudem eine „planmässige polizeiliche Überwachung“.[50]
Doch im Kampf gegen Zuhälter, die eben nicht zu den „Berufsverbrechern“ im engeren Sinne zählten, versagten selbst diese Waffen. Da es selten gelang, die Verdächtigen gerichtsfest zu überführen, und Zuhälterei zunächst mit verhältnismäßig geringen Strafen belegt war, erfüllten auch die Vorstrafenregister nicht die Kriterien für die Anordnung der polizeilichen Überwachung, geschweige denn der „Vorbeugungshaft“.[51] So sah der preußische Erlass drei Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten Dauer als Voraussetzung für den präventiven Freiheitsentzug vor. Der Paragraf 181a in seiner Fassung von 1900 belegte Zuhälterei aber lediglich mit einer Mindeststrafe von einem Monat beziehungsweise im Falle von „qualifizierter Zuhälterei“ mit einem Jahr Gefängnis.[52] Auf Eigentumsdelikte, die nach Ansicht der Kriminologie das typische Betätigungsfeld von „Berufsverbrechern“ ausmachten, standen laut Paragraf 243 RStGB dagegen Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Für einen sogenannten Rückfalldiebstahl, also ab der zweiten Verurteilung, drohte dem Delinquenten gemäß Paragraf 243 RStGB grundsätzlich eine Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus.[53] Daher häuften sich bei Mehrfachstraftätern im Bereich der Eigentumskriminalität viel schneller die für die Verhängung der „Vorbeugungshaft“ notwendigen Vorverurteilungen an als bei Zuhältern – sofern diese überhaupt überführt und bestraft werden konnten. Erschwerend kam hinzu, dass der preußische „Vorbeugungshafterlass“ die Beurteilung, ob es sich um einen „Berufsverbrecher“ handelte, vom Kriterium der „Gewinnsucht“ abhängig machte. Spätestens seit den Debatten über die Lex Heinze waren die mit der Materie vertrauten Fachleute jedoch der Auffassung, dass der Eigennutz das zentrale, der Zuhälterei zugrunde liegende Motiv darstellte. Diese Überzeugung blieb in den ersten Jahren des Nationalsozialismus weitgehend unhinterfragt. Dem als charakterschwachen „Nichtsnutz“ geltenden Zuhälter schien man ein systematisches Gewinnstreben schlechterdings nicht zuzutrauen.[54]
Das Inkrafttreten des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ am 1. Januar 1934 änderte an dieser Problematik wenig. Zwar erhöhte es das in Paragraf 181a RStGB vorgesehene Strafmaß auf mindestens drei Monate Gefängnis und maximal fünf Jahre Zuchthaus.[55] Doch bevor sich diese Verschärfung auf die Verhängung der „Vorbeugungshaft“ auswirken konnte, bedurfte es eines zeitlichen Vorlaufs von mehreren Jahren. Hinzu kam, dass die Gesetzesnovelle die Arbeitshauseinweisung für Zuhälter abschaffte, die der Paragraf 181a in seiner ersten Fassung noch vorgesehen hatte. Mit der Materie vertraute Polizeifachleute werteten das als eine empfindliche Einschränkung der Sanktionsmittel, weil man die Inhaftierung in einem Arbeitshaus im Falle von Zuhältern für besonders wirksam hielt.[56] Es dauerte nicht lange, bis man im Wegfall dieser Strafmaßnahme eine weitere „Lücke“ ausmachte und ihre Beseitigung forderte.[57]
Vor diesem Hintergrund gewann die alte kriminologische Frage, in welchem Verhältnis die Zuhälter zum „Verbrechertum“ standen, ob sie gar dem Tätertyp des „Berufsverbrechers“ zuzurechnen seien, eine enorme Brisanz. Denn fiel die Antwort positiv aus, legten die Prämissen der Spezialprävention nahe, die für den Typus des „Berufsverbrechers“ konzipierten Maßregeln auch auf Zuhälter anzuwenden. Möglicherweise hätte sich mit dieser Argumentation sogar eine Reduzierung der Anordnungsvoraussetzungen für die präventive polizeiliche Inhaftierung von Zuhältern rechtfertigen lassen. Doch stieß ein solches Unterfangen an die Grenzen der staats- und verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlage der „Vorbeugungshaft“.
Ihrem Wesen nach war die „Vorbeugungshaft“ – ebenso wie die „Schutzhaft“ – eine pervertierte Form der modernen Zweckstrafe,[58] welche auf die präventive Abwehr künftiger Gefahren durch die vorbeugende Unschädlichmachung gefährlicher Täter zielte. Ihre Einführung im Nationalsozialismus stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Erklärung des Ausnahmezustands durch die Reichstagsbrandverordnung (RBVO) am 28. Februar 1933, deren Paragraf 1 die Ermächtigungsgrundlage für beide Haftarten bildete.[59] Dieser band sie, ganz in Übereinstimmung mit ihren rechtstheoretischen Wurzeln, an den Haftzweck der Gefahrenabwehr.[60] Allerdings formulierte die Präambel der RBVO auch eine Zweckbestimmung für die Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte, die sie ermöglichte. Die neuen polizeilichen Eingriffsbefugnisse sollten der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ dienen.[61] Um die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Allgemeinen und die präventive Inhaftierung von Zuhältern im Besonderen unter die RBVO subsummieren zu können, bedurfte es also einer Erweiterung ihres Gefahrenbegriffs.
Tatsächlich entbrannte unter den Zeitgenossen eine Kontroverse, ob der Gesetzgeber in der zitierten Klausel das Motiv für die staatlichen Eingriffsbefugnisse oder ihre Grenze formuliert hatte.[62] In der Praxis wurde die „Schutzhaft“ schon im Frühjahr 1933 nicht mehr ausschließlich gegen Kommunisten verhängt, sondern zum Beispiel auch gegen konservative Kritiker des Regimes, Juden, missliebige Wohlfahrtshilfeempfänger und Mehrfachstraftäter. Dieses Vorgehen erhielt noch im März 1933 Rückendeckung von Göring, der in einer Durchführungsverordnung auch die Einschränkung der Freiheitsrechte von Personen zuließ, die selbst keine Kommunisten waren, aber „mit den Kommunisten zusammenarbeit[et]en und deren verbrecherische Ziele, wenn auch nur mittelbar, unterstütz[t]en und förder[te]n“.[63] Damit erteilte Göring einer weiten Auslegung der RBVO einen Freibrief, der die Akteure in den unteren und mittleren Verwaltungsebenen zum Handeln ermutigte.[64] Die Einführung der „Vorbeugungshaft“ in Preußen im November 1933 wies, wie Conrad Parey hervorhob, in dieselbe Richtung.[65]
V. Der Bremer „Vorbeugungshafterlass“ und die verwaltungsinterne Debatte über die rahmensetzenden Direktiven der Zentralbehörden
Als die Bremer Behörden am 22. Februar 1935 die „Vorbeugungshaft“ für Zuhälter einführten, meinten sie also, mächtige Fürsprecher auf ihrer Seite zu haben. In einem zusätzlichen Passus, der die ansonsten wörtlich übernommene preußische Regelung entscheidend erweiterte, hieß es: „Als Berufsverbrecher sind ferner [...] anzusehen Personen, die, ohne notwendig vorbestraft zu sein, arbeitsscheu sind und in einem zuhälterischen Verkehr zu einer oder mehreren Dirnen stehen.“[66]
Mit der Schaffung eines eigenen „Vorbeugungshafterlasses“, der die Maßnahmen der Bremer Polizei rückwirkend legitimierte, reagierte die Hansestadt auf ein Ultimatum des Preußischen und Reichsministeriums des Innern vom 17. Dezember 1934. Schon im März desselben Jahrs hatte das Preußische Landeskriminalpolizeiamt (PrLKPA) die anderen deutschen Länder über die preußischen Regularien zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ informiert und sie aufgefordert, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Während sich einige Länder eilfertig an die Formulierung eigener Bestimmungen machten, reagierten andere erst auf das Ultimatum.[67]
Dass Bremen zur zweiten Gruppe gehörte, hatte vermutlich mehrere Gründe. Zum einen scheint die erste Aufforderung des PrLKPA schlichtweg nicht bei den zuständigen Behörden in Bremen eingetroffen zu sein. Diesen Schluss legt eine Akte der Senats-Registratur im Staatsarchiv Bremen nahe, die die hektischen Bemühungen der Bremer dokumentiert, eine Abschrift der einschlägigen preußischen Erlasse zu bekommen. Die Suche erstreckte sich über mehrere Wochen des Sommers 1934. Involviert waren unter anderem die Bremer Polizeidirektion und der Senator für Inneres, Justiz und Gesundheit, Theodor Laue (NSDAP).[68]
Ein weiterer, substanzieller Grund war, dass man, als die Erlasse Ende Juli 1934 endlich vorlagen, befürchtete, die bisherige Praxis im Vorgehen gegen Zuhälter aufgeben zu müssen.[69] „Bei den hiesigen klaren Verhältnissen“, notierte Julius Fricke,[70] Präsident der Landesjustizverwaltung,[71] am 30. August 1934, „sind allgemeine Ausführungsverordnungen nach preußischem Muster nicht nötig. Sie sind auch nicht erwünscht, da sie naturgemäß sehr einengend sein könnten.“[72] „Klare Verhältnisse“ bedeutete für straftatunabhängige Inhaftierung von Zuhältern in Bremen, dass sich die Kripo auf eine einfache polizeirechtliche Grundlage stützte: Sie verhängte zunächst bestimmte Überwachungsauflagen gegen die Verdächtigen und ahndete Verstöße dagegen mit polizeilicher Ordnungshaft.[73]
Des Weiteren konnte die Polizei Zuhälter nach dem am 4. August 1933 in Bremen erlassen „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ zur Zwangsarbeit in eine geschlossene Anstalt einweisen.[74] Allerdings beschränkte das Gesetz den Arbeitszwang auf Personen, die in der Vergangenheit zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Durch diese Einschränkung unterschied es sich vom praktizierten Vorgehen gegen Zuhälter, das gerade auf die Inhaftierung von Personen zielte, die noch nicht beziehungsweise gering einschlägig vorbestraft waren. Für die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ der Bremer Behörden scheint das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ denn auch keine praktische Relevanz besessen zu haben. Anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass es in der Debatte der Bremer Behörden über die rechtlichen Grundlagen ihres Kampfs gegen Zuhälter nicht angeführt wurde.
Im Sommer 1934, im Rahmen der Erwägungen, den preußischen „Vorbeugungshafterlass“ zu übernehmen, kamen im Umfeld des Bremer Senators für Inneres, Justiz und Gesundheit allerdings Zweifel über die rechtliche Zulässigkeit der bis dahin praktizierten Maßnahmen auf.[75] Genährt wurden sie durch die „Schutzhafterlasse“ des Reichsinnenministers Wilhelm Frick vom April 1934, eine weitere Rahmensetzung der Zentralbehörden, die verglichen mit der Durchführungsrichtlinie Görings vom März 1933 allerdings eine konträre Stoßrichtung zu verfolgen schien. So erklärte Frick die „Schutzhaft“ nur zum Schutz der eigenen Person für zulässig oder bei einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, „insbesondere durch staatsfeindliche Betätigung“.[76] Was auf den ersten Blick wie eine Einschränkung aussah, erwies sich in der Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus als beinahe uferlose Generalklausel. So kamen die Bremer Strategen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, allen voran Julius Fricke, denn auch zu dem Schluss, dass diese Bestimmung nicht nur auf politische Regimegegner, sondern auch auf „Gewohnheitsverbrecher oder Verbrecher aus krankhaften Anlagen“ zuträfe, denn „die staatsfeindliche Betätigung“ sei nicht „Voraussetzung, sondern [nur] ein Sonderfall der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“.[77] Daraus leitete man ab, alle Maßnahmen, die sich gegen „Berufsverbrecher und andere das Staats- und Volkswohl gefährdende Verbrecherkreise“[78] richteten, seien durch die RBVO gedeckt.[79]
VI. Die Debatte über die Ausweitung der „vorbeugenden Verbrechens-bekämpfung“ auf Zuhälter in den Kriminalistischen Monatsheften
Die Erweiterung des Gefahrenbegriffs der RBVO war eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um die Zuhälter in die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ einzubeziehen, denn ihre Bekämpfung ließ sich nur dann als Maßnahme der Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand legitimieren, wenn man auch zu begründen vermochte, dass von den Zuhältern eine besondere Gefahr ausging. Anknüpfen konnte ein solches Unterfangen an die Debatte über die Lex Heinze, in der die „Gefährlichkeit“ dieser Tätergruppe schon einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte.
Anfang 1934 eröffneten die KM, Deutschlands führende kriminologische Fachzeitschrift, eine „Aussprache“[80] über die Zuhälter-Bekämpfung mit dem erklärten Ziel, die in den verschiedenen Städten gesammelten Erfahrungen als Anregungen für ein künftiges Gesetz zu evaluieren.[81] Eine Reihe von Kriminalisten ergriff das Wort.[82] Die Artikel belegen nicht nur die Heterogenität der lokalen Verfolgungspraktiken, sondern auch die unterschiedlichen Auffassungen über die rechtlichen Grenzen des polizeilichen Vorgehens. Außerdem kristallisierten sich Differenzen über die kriminologische Einschätzung und Definition des „Zuhältertums“ heraus. Trotz aller Konflikte waren sich die Autoren im Detail darüber einig, dass es ein „Versäumnis gewesen sei, die Zuhälter von den Maßnahmen der preußischen Vorbeugungshafterlasse von 1933/34 auszunehmen“.[83]
Conrad Parey und Helmut von Dorpowski, Bremens Experten der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, schalteten sich 1935/36 mit mehreren Artikeln in die Diskussion ein.[84] Neben den KM wählten sie eine weitere Fachzeitschrift, Die Polizei, als Publikationsorgan, sodass sie davon ausgehen konnten, von führenden Polizeifachleuten und Nationalsozialisten gelesen zu werden. Bestärkt durch eine Äußerung des Leiters der Polizeiabteilung im Reichs- und Preußischen Ministerium des Innern, Kurt Daluege,[85] nahmen sie an, eine reichsgesetzliche Regelung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ stehe unmittelbar bevor. Mit ihren Schilderungen der Bremer Erfahrungen wollten sie die Ausgestaltung des neuen Gesetzes beeinflussen.[86]
Die Autoren stützten sich auf zwei zentrale Argumente, um die angebliche „Gefährlichkeit“ der Zuhälter zu begründen.[87] Das erste setzte die Zuhälter mit den zeitgenössischen „Verbrecherorganisationen“, den sogenannten Ringvereinen,[88] in Beziehung.[89] Folgt man Helmut von Dorpowski, war der Organisierungsgrad in solchen Zusammenschlüssen bei den Zuhältern besonders hoch.[90] Damit griff der Bremer Kriminalbeamte einen Diskussionsfaden auf, der bereits im Eröffnungsartikel der „Aussprache“ in den KM eine Rolle gespielt hatte. Kriminalrat Fischer aus Dresden behauptete dort, die „straff organisierten Zuhältervereine“ bildeten „eine große Gefahr für das gesamte Staatswesen“.[91] Damit aktualisierte er einerseits das Diktum der Staatsgefährdung, mit dem Kaiser Wilhelm II. die Debatten über die Lex Heinze nachhaltig geprägt hatte, andererseits baute er eine argumentative Brücke zur RBVO. Dieser Argumentationslogik folgend, konstatierte von Dorpowski 1936, die „Ringvereine“ richteten sich gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung und würden „ferner zweifellos kulturbolschewistischen Bestrebungen“ dienen.[92]
Das zweite Argument, mit dem von Dorpowski und Parey die „Gefährlichkeit“ der Zuhälter zu belegen versuchten, stellte die diskursive Verbindung mit dem „Berufsverbrechertum“ her. Gleich zum Auftakt der „Aussprache“ hatte Kriminalrat Fischer postuliert, die Zuhälter würden sich „vorwiegend aus dem Einbrechertum“ rekrutieren.[93] Mit dieser Zuschreibung rief er das zentrale Definitionskriterium auf, mit dem die zeitgenössischen „Verbrechertypologien“ den „Berufsverbrecher“ charakterisierten, was jedem kriminologisch geschulten Fachmann eine Zuordnung der Zuhälter zu diesem Tätertyp nahelegen sollte. War die Verknüpfung erfolgreich hergestellt, bedurfte es gemäß der Logik der Spezialprävention keiner weiteren Rechtfertigung mehr, um die für „Berufsverbrecher“ geltenden Maßregeln auch auf Zuhälter anzuwenden.[94]
Allerdings entfachte die These von der personellen Identität zwischen Einbrechern und Zuhältern eine lebhafte Kontroverse in den KM und erwies sich schließlich als Sackgasse.[95] Die von den Bremer Kriminalisten gewählte Strategie, mit dem Gefahrenbegriff zu argumentieren, bot hier einen Ausweg, indem sie zwei diskursive Verschiebungen vornahm. Zum einen setzten sie, statt den Zuhältern Eigentumsdelikte zu unterstellen, die von ihnen ausgehende Gefahr mit der Gefährdung durch „mehrfach vorbestrafte[...] Einbrecher“[96] gleich. Anknüpfend an die in der Präambel des preußischen „Vorbeugungshafterlasses“ entwickelte Begründung, die „vorbeugende Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ diene dazu, dem „Treiben dieser Schädlinge“[97] ein Ende zu setzen, brachte Parey die Bremer Position auf die „zukunftsträchtige[...] Formel“,[98] bei den Zuhältern handele es sich um „Volksschädlinge im vollsten Umfange“.[99] Damit griff er gleichzeitig die Debatten über die Lex Heinze auf, in denen die Zuhälter zur „Gefahr“ für die Gesellschaft beziehungsweise zum „gesellschaftlichen Schädling allerbedenklichster Natur“ erklärt worden waren, und stellte eine Verbindung mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschafts-“ Ideologie her. Diese beschränkte sich zunächst allerdings auf die rein terminologische Anleihe, denn sowohl im preußischen „Vorbeugungshafterlass“ als auch bei Parey bezog sich der Begriff „Volksschädling“ auf einen volkswirtschaftlichen Schaden.[100] Erst im Laufe der 1930er Jahre wurde er zunehmend rassenhygienisch aufgeladen.[101] Ab 1937/38 spielte der Terminus dann, wie noch zu zeigen sein wird, bei der Ausweitung der „Vorbeugungshaft“ und später im Kriegsstrafrecht eine wichtige Rolle.
Die zweite diskursive Verschiebung bestand darin, anknüpfend an die alte kriminologische Frage nach den Zusammenhängen von „Asozialen-“ und „Verbrechertum“ eine enge Verbindung des Rotlichtmilieus mit der Kriminalität zu postulieren, wobei Parey und von Dorpowski auf dessen Dienstleistungsfunktion abhoben.[102] „Besonders gefährlich“, so hieß es bei von Dorpowski, werden die Zuhälter „dadurch, dass sie Berufs- und anderen Verbrechern Unterschlupf und Rückhalt gewähren“.[103]
Indem sie die „Gefährlichkeit“ der Zuhälter ins Zentrum ihrer Argumentation rückten, verwiesen Parey und von Dorpowski auf die zentrale Zweckbestimmung der „Vorbeugungshaft“, die präventive Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand, die sich zum einen aus ihrer rechtstheoretischen Logik als Zweckstrafe, und zum anderen aus ihrer staats- und verwaltungsrechtlichen Grundlage, der RBVO, ergab.
VII. Die Praxis des kriminalpräventiven Vorgehens gegen Zuhälter in Bremen
Wie in Preußen sahen auch die Bremer Regularien zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ ein zweistufiges System aus Maßnahmen der „planmäßigen polizeilichen Überwachung“ und der „Vorbeugungshaft“ vor. Die Bremer Überwachungsauflagen umfassten eine ganze Reihe von Verboten: Zuhälter durften ihren Wohnort beziehungsweise des Nachts ihre Wohnung nicht verlassen. Es war ihnen untersagt, als Zuhältertreffpunkte bekannte Lokale und die sogenannten Kontrollstraßen zu betreten, wo die Bremer Polizei ab 1933 wieder die Prostituierten konzentrierte.[104] Der Kontakt zu Frauen, die als „Dirne“ galten, war ihnen ebenso verboten wie die Mitgliedschaft in einem Klub beziehungsweise „Ringverein“.[105]
Nach Auskunft des Leiters der Kripo Bremen, Conrad Parey, war die Revierkriminalpolizei[106] dafür zuständig, die unter Überwachung stehenden Personen regelmäßig und engmaschig zu kontrollieren. Zusätzlich führten die „Kriminalbeamten des zuständigen Sachgebiets der Zentrale“[107] Stichproben durch. Wie zwei Akten aus dem Staatsarchiv Bremen belegen,[108] bildete das Staatliche Gesundheitsamt eine weitere Kontrollinstanz, die eng, wenn auch nicht immer reibungslos mit der Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft kooperierte.[109]
Folgt man den Ausführungen Conrad Pareys, war die „Vorbeugungshaft“ in Bremen als ultima ratio gedacht, also der kriminalpolizeilichen Überwachung nachgeordnet. Ihre Verhängung sollte nur bei Verstößen gegen die Kontrollauflagen erfolgen.[110] Diese Prioritätensetzung war einerseits pragmatischen Überlegungen geschuldet, weil man „niemals alle B[erufs]V[erbrecher], sondern immer nur ein[en] gering[en] Teil von ihnen“ in „Vorbeugungshaft“ nehmen könne.[111] Andererseits basierte sie auf der kriminalpolitischen Erwägung, dass die Überwachungsauflagen durch die Kombination mit der „Vorbeugungshaft“ zu einem „Abschreckungsmittel ersten Ranges“ würden, wohingegen die „Vorbeugungshaft“ selbst „ihrer Natur nach nur ganz ausnahmsweise und mit besonderer Vorsicht“ anzuwenden sei.[112] Mit dieser Gewichtung bewegte sich Parey im Rahmen der kriminalpolitischen Leitlinien des preußischen Innenministeriums von 1934.[113]
Erst der „Grunderlass“ des Reichsministeriums des Innern über die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ vom Dezember 1937 setzte an die Stelle des Abschreckungsprinzips die Strategie der flächendeckenden Inhaftierung, wodurch sich die Koordinaten der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ grundlegend verschieben sollten.[114]
Bis dahin deckte die Bremer Konzeption der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ das gesamte Spektrum der möglichen Wirkungen von Strafe ab, das der „Vater der Strafrechtsreform“, Franz von Liszt, in seiner berühmten Marburger Antrittsvorlesung 1882 beschrieben hatte.[115] Man wollte nicht nur Rechtsbrecher abschrecken beziehungsweise „gefährliche“ Wiederholungstäter durch Inhaftierung „unschädlich“ machen, sondern beanspruchte außerdem, durch „positive“ Maßnahmen „bessernd“ auf die Delinquenten einzuwirken. Im Zentrum stand dabei die Eingliederung in den Arbeitsprozess.[116] So umfassten die Auflagen für Zuhälter auch das Gebot, „sich ernsthaft um geregelte Arbeit zu bemühen“.[117] Diese Praxis war kein historisches Novum, sondern stand in der Tradition des Paragrafen 361, Absatz 7, und Paragrafen 362 RStGB, die den „polizeilichen Arbeitsauftrag“ und die Arbeitshauseinweisung regelten. Außerdem knüpfte sie an die Idee der lokalen „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetze“ Bayerns und Bremens an. In allen genannten Fällen handelte es sich um Maßregeln, über deren Anordnung und Vollzug die Exekutive weitgehend unabhängig von der Judikative verfügen konnte, was eine flexible Anpassung an die individuelle „Besserungsfähigkeit“ der Delinquenten ermöglichen sollte. Dieser Kerngedanke deckte sich mit von Liszts Theorie der Zweckstrafe.[118]
Im Rahmen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ gegen Zuhälter beließ die Bremer Kriminalpolizei es aber nicht dabei, den Betroffenen einen „Arbeitsauftrag“ zu erteilen, das heißt sie zu verpflichten, sich auf dem freien Markt Arbeit zu suchen, sondern sie wurde ganz im Sinne der von den Strafrechtsreformern anvisierten „positiven“ Maßnahmen selbst aktiv. Es sei „das ständige Ziel der Kriminalpolizei in Bremen“, erläuterte Conrad Parey, „den B[erufs]V[erbrechern] unmittelbar Arbeit zu besorgen, sie durch das Arbeitsamt unterzubringen oder ihnen wenigstens mit Hilfe des Fürsorgeamts Arbeit zu beschaffen“.[119] Glaubt man Kriminalkommissar von Dorpowski, war der Bremer Polizei bei der Arbeitsvermittlung ein gewisser Erfolg beschieden, wobei die polizeiliche Überwachung und die „Vorbeugungshaft“ als Druckmittel, aber auch die inzwischen günstigere Lage auf dem Arbeitsmarkt und die nationalsozialistischen Großbauprojekte einen wichtigen Beitrag geleistet haben dürften.[120]
Eine ähnliche Form der aktiven Arbeitsvermittlung wie sie die Bremer Polizei betrieb, ist schon aus den Arbeitshäusern bekannt, die sich bisweilen um Beschäftigungsverhältnisse für Häftlinge bemühten, deren Entlassung vorgesehen war. Im Fachjargon bezeichnete man diese Anstrengungen als „nachgehende Fürsorge“. Wahrscheinlich hatte der Kriminalist Willy Gay in einer Schrift, mit der er im Jahr 1923 einen von der Zeitschrift Die Polizei ausgelobten Ideenwettbewerb zum Ausbau der kriminalpräventiven Polizeiarbeit gewann, dieses Konzept zum ersten Mal mit den Maßnahmen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in Verbindung gebracht.[121] Um Verbrechen zu verhüten und „bessernd“ auf Delinquenten einzuwirken, schlug Gay die allgemeine „Einführung des Arbeitszwangs“,[122] insbesondere den Arbeitszwang für „Verbrecher, Landstreicher und Arbeitsscheue“[123] sowie eine „umfassende Fürsorge für entlassene Strafgefangene“, darunter die „Zuweisung von Arbeit“, vor.[124] Im Laufe der Debatte über die „Zuhälterfrage“ in den KM griffen mehrere Autoren diesen Gedanken auf.[125] Mit ihrer Konzeption der Zuhälterbekämpfung setzten die Bremer Kriminalisten also zentrale Impulse, die von der Strafrechtsreformdiskussion ausgingen, in die polizeiliche Praxis um.
Die Idee der „bessernden“ Wirkung von Arbeit prägte sogar das nationalsozialistische KZ-System.[126] So betonte der im Polizeibereich zum Stellvertreter Himmlers avancierte Kurt Daluege 1936, „die Gewöhnung der Häftlinge an körperliche Arbeit“[127] sei ein wichtiger Zweck der „Vorbeugungshaft“. 1937 führte der „Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ die „Verpflichtung, sich ernstlich um Arbeit zu bemühen“,[128] als eine Auflage für die polizeiliche Überwachung an.[129] Wurde „die Entlassung eines Vorbeugungshäftlings erwogen“, so hatte „die zuständige Kriminalpolizeistelle im Einvernehmen mit der zuständigen Stelle der NSV [Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt] zu prüfen, ob dem zu Entlassenen [sic!] eine Arbeitsstelle zugewiesen werden“ könne.[130] In der Praxis bemühten sich oft die Angehörigen, bisweilen sogar frühere Arbeitgeber darum, eine Arbeitsstelle für den KZ-Häftling nachzuweisen, um so einem Entlassungsgesuch mehr Gewicht zu verleihen, denn das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) hob die „Vorbeugungshaft“ nur unter der Voraussetzung auf, dass der Entlassene unmittelbar eine geregelte Arbeit aufnahm.
VIII. Die systematische Ausweitung der „Vorbeugungshaft“ auf Zuhälter und andere Gruppen ab 1937
Die Debatte über die Bekämpfung der Zuhälterei und den erweiterten Gefahrenbegriff bereitete die Einbeziehung dieser Gruppe in die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ gedanklich – und mancherorts, so wie in Bremen, auch praktisch – vor. Der Begriff „Volksschädling“, der in den Debatten über die Lex Heinze angelegt, durch den preußischen „Vorbeugungshafterlass“ vom November 1933 in Zusammenhang mit der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ gebracht und von Kriminalisten wie Parey weiterentwickelt worden war, gewann in Polizeifachkreisen bald an Bedeutung. So fungierte der Begriff „Volksschädling“ Mitte der 1930er Jahre in einer von Helmut Kaiser an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln eingereichten Dissertation als eine Art Oberkategorie für Zuhälter.[131] Etwa zeitgleich sprach Kurt Daluege davon, die „Berufsverbrecher“ müssten an „einer Fortführung ihres volksschädlichen Treibens“[132] gehindert werden. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verdichteten sich die in Foren wie den KM entwickelten Argumente, und die Zuhälter wurden systematisch in die präventiven Strategien der Kriminalpolizei einbezogen. Diese Radikalisierung vollzog sich in engem Zusammenhang mit der Gründung des RKPA 1936/37, dem „Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ und den Massenrazzien vom März 1937 und April sowie Juni 1938.
In den Erlassen und Anordnungen zur März-Aktion 1937 waren die neuen Zugriffsbefugnisse allerdings ambivalent formuliert und von Rechtfertigungsstrategien begleitet, die eigentlich längst obsolet geworden waren. So hielt Himmler es noch im Februar 1937 für notwendig, die geplante Razzia mit der „staatsfeindlichen Einstellung“[133] der „Berufsverbrecher“ zu begründen, um die Maßnahme als Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand gemäß RBVO legitimieren zu können. Die Vorgaben des PrLKPA, das damit betraut war, die Aktion zu koordinieren, ließen den ausführenden Kriminalpolizei(leit)stellen anschließend aber großen Spielraum bei der Auswahl der Zielpersonen, indem es zum Beispiel keine Angaben zur Art und Anzahl der notwendigen Vorstrafen machte.[134] Die Auswertung der erhalten gebliebenen Akten der Kripo Duisburg und Köln zeigt allerdings, dass die Behörden vor Ort von den erweiterten Zugriffsbefugnissen nur verhalten Gebrauch machten. Eine vermehrte Erfassung von Zuhältern ist nicht zu beobachten. Thomas Roth vermutet, dass die Kriminalpolizei noch die Namen etlicher „Berufsverbrecher“ in petto hatte, die der traditionellen, auf Eigentumsdelikte zugeschnittenen Definition des preußischen „Vorbeugungshafterlasses“ entsprachen und die sie für die März-Aktion meldeten. Offenbar besaß die Verhaftung dieser „Kernklientel“ für die ausführenden Akteure kriminalpolitisch Priorität.[135] Allerdings mag es diesbezüglich lokale Unterschiede gegeben haben.
Bedeutende Neuerungen brachte im Dezember 1937 der „Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ des Reichsministeriums des Innern. Fortan konnte die „Vorbeugungshaft“ auch gegen Personen verhängt werden, die „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch [ihr] asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet[en]“.[136] Unter diese Klausel ließen sich auch gering oder gar nicht vorbestrafte Zuhälter subsummieren. Darüber hinaus machte der „Grunderlass“ den erweiterten Gefahrenbegriff zur allgemeinverbindlichen Maxime, indem er den Schutz der „Gemeinschaft vor jedem Schädling“[137] als wichtigste Aufgabe der Polizei festschrieb.[138]
Nach dieser Neujustierung der Rechtsgrundlagen gab das RKPA im Januar und Februar 1938 an die Kriminalpolizei(leit)stellen die Order aus, insbesondere Zuhälter in die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ einzubeziehen.[139] Als eine Art „Probebühne“ sollte unmittelbar nach seinem „Anschluss“ Österreich dienen. In einem Schreiben vom 31. März 1938 forderte das RKPA die Kriminalpolizei Wien auf, Vorbereitungen für eine Sonderaktion zu treffen. Einzubeziehen seien „neben Dieben, Betrügern und [dergleichen]“ in „erster Linie Sittlichkeitsverbrecher, darunter auch Zuhälter“.[140] Gleichzeitig verringerte das RKPA die Anordnungsvoraussetzungen der „Vorbeugungshaft“. Statt der vormals drei einschlägigen Vorstrafen reichten nun zwei Vorverurteilungen für die KZ-Einweisung aus. Auch die „Gewinnsucht“ entfiel als Haftkriterium. Die österreichische Sonderaktion gegen „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ fand kurz vor und parallel zur Juni-Welle der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ statt.[141] Die Rekonstruktion erster Fallbeispiele weist darauf hin, dass die Herabsetzung der Anordnungsvoraussetzungen in der Durchführung durch die unteren Instanzen aufgegriffen wurde, es also tatsächlich zu einer Verschärfung der Haftpraxis kam.[142] Allerdings scheinen Zuhälter auch diesmal nicht betroffen gewesen zu sein. In 152 Strafregisterauszügen von österreichischen „Berufsverbrechern“ konnte Andreas Kranebitter nicht eine Verurteilung wegen Kuppelei nachweisen, jenes Straftatbestands, unter den in Österreich auch die Zuhälterei fiel.[143]
Die Radikalisierung der Maßnahmen gegen Zuhälter, die sich im zeitigen Frühjahr 1938 abzuzeichnen begann, wurde im April mit den Durchführungsrichtlinien zum „Grunderlass“ institutionalisiert. Sie hoben das formal weiterhin gültige Primat der Polizeiaufsicht gegenüber der „Vorbeugungshaft“ für Zuhälter und Sittlichkeitsverbrecher auf. Im Falle dieser beiden Gruppen sollte die Kriminalpolizei prüfen, „ob nicht sofort polizeiliche Vorbeugungshaft ohne vorangegangene polizeiliche planmäßige Überwachung erforderlich“ sei.[144]
Einige Monate später, bei der Juni-Welle der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, zählten die Zuhälter neben Landstreichern, Bettlern und „Zigeunern“ zu den Hauptzielgruppen. In einem Schnellbrief von 1. Juni 1938, in dem das RKPA den untergeordneten Kriminalpolizei(leit)stellen den Befehl zur Durchführung der Razzia erteilte, verbanden sich alte und neue Rechtfertigungsmuster. So reaktivierte das RKPA gleich im ersten Satz die bekannte Formel, dass das „Verbrechertum im Asozialen seine Wurzeln“ habe und „sich fortlaufend aus ihm ergänzt“.[145] Die Zielgruppenbeschreibung der Zuhälter erinnerte stark an die entsprechende Anordnungsvoraussetzung des Bremer „Vorbeugungshafterlasses“ von 1935. Zuhälter seien, so hieß es, Personen, „die in ein einschlägiges Strafverfahren verwickelt waren – selbst wenn eine Überführung nicht möglich war – und heute noch in Zuhälter- und Dirnenkreisen verkehren, oder Personen, die im dringenden Verdacht stehen, sich zuhälterisch zu betätigen“.[146] Im Anschluss an diese offensichtliche Bezugnahme auf die kriminologische Diskurstradition erläuterte das RKPA den untergeordneten Dienststellen, dass der Vierjahresplan „den Einsatz aller arbeitsfähigen Kräfte“ erfordere und es nicht zulasse, „dass asoziale Menschen sich der Arbeit entziehen“.[147] Dieser neue Begründungszusammenhang war seit Anfang 1937 in den Planungshorizont der SS- und Polizeiführung gerückt und wurde nun direkt mit der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in Verbindung gebracht.[148]
Die Verschärfung des kriminalpräventiven Vorgehens gegen Zuhälter verlief parallel zu einer Ausweitung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf neue Zielgruppen. Im Fokus standen im Frühjahr und Sommer 1938 zweifelsohne die „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“. Aber schon im Februar 1938 hatte Himmler, unter Rückgriff auf die Begründungsformel, es handele sich um „Schädling[e] an der Volksgemeinschaft“, im Rahmen einer Neuordnung der Regularien gegen Wilddiebstahl eine Ausweitung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf „gewerbs- und gewohnheitsmäßige Wilderer“ angeordnet.[149] Ende des Jahrs setzte das RKPA die untergeordneten Dienststellen darüber in Kenntnis, dass selbst Autodiebe aufgrund ihrer „Gemeingefährlichkeit“ in „Vorbeugungshaft“ genommen werden könnten.[150] Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs dehnte der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei die Gefahrenabwehr gemäß RBVO sogar auf die Straßenverkehrsordnung aus. „Personen, die infolge von Trunkenheit den Straßenverkehr gefährde[te]n“,[151] sollten unter bestimmten Voraussetzungen für vier Wochen in „Vorbeugungshaft“ genommen werden.[152] Ob derlei Drohungen praktische Relevanz besaßen, darüber kann auf Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstands keine Aussage getroffen werden.
IX. Schluss
Der Kampf gegen Zuhälter bildete eine wichtige Schnittstelle, an der sich die Verzahnung der Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ frühzeitig abzeichnete. Die Freie Hansestadt Bremen spielte dabei eine Vorreiterrolle. Die Hauptverantwortung für die Konzeption der „Vorbeugungshaft“ für Zuhälter kam vermutlich dem Leiter der Bremer Kriminalpolizei Conrad Parey zu, der als ausgebildeter Jurist über eine profunde Kenntnis der mit der Strafrechtsreform verbundenen Debatten verfügte. Unterstützung fand er bei einem Mitarbeiter seiner Dienststelle, Kriminalkommissar Helmut von Dorpowski. Spätestens als man 1934 auf Initiative des PrLKPA innerhalb der Bremer Stadtverwaltung erwog, die preußischen Bestimmungen zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ zu übernehmen, waren neben der Polizeidirektion auch der nationalsozialistische Senator für Inneres, Justiz und Gesundheit, Theodor Laue, und der Präsident der Landesjustizverwaltung, Julius Fricke, involviert. An der praktischen Umsetzung der kriminalpräventiven Maßnahmen gegen Zuhälter wirkten die Revierkriminalpolizei, die Sittenpolizei, die Staatsanwaltschaft und sogar das Gesundheitsamt mit. Bei ihren Versuchen, die unter Überwachung stehenden Zuhälter in Arbeit zu vermitteln, kooperierte die Bremer Kriminalpolizei zudem mit dem Arbeits- und dem Fürsorgeamt. Diese Aufstellung zeigt, dass die Verantwortung für die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ früh in ein Netz von Instanzen eingebettet war, das sowohl an eher traditionellen Werten orientierte Akteure als auch Nationalsozialisten umfasste.
Konzeptionell knüpfte die Bremer Variante der „Vorbeugungshaft“ – wie die „Vorbeugungshaft“ insgesamt – an die Debatten der Strafrechtsreformbewegung und im speziellen Fall der Zuhälter zudem an die Diskussion über die Lex Heinze an. Die „Vorbeugungshaft“ war ebenso wie die „Schutzhaft“ eine pervertierte Form der modernen Zweckstrafe. Als solche vereinte sie die drei zentralen Strafzwecke, die schon von Liszt beschrieben hatte: abschrecken, sichern und „bessern“.[153] Dass die Zeitgenossen meinten, „bessernd“ auf Delinquenten einwirken zu können, erscheint aus heutiger Sicht geradezu zynisch, vor allem, wenn man sich den in den KZ praktizierten Terror vergegenwärtigt. Den Vordenkern der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in den 1930er Jahren war es damit aber durchaus ernst. So beanspruchten die Bremer Kriminalisten Parey und von Dorpowski, die unter Überwachung stehenden Zuhälter in Arbeit zu vermitteln. Als „nachgehende Fürsorge“ hatte diese Idee ihrerseits eine lange Tradition, und sie hallte selbst in den Erlassen und Durchführungsrichtlinien zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ von 1937/38 wider, wenngleich nur noch als Rudiment und jedweden positiven Gehalts, den sie ursprünglich vielleicht noch besessen hatte, entkleidet.
Trotz dieser deutlichen, weit bis in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Traditionslinien stellte der Machtantritt der Nationalsozialisten eine einschneidende Zäsur dar.[154] Die RBVO, die mit Ernst Fraenkel als „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“[155] bezeichnet werden kann, spielte von Anfang an eine wichtige Rolle bei der Rechtfertigung des kriminalpräventiven Vorgehens gegen Zuhälter. Allerdings war ihr Gefahrenbegriff zunächst eng gefasst, und von den rahmensetzenden Direktiven der Zentralbehörden gingen widersprüchliche Impulse für seine Auslegung aus. Doch gerade das Nebeneinander unterschiedlicher Vorgaben ermöglichte es den Akteuren in den unteren und mittleren Verwaltungsebenen, sich die jeweils für ihre Zwecke passenden Bestimmungen herauszusuchen.[156] So rekurrierte Parey auf den preußischen „Vorbeugungshafterlass“ um seine eigene, weite Auslegung des Gefahrenbegriffs der RBVO zu legitimieren. Julius Fricke, Präsident der Bremer Landesjustizverwaltung, wischte seinerseits die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bremer Vorgehens gegen Zuhälter, die angesichts der engen Auslegung des Gefahrenbegriffs in den „Schutzhafterlassen“ vom April 1934 aufgekommen waren, mit einer juristischen Finte vom Tisch. Er erklärte die „staatsfeindliche Betätigung“ kurzerhand zum „Sonderfall der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, dem eine Gefährdung durch „krankhafte Anlagen“ gleichzusetzen sei.[157]
Die Bremer Strategen der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ waren davon überzeugt, dass ihr Konzept der Kriminalprävention Vorbildcharakter hatte. In der „Aussprache“ in den KM ergriffen Parey und von Dorpowski engagiert das Wort, um die künftige Gesetzgebung entsprechend zu beeinflussen. Mit ihren Debattenbeiträgen lancierten sie eine wichtige diskursive Verschiebung. Sie vermieden die bis dahin gängige Argumentation, die gemäß der Logik der Spezialprävention nachzuweisen versuchte, dass die Zuhälter eine Unterkategorie der „Berufsverbrecher“ bildeten, um so die Ausweitung der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ auf diese Zielgruppe zu rechtfertigen. Stattdessen hoben Parey und von Dorpowski auf die „Gefährlichkeit“ im Sinne einer Sozialschädlichkeit ab und befeuerten so den Begriff des „Volksschädlings“, der in den folgenden Jahren dazu diente, die „Vorbeugungshaft“ beinahe uferlos auszuweiten.
Ab 1939 spielte der Terminus „Volksschädling“ außerdem eine wichtige Rolle im nationalsozialistischen Kriegsstrafrecht, einem Ensemble von Verordnungen, die das NS-Regime gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erließ. Das Kriegsstrafrecht verfolgte als übergeordnetes Ziel die Disziplinierung der Bevölkerung an der „Heimatfront“. Neue, bewusst weitgefasste Straftatbestände, zum Beispiel das Abhören von „ausländischen Sendern“[158] oder die „Plünderung im frei gemachten Gebiet“[159] waren mindestens mit Zuchthaus, unter Umständen sogar mit der Todesstrafe belegt.[160] Die „Verordnung gegen Volksschädlinge“ vom 5. September 1939 gab dem Richter überdies die Möglichkeit, die im RStGB kodifizierten Höchststrafen drastisch zu verschärfen, sofern er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verbrechen und der „Fliegergefahr“ beziehungsweise den zu ihrer Abwehr angeordneten Verdunkelungen sah. Fortan konnte im Prinzip also jeder nächtliche Einbruchsdiebstahl mit der Todesstrafe geahndet werden. Durch derart drakonische Strafandrohungen wollte man verhindern, dass „Volksschädlinge“ unter „Ausnutzung der durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse“[161] Straftaten begingen. Gemäß der „Verordnung gegen Gewaltverbrecher“ vom 5. Dezember 1939[162] konnte schließlich jeder, der ein Verbrechen unter Anwendung oder Androhung von Waffengewalt „oder andere[r] gleich gefährliche[r] Mittel“[163] begangen hatte, mit dem Tod bestraft werden. Einige Richter sahen diesen Tatbestand schon bei einem „wuchtige[n] Faustschlag“[164] oder bei Verwendung eines Teppichklopfers als erfüllt an. Wie die Beispiele zeigen, weitete das Kriegsstrafrecht die Strafgewalt nahezu uferlos aus. Gleichzeitig brachte es aber eine deutliche „Wendung zum Täterstrafrecht“[165] mit sich, das heißt nicht jede Tat, die den Wortlaut der Verordnungen erfüllte, musste auch nach ihnen abgeurteilt werden. Im Fokus standen die Taten eines bestimmten Tätertyps, eben des „Volksschädlings“. Ob ein Angeklagter diesem Typus entsprach, sodass die Sonderverordnungen und Strafverschärfungen anzuwenden waren, lag im Ermessen des Richters.[166] Das Kriegsstrafrecht verschärfte damit einmal mehr die Auflösung der Kalkulierbarkeit und Rationalität des Rechts im Nationalsozialismus.
Nach Kriegsbeginn wich die autoritär gewendete Vorstellung von der Abschreckung, „Besserung“ und „Sicherung“ als Strafzweck dem Ziel, alle „Volksschädlinge“ physisch unschädlich zu machen und sie aus der „Volksgemeinschaft“ zu eliminieren.[167] Bemerkenswert ist, dass die entsprechenden Verordnungen ganz ohne den Gefahrenbegriff auskamen. Das unterscheidet sie fundamental von den vor 1939 geschaffenen Maßregeln zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Auch bezogen sie sich nicht mehr auf die RBVO als Legitimationsgrundlage. Vielmehr deuten die oben zitierten Texte ebenso wie die Entwürfe und Stellungnahmen zum geplanten, aber nie erlassenen „Gemeinschaftsfremdengesetz“[168] darauf hin, dass es mit Kriegsbeginn zu weiteren semantischen Verschiebungen im Diskurs über die Verbrechensbekämpfung kam. Eine wiederkehrende Legitimationsformel zur Begründung der Todesstrafe lautete, dass sie zu verhängen sei, „wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern“.[169] Statt von einer „Gefährdung“ der „Volksgemeinschaft“ war in den einschlägigen Verordnungen und Entwürfen von deren „Schädigung“[170] die Rede. Vage Tätertypenbeschreibungen wie „Volksschädling“, „Gemeinschaftsfremder“, „Versager“, „Taugenichts“, „Störenfried“, „Schmarotzer“ und „gemeinschaftsfeindlich[er] Verbrecher“[171] ersetzten im Kriegsstrafrecht die vormals gebräuchlichen Komposita „gefährlicher Berufs-“ und „Gewohnheitsverbrecher“ oder „gefährlicher Bettler“. Der Verweis auf den „Kriegszustand“ scheint die „Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand“ als zentrale Begründung für die Ausweitung der Polizeibefugnisse und Strafgewalt abgelöst zu haben. Es bleibt künftiger Forschung vorbehalten, diesen Wandel in der Legitimation von Strafverschärfungen und extra-legalen Maßnahmen sowie dessen rechtliche Implikationen genauer zu untersuchen.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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