Am 19. Dezember 2019 verstarb nach schwerer Krankheit Hans Reiner Polder, Gründer und Geschäftsführer der npi electronic GmbH. Er hat die elektrophysiologische Forschung in Deutschland und weit darüber hinaus mit seinen technischen Lösungen, seinem Rat und seinen wissenschaftlichen Zusammenarbeiten über fast vier Jahrzehnte begleitet und bereichert. Viele von uns verlieren mit Reiner einen Freund und Kollegen, der unser Denken und unsere Arbeitsweise als Neurophysiologen stark geprägt hat.
Bereits während des Studiums der Elektrotechnik an der TU München in den späten 1970er Jahren erwachte – durch einen Gastvortrag von Wolf Singer – Reiner Polders Interesse an der Neurophysiologie. Er begann daraufhin eine Tätigkeit als studentische Hilfskraft in der Abteilung von Hans-Dieter Lux am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, wo er schließlich auch seine Diplomarbeit anfertigte. Sein Thema war der Aufbau eines sogenannten „single electrode voltage clamp amplifier“. Die Spannungsklemme („voltage clamp“) erlaubt, definierte Membranpotenziale einzustellen und aus der Höhe des jeweilig erforderlichen Korrekturstroms auf die Leitfähigkeit der Membran zu schließen. So lassen sich die biophysikalischen Mechanismen von Aktionspotenzialen, der synaptischen Übertragung und vieler weiterer Membranprozesse präzise charakterisieren.
Es ist sicher im Sinne Reiners, dass wir hier den theoretischen Hintergrund seiner Arbeit kurz beschreiben. Das Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelte „voltage clamp“-Verfahren wurde zu einer entscheidenden Grundlage der modernen zellulären Elektrophysiologie, blieb aber anfangs auf Messungen in großen und robusten Präparaten (insbesondere dem Riesenaxon des Tintenfischs) beschränkt. Nur hier ließen sich zwei getrennte Elektroden für Spannungsmessung und Strominjektion platzieren, um über einen Rückkopplungskreis Soll- und Ist-Potenzial abzugleichen. Für kleinere Zellen, insbesondere Neurone des Säugers, war es notwendig, Messungen mit einer einzelnen Elektrode zu realisieren. Dabei entsteht jedoch ein grundlegendes technisches Problem: aufgrund des geringen Durchmessers besteht an der Pipettenspitze ein nicht zu vernachlässigender elektrischer Widerstand, an dem ein Spannungsabfall erfolgt, sobald Strom fließt. Damit misst der Verstärker nicht mehr das korrekte Membranpotenzial der Zelle. Zur Beseitigung dieses bedeutenden Fehlers gibt es zwei praktikable Lösungen: entweder man korrigiert „im Voraus“ durch stromabhängige Anpassung des Sollpotenzials oder man entkoppelt die Spannungsmessung von der Strominjektion. Bei letzterer Variante erfolgt die Spannungsmessung in einer stromfreien Phase, in der kein Potentialabfall am Elektrodenwiderstand auftritt. Das entsprechende Verfahren wurde als ‚discontinuous single electrode voltage clamp‘ 1974 von Brennecke und Lindemann und wenig später von Wilson und Goldner sowie Finkel und Redman entwickelt und validiert. Dabei erfolgt die Strominjektion in Intervallen, zwischen denen jeweils eine stromfreie (unverfälschte) Spannungsmessung liegt. Der gemessene Wert wird in einem ‚sample-and-hold‘ Verstärker gehalten, mit dem Sollwert verglichen und anschließend wieder ein Korrekturstrom injiziert. Die Frequenz der Zyklen aus Spannungsmessung und Strominjektion sollte hoch gegenüber der Geschwindigkeit der beobachteten Membranprozesse sein. Dazu ist es notwendig, die Kapazität der Elektrode soweit wie möglich zu kompensieren. Reiner Polder hat im Rahmen seiner Diplomarbeit mittels systemtheoretischer Modellbildung gezeigt, dass hierzu ein sogenannter Proportional-Integral-Regler besser geeignet ist als der sonst übliche Proportional-Differential-Regler. Die elektronische Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen in einen funktionierenden Meßverstärker war eine außerordentliche, bravouröse Ingenieurleistung. Gleichzeitig eignete sich der Verstärker für verschiedene Meßverfahren (Voltage-Clamp, Current-Clamp oder Brückenmodus) und unterschiedliche Elektroden (hochohmige „scharfe“ Mikroelektroden, niederohmige Patch-Clamp Pipetten).
Dieser Typ von Verstärker wurde zur Grundlage seiner weiteren Arbeit und seiner Firma. Dabei bot ihm das Lux‘sche Labor eine ideale Arbeitsumgebung, in der er eng mit ausgezeichneten jungen Elektrophysiologen zusammenarbeiten konnte. Die Nähe zu den wissenschaftlichen Anwendungen und zu den Wissenschaftlern selbst ist seither das prägende Charakteristikum von Reiner Polders Arbeitsweise geblieben. Er hat selbst nicht den Weg einer akademischen Laufbahn gewählt, sondern unmittelbar nach Abschluss der Diplomarbeit 1984 gemeinsam mit seiner Frau Hannelore in Tamm bei Stuttgart eine Firma gegründet, um maßgeschneiderte Lösungen für experimentell arbeitende Elektrophysiologen anzubieten: npi electronic. Der Name steht für „neurophysiology instruments“, wird aber gerne mit der Reiner eigenen leisen Ironie als „nearly perfect instruments“ übersetzt. Person und Firma blieben von den Ursprüngen in der physiologischen Forschung geprägt – dem Interesse an wissenschaftlichen Fragestellungen, dem intensiven Austausch mit den Wissenschaftlern und der Freude an der Vermittlung meßtechnischer Zusammenhänge. Diese Eigenschaften haben Reiner Polder zu einer zentralen Persönlichkeit der elektrophysiologischen „Szene“ in Deutschland und weit darüber hinaus gemacht. Mit der Firma hat er, wie er einmal sagte, einen Lebenstraum verwirklicht – dass sie von seiner Frau Hannelore und seinem Sohn Bernd weitergeführt wird, war ihm in den letzten Jahren eine Freude und ein Trost.
Reiner Polder hat viele Wissenschaftler – gerade in frühen Karrierestadien – für die Besonderheiten und Fall-stricke elektrophysiologischer Messungen sensibilisiert. Er war enorm belesen und zitierte mit erstaunlicher Detailkenntnis aus den verschiedensten Publikationen, samt einer Analyse der in den Abbildungen und Daten verborgenen messtechnischen Probleme. Ebenso kannte er für fast jede denkbare Anwendung Ansprechpartner, die bereits mit diesem oder einem ähnlichen Problem zu tun hatten. Reiner hatte den genuinen Wunsch, sein Wissen zu teilen und junge Wissenschaftler/-innen zu fördern. Viele heute etablierte Elektrophysiologen erinnern sich mit einem Schmunzeln daran, wie ihn seine Begeisterung gerade in den Anfangsjahren manchmal über das Ziel hinausschießen ließ – wer ratlos vor den vielen Knöpfen und Schaltern der frühen Verstärker saß, war mit den vorlesungsreifen elektrotechnischen und messtheoretischen Ausführungen von Reiner leicht überfordert. Aber eben nicht alleingelassen: Reiner begegnete allen Ansprechpartnern mit großem Ernst und machte ihre aktuellen methodischen Probleme zu seinen eigenen. Hier mag die eigene Erfahrung prägend gewesen sein – die Mutter war Lehrerin, der Vater Elektrotechniker und später ebenfalls als Lehrer tätig. So wurde Reiner früh an das Basteln und Bauen von Geräten herangeführt, aber auch an die Kultur der Wissensvermittlung. Nicht anders hat er es später mit seinen Söhnen gemacht.
Das Portfolio der Firma hat sich über die Jahrzehnte parallel zu den Erfordernissen einer modernen Neurophysiologie kontinuierlich erweitert und umfasst inzwischen verschiedenste Messverstärker, Stimulatoren, spezielle Geräte für die schnelle Applikation von Wirkstoffen, für optogenetische Verfahren und -zunehmend- für elektrophysiologische Messungen in vivo. Oft wurden Geräte in gemeinsamen Projekten mit den beteiligten Wissenschaftlern entwickelt oder optimiert, so dass Reiner Polder Autor mehrerer Publikationen war. Für viele spezielle Probleme hat er mit seinen Mitarbeitern eine technische Lösung entwickelt. Besonders stolz war er auf einen 64-Kanal-Verstärker, der im südamerikanischen Dschungel erfolgreich zum Einsatz kam, um das Kommunikationsverhalten von schwach elektrischen Fischen zu studieren. Er war aktiv an mehreren Forschungsverbünden beteiligt, z.B. dem Bernstein Center for Computational Neuroscience in München, in dem er seinen Verstärker für Dynamic Clamp Experimente weiterentwickelt hat. Mit Freude ergriff Reiner die Möglichkeit als „Beneficiary“-Partner in dem Horizon 2020 Netzwerk EU-GliaPhD mitzuarbeiten. Außerhalb des normalen Tagesgeschäftes konnte hier die Digitalisierung der bewährten ELC-Verstärker angegangen werden. Gemeinsam mit dem jungen indischen Doktoranden Chaitanya Jha brachte er nach wenigen Monaten das Projekt auf einen erfolgreichen Weg. Leider wird er den abschließenden Erfolg dieser Arbeiten nicht mehr miterleben.
Reiner war immer hoch motiviert, sein Wissen weiterzugeben, dabei eine methodenkritische, handwerklich saubere elektrophysiologische Kultur zu pflegen und vor allem junge Wissenschaftler zu fördern. Die Tagungen der Fachgesellschaften (Neurowissenschaftliche Gesellschaft, Deutsche Physiologische Gesellschaft, FENS u.a.) hat er nicht nur als Aussteller unterstützt, sondern dort regelmäßig Symposien oder Workshops angeboten, in denen sowohl junge wie bereits profilierte Wissenschaftler ihre innovativen Methoden vorstellten. Über viele Jahre hinweg hat er Studierenden aus aller Welt die Grundlagen elektrophysiologischer Messverfahren und die ideale Verwendung der verschiedenen Messverstärker erklärt, sei es im „eigenen“ Horizon 2020 Projekt EU-GLiaPhD, auf dem bekannten Workshop ,Microelectrode Techniques for Cell Physiology' in Plymouth oder bei den Sommerschulen an der Universität Sains Malaysia in Kota Bharu. Er hat diese Kurse mit nie nachlassender Konzentration, Engagement und Enthusiasmus begleitet.

Hans Reiner Polder und sein Doktorand Chaitanya Jha diskutieren den ersten Prototypen zum neuen UniClamp-Verstärker, dem digitalen Pendant zum analogen ELX-03XS Verstärker, einem der „Arbeitspferde“ von npi electronic.
Wer Reiner kennenlernte, kam schnell in Gespräche über die Elektrophysiologie hinaus. Seine reichen Geschichtskenntnisse und die anhaltende Verbindung zu seiner ursprünglichen Heimat in Siebenbürgen machten ihn zu einem aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens, immer verbunden mit Geschichten über Menschen, die ihm nahestanden. Wir werden seine weltoffene, genuin menschenfreundliche Haltung, seinen Humor, seine Anekdoten, seine Fachkenntnisse und die gemeinsame Arbeit vermissen. Dankbar sind wir auch für sein großzügiges Wirken als Sponsor vieler kleiner und größerer Konferenzen. In seinen wissenschaftlichen Partnern und Freunden, seinen Mitarbeitern und vor allem seiner Familie wird viel von ihm weiterleben!
Prof. Jan Benda, Tübingen
Prof. Andreas Draguhn, Heidelberg
Prof. Frank Kirchhoff, Homburg
Prof. Bernd Sutor, München
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Review articles
- Misconceptions about neuroscience – prevalence and persistence of neuromyths in education
- Exploring brain diversity in crustaceans: sensory systems of deep vent shrimps
- Neuroscience in transgender people: an update
- Manipulating neural activity and sleep-dependent memory consolidation
- Atomic force microscopy for cell mechanics and diseases
- Presentation of scientific institutions
- Verlust und Wiedererlangen der Kontrolle über den Drogengebrauch
- Research on healthy aging mechanisms in Magdeburg by new DFG research training group 2413 SynAGE
- Better data – better science
- Book-review
- A brain for numbers. The biology of the number instinct.
- Obituary
- Dipl. Ing. univ. Hans Reiner Polder
- News
- Nachrichten aus der Gesellschaft
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- Review articles
- Misconceptions about neuroscience – prevalence and persistence of neuromyths in education
- Exploring brain diversity in crustaceans: sensory systems of deep vent shrimps
- Neuroscience in transgender people: an update
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- Atomic force microscopy for cell mechanics and diseases
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- Verlust und Wiedererlangen der Kontrolle über den Drogengebrauch
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- Better data – better science
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- A brain for numbers. The biology of the number instinct.
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