Startseite Stercus Abrahe: Binäre Codes in Antijudaismus und Antisemitismus
Artikel Open Access

Stercus Abrahe: Binäre Codes in Antijudaismus und Antisemitismus

  • Christoph Cluse EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 11. November 2022
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill
Aschkenas
Aus der Zeitschrift Aschkenas Band 32 Heft 2

Abstract

The common distinction between the concepts of »Anti-Judaism« and »Antisemitism« has recently been challenged by medievalists. The present study investigates how the concepts are related, taking its starting point from the widespread association of »Jews« with »money«. Based on two case studies – the Liber floridus of Lambert of Saint-Omer (c.1121) and the Viennese scholars Henry of Langenstein and Henry Totting of Oyta (both d. 1397) – it argues that the patristic distinction between Jewish ›carnality‹ and Christian ›spirituality‹ provided the binary code used to distinguish between good and bad in the economic world.

Der vorliegende Beitrag[1] unternimmt den Versuch, vormoderne, mittelalterliche Quellenzeugnisse mit Blick auf den modernen Begriff »Antisemitismus« zu lesen. Zu fragen ist, ob die traditionelle Unterscheidung zwischen »Antijudaismus« (begriffen als eine im Wesentlichen auf die religiöse Differenz bezogene Ausprägung der Judenfeindschaft) und »Antisemitismus« (eine unter den Bedingungen der Moderne über das Religiöse hinausgehende, gleichsam entgrenzte »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«) sinnvoll ist und wenn ja, wie das Verhältnis zwischen den beiden Begriffen zu fassen ist. Er nimmt dafür einen Komplex von Fremdbildern in den Blick, der vereinfacht mit dem Schlagwort »Juden und Geld« bezeichnet werden kann und der seit dem Spätmittelalter eine dauerhafte Belastung des christlich-jüdischen Verhältnisses darstellt.[2] An zwei Beispielen – dem Liber floridus des Kanonikers Lambert von Saint-Omer aus dem frühen 12. und den Diskussionen um die Erlaubtheit des Rentenkaufs im späten 14. Jahrhundert – soll verdeutlicht werden, wie das in religiöser Polemik herausgebildete Prinzip der binären Kodierung von Gut und Böse auch die Diskurse der christlichen Mehrheit auf »weltlichen« Feldern der Beschreibung von Juden und Judentum strukturiert hat. Augenfällig wird dies in den Schriften des großen Wiener Gelehrten Heinrich von Langenstein (gest. 1397), der Juden einerseits als »Brüder« anzusprechen suchte und sie andererseits als stercus Abrahe verdammte.

Der Beitrag nimmt zunächst (Teil 1) eine Positionsbestimmung vor mit Blick auf das Thema »Mittelalter und Antisemitismus«. Teil 2 stellt ein hochmittelalterliches Beispiel vor für das, was als »Kodierung« zu bezeichnen wäre. Überleitend (Teil 3) sind zunächst einige Worte über den mittelalterlichen Rentenkauf zu verlieren. Seine moralische Problematik wird unter Rückgriff auf einen Traktat erläutert, der dem Prager Magister Konrad von Ebrach OCist (gest. 1399) zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund sind dann (Teile 4–5) einige zentrale Passagen aus den Werken Langensteins und seines Wiener Freunds und Kollegen Heinrich Totting von Oyta zu diskutieren, die ihre Rentenkauf-Diskussionen jeweils mit Angriffen auf die zeitgenössischen Juden verbanden. Schließen will ich mit einem kurzen Fazit, das die Leitfrage nach dem Verhältnis von Antijudaismus und Antisemitismus aufgreift.

1 Mittelalter und »Antisemitismus«

Kann man, müssen wir mit Blick auf das Mittelalter von »Antisemitismus« sprechen? Nur wenige Mediävistinnen und Mediävisten haben sich bisher dafür ausgesprochen und dabei versucht, das Verhältnis des Begriffs zu dem des »Antijudaismus« zu klären. Zu ihnen gehört Gavin Langmuir, der 1990 »Antijudaismus« beschrieb als eine nichtrationale Feindseligkeit gegenüber Juden oder Judentum, die sich auf wirkliche Praktiken oder Glaubenssätze der jüdischen Gemeinschaft bezieht (auch wenn diese dabei oft falsch gedeutet werden). Demgegenüber sei »Antisemitismus« eine irrationale Feindseligkeit gegen Juden oder Judentum, die sich auf Praktiken oder Vorstellungen bezieht, die Juden gar nicht haben und hatten (also auf »Schimären«). Langmuir hat sich vor allem mit der Ritualmordlegende beschäftigt: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Juden aus religiösen Gründen Christenkinder ermorden würden. An dieser Stelle wären also bereits im 12. Jahrhundert antisemitische Denkweisen zu konstatieren.[3]

Eine ähnliche Argumentationslinie vertritt neuerdings François Soyer in der kleinen Abhandlung Medieval Antisemitism?, die nicht zufällig in einer Reihe namens »Past Imperfect« erschienen ist. Auch Soyer identifiziert Motivkomplexe, die eine Kontinuität vom Hoch- oder Spätmittelalter bis in die Neuzeit aufweisen. Er hält den Begriff »Antisemitismus«, bezogen auf mediävistische Sujets, vor allem in der Pluralform für nützlich, spricht also von »Antisemitismen«. Dabei hält er drei Komplexe für besonders aufschlussreich: die Entdeckung des »Talmudjuden« im 12. Jahrhundert und die damit verbundenen Verschwörungsmotive; die Entmenschlichung des jüdischen Körpers und die damit einher gehende Dämonisierung; schließlich die häufigere Ineinssetzung von jüdischer Religion und jüdischer Genealogie oder auch »Rasse« seit dem 15. Jahrhundert. Über polemische Schriften der Frühen Neuzeit, so Soyer, seien diese Motivkomplexe in die Moderne tradiert worden.[4]

Einen radikaleren Zugriff wählt Peter Schäfer in seiner Kurze[n] Geschichte des Antisemitismus, indem er sich bewusst gegen eine »Trennung von ›Antijudaimus‹ als der spezifisch christlichen Ausprägung und ›Antisemitismus‹ als seiner völkisch-rassistischen modernen Spielart« ausspricht. Solche ›Spielarten‹ sind laut Schäfer, der seinen Ausgangspunkt beim antiken, vorchristlichen Judenhass wählt, nur Aspekte eines »variablen, vielschichtigen und offenen Systems«.[5] Man kann sagen, dass Variabilität, Vielschichtigkeit und Offenheit zur besonderen Resilienz dieses Systems beitragen.[6] Sowohl Schäfer als auch Soyer sprechen übrigens die apologetische Tendenz an, die nicht selten im Spiel ist, wenn der »traditionelle Antijudaismus« als gleichsam harmloserer Gegenpart zum modernen »Rasse-Antisemitismus« ausgespielt wird.[7]

Für den vorliegenden Beitrag knüpfe ich allerdings nicht an Schäfers Buch an, sondern greife auf die Überlegungen zurück, die David Nirenberg in seinem Buch Anti-Judaism vorgestellt hat. Auch Nirenberg beginnt seine Erzählung im Alten Ägypten. Ihm geht es dabei ebensowenig wie Schäfer um die Rekonstruktion einer Genealogie, sondern vielmehr um das, was die unterschiedlichen Ausformungen der Judenfeindschaft gleichsam auf einer Meta-Ebene miteinander verbindet: Warum hat das Denken in Begriffen von »jüdisch«, »die Juden« und »Judentum« in so vielen unterschiedlichen Gesellschaften des sogenannten Westens, einschließlich solcher, in denen gar keine Juden lebten, eine derartige Bedeutung angenommen? Welche Funktion hat das Denken in diesen Begriffen für die diskursive Weltwahrnehmung dieser Gesellschaften gehabt – in Nirenbergs Worten: »in their efforts to make sense of their world«?[8] Während Schäfer also eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Antijudaimus und Antisemitismus ablehnt und sich für letzteren entscheidet, verhält es sich für Nirenberg gerade umgekehrt: »Anti-Judaism« ist, geistesgeschichtlich betrachtet, für ihn der übergeordnete Begriff.

2 Die Welt binär kodieren: arbor mala

Dafür, wie die Figur des »Jüdischen« das Denken über die Ordnung der Welt kodieren und damit strukturieren konnte, lagen den Gelehrten des Lateinischen Mittelalters aus der Spätantike im Wesentlichen zwei Modelle vor, die beide mehr oder weniger binär organisiert waren: Das eine bestand darin, den Wert und die Wahrheit des sogenannten ›Alten Testaments‹ insofern anzuerkennen, als darin die grundlegenden Glaubenswahrheiten des Christentums vorgebildet waren. Durch deren Erfüllung im Christusereignis wurden sie aber durch eine neue, explizitere Offenbarung abgelöst. Diese Vorstellung wurde wohl am nachhaltigsten von dem Kirchenvater Augustinus an das lateinische Mittelalter überliefert.[9] Das andere Denkmodell ist eng damit verbunden: Denn die skizzierte Erfüllungs- und Ablösungsdynamik war bei den Kirchenvätern nicht ohne wertenden Dualismus. So nimmt beispielsweise auch Augustinus in seinem heilsgeschichtlichen Entwurf De Civitate Dei klare Zuordnungen auf der symbolischen Ebene vor: Kain und Abel, Hagar und Sara, Lea und Rachel, Esau und Jakob sind jeweils Präfigurationen nicht nur der Civitas terrena und der Civitas Dei, sondern zugleich von Judentum und Christentum. In der Heilsgeschichte stehen sich so Fluch und Verheißung, unfrei und frei, alt und neu, ›fleischlich‹ und ›geistig‹ gegenüber. Im Figurenpaar von Ecclesia und Synagoga hat diese binäre Kodierung seit dem hohen Mittelalter an zahlreichen Kirchenportalen Ausdruck gefunden.[10]

In einem semi-monastischen Kontext entstand im frühen 12. Jahrhundert der sogenannte Liber floridus, geschaffen von einem Regularkanoniker namens Lambert. Das erstaunliche Werk, das uns als Autograph erhalten ist,[11] versucht in vielerlei Hinsicht, das religiös relevante Wissen über die Welt seiner Zeit geordnet darzustellen. So enthält der Liber floridus auch zahlreiche Tafeln, Diagramme und grafische Illustrationen bestimmter Sachverhalte.[12] Der Erfolg des Werkes zeigt sich in neun erhaltenen Kopien – eine überraschend hohe Zahl angesichts seines kompilativen Charakters bei gleichzeitig hohem gestalterischem Aufwand.[13]

Für den vorliegenden Zusammenhang ist die zweiteilige Tafel auf Blatt 231v und 232r von besonderem Interesse. Hier finden wir spiegelbildlich angeordnet links einen farbenfrohen, mit unterschiedlichen Blättern und Blüten sowie Figurenmedaillons geschmückten Baum, rechts ein blasses, eintöniges und von viel Text bestimmtes Gegenstück (vgl. Abb. 1). Die beiden Bäume heißen nicht zufällig der »gute« und der »schlechte« Baum, arbor bona und arbor mala.[14] Auf der Seite des Guten finden wir eine Vielzahl von biblisch bezeugten Gewächsen, von der Rose über die Terebinthe und die Zypresse bis zum Balsam. Dazwischen sind an den Astgabeln oder Knotenpunkten die Personifikationen menschlicher Tugenden zu sehen: Wurzelnd in der Nächstenliebe (karitas) zeigt der Baum zwölf weitere Tugenden, unter denen, wie ich meine, die für das gute Funktionieren einer Klerikergemeinschaft wichtigen besonders hervortreten: Langmut und Geduld, Keuschheit und Milde, Nüchternheit und Selbstbeherrschung.

Auf der anderen Seite gibt es nur ficuli, also »kleine Feigen«. Der eintönige, ja steril anmutende Feigenbaum bringt nichts hervor als Untugenden, die den Tugenden spiegelbildlich gegenübergestellt werden: Ausgehend von der Habgier (cupiditas) finden wir hier zwölf Begriffe, unter denen Dissens und Zank, Feindschaft, Neid und Streitsucht wohl wieder auf das semi-monastische Setting dieser moralischen Weltordnung verweisen. Dafür spricht auch die Präsenz sexueller Untugenden wie fornicatio, inmunditia und luxuria sowie der religiösen Verzweiflung als Gegenpart zur »heiligen Hoffnung« auf der anderen Seite.

Der um die Mitte des 11. Jahrhunderts geborene Lambert schrieb und gestaltete seinen Liber floridus über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren; seine letzten Notizen stammen von Juni 1121. Als Regularkanoniker des Marienstifts von Saint-Omer im heute französischen Teil Flanderns (Dept. Pas-de-Calais) hat er wohl selten einen leibhaftigen Juden gesehen.[15] Gleichwohl dokumentiert sein Liber floridus ein lebhaftes Interesse für die zeitgenössische christliche Auseinandersetzung mit dem Judentum. Enthalten darin sind die Disputatio contra Judaeum de adventu Christi Odos von Cambrai (gest. 1113)[16], unmittelbar anschließend ein Exzerpt aus der Disputatio Iudaei et Christiani Gilbert Crispins (gest. 1117)[17] sowie schließlich in extenso eine Kopie des Traktats De fide catholica contra Iudaeos Isidors von Sevilla (gest. 636).[18] Unmittelbar nach Isidors Traktat folgt eine Illustration, die Christus mit Ecclesia und Synagoga zeigt.[19]

In diesen Zusammenhang ist einzuordnen, dass Lambert seine beiden Bäume zusätzlich mit den Begriffen Ecclesia fidelium einerseits und Synagoga andererseits charakterisiert. »Ecclesia« und »Synagoga« erscheinen also als Chiffren, als binäres Prinzip, als Pole in seinem Nachdenken über Gut und Böse im Zusammenhang einer Gemeinschaft, in der zweifellos niemand der »Synagoge« angehörte, in der aber schlechtes Benehmen als »jüdisch« markiert wird.

Die Anknüpfungspunkte für diese Zuordnung findet Lambert in der Schrift beziehungsweise deren Auslegung: In der linken oberen Ecke der »Arbor mala«-Tafel (fol. 232r) finden wir Auszüge aus den Evangelien und einen Psalmvers. Lambert greift auf das bekannte Bild des unfruchtbaren Feigenbaums zurück, den Jesus nach Mk 11,21 verflucht haben soll. Darüber hinaus verweist er auf einen Ausspruch Johannes des Täufers bei Matthäus: Der Täufer wendet sich darin an die »Schlangenbrut« der Pharisäer und Sadduzäer (Mt 3,7) und fordert sie auf, ihre Umkehrwilligkeit mit Werken (also Früchten) unter Beweis zu stellen. »Schon ist die Axt an die Wurzel des Baumes gelegt«, droht er (Mt 3,10; dort folgt: »Jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen«). Tatsächlich sind im Bild zwei Äxte bei den Wurzeln des Baumes platziert.

Abb. 1: »Liber Floridus Ghent 231v–232r«
Abb. 1:

»Liber Floridus Ghent 231v–232r«

Hinsichtlich der zitierten Verse konnte Lambert auf ältere Auslegungen zurückgreifen. Dies gilt besonders für die Interpretation des verdorrten Feigenbaums als Sinnbild für die Juden.[20] Seltener finden wir diese Exegese in Bezug auf Mt 12,33 (»Entweder der Baum ist gut – dann sind auch seine Früchte gut. Oder der Baum ist schlecht – dann sind auch seine Früchte schlecht«). Diese Sentenz wird von den meisten Kirchenvätern im moralischen Sinne als Aufforderung zur rechten Nachfolge gefasst. Die vereinfachende Zuordnung von arbor bona und arbor mala zu Christus und seinen pharisäischen Kontrahenten scheint dagegen eine frühmittelalterliche Innovation zu sein; wir finden Sie im 9. Jahrhundert bei Hrabanus Maurus (gest. 856).[21] Erst bei pseudo-Beda und Otfried von Weißenburg (gest. 875) wird arbor mala allgemeiner auf die »Judaei« bezogen.[22] Die Glossa Ordinaria, die zu Lamberts Lebzeiten in der Schule Anselms von Laon entstand, deutet das Bild von der »Axt«, die bereits an die Wurzel gelegt sei (Mt 3,10), als Hinweis auf das »Ende des jüdischen Volkes«.[23] Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erinnerung an den Ersten Kreuzzug (1096) und die damit verbundenen Judenverfolgungen hatte diese Auslegung eine besondere Relevanz; auch für Lamberts ganz eigenes Interesse an der Figur des Jüdischen ist dieser aktuelle Zusammenhang sicher zu berücksichtigen.[24] Sein Nachdenken über Juden und Judentum steht, wie Tollebeek gezeigt hat, in einer eschatologischen Perspektive.[25] Heilsgeschichtlich und naturkundlich interessiert, suchte der Kompilator des Liber floridus aber zugleich nach Möglichkeiten der Verallgemeinerung und moralischen Einordnung.[26]

Die Zuordnung von caritas und cupiditas zu den Wurzeln der beiden Bäume ist schon bei Augustinus zu finden.[27] Dass Lambert dieses Begriffspaar für die Ordnung seiner Bildwelt verwendet, mag also der Konvention geschuldet sein. Zugleich jedoch fügt sich die Zuordnung der cupiditas zur Synagoge ebenfalls ein in jene christliche Auslegungstradition, die alles »Jüdische« mit dem (bloß) »Fleischlichen« und Materiellen assoziierte. Ausgehend von dem Vorwurf, Juden läsen die Schrift allein mit Blick auf deren praktische Befolgung (versinnbildlicht in der Beschneidung, daher »fleischlich«) und hätten keinen Sinn für ihre spirituelle Bedeutung,[28] mutmaßte man bald, dies sei darauf zurückzuführen, dass sie dies um der irdischen, materiellen Belohnung willen täten, die ihnen Gott im ›Alten Testament‹ dafür versprochen habe.[29] Mit der Zeit wird auf diese Weise carnalis zur Chiffre für eine angeblich materiell dominierte Werteordnung, das Judentum wird als eine Religion des Materiellen denunziert.[30]

3 Rentenkauf und »Judenwucher«

Seit dem 12. Jahrhundert hatten sich christliche Theologen zunehmend mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Menschen sich moralisch korrekt in der zunehmend komplexer scheinenden Welt des Wirtschaftslebens verhalten sollten. Bekanntlich radikalisierte die römische Kirche in dieser Zeit das Verbot des Geldverleihs gegen Zins; zugleich hatten die Beichtväter immer wieder Zweifelsfälle vor sich, für die in einer wachsenden Literatur von Bußbüchern und Beichtspiegeln Lösungen gesucht wurden.[31] Auch dafür wurde mit der Figur des »Juden« bzw. des »Jüdischen«, die, wie wir sahen, von jeher mit der Vorstellung einer besonderen Verhaftung im bloß Materiellen (»Fleischlichen«) assoziiert war, eine Kategorie genutzt, die dabei half, die Komplexität der Fragen zu reduzieren und die ökonomische Welt nach Gut und Böse zu ordnen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Hypothese anhand des Streits um den so genannten Rentenkauf zu überprüfen.

Der Rentenkauf war überall in Mitteleuropa bis zum 14. Jahrhundert zu einem wichtigen Kreditinstrument geworden. Ohne auf die Einzelheiten eingehen zu können[32], sei diese Kreditform hier kurz und sozusagen idealtypisch skizziert: Eine Person oder Institution (A) verkauft dabei an eine andere (B) für einen Kaufpreis (C) das Recht auf den Bezug einer in Zukunft (meist jährlich) zu leistenden Abgabe (D), die als Zins (census) beziehungsweise Rente (redditus) bezeichnet wird. Dies kann auf Dauer (als Ewigrente) oder für die Lebenszeit des Rentenkäufers (als Leibrente) vereinbart werden. Im Unterschied zu einem Darlehen, das vom Gläubiger nach Ablauf der Frist zurückgefordert werden konnte (gegebenenfalls mit gerichtlichen Mitteln), konnte das Rentenverhältnis, wenn überhaupt, nur durch den Verkäufer durch (angekündigte, nur zu bestimmten Terminen erlaubte) Rückzahlung der ursprünglichen Kaufsumme beendet werden. Es war diese Ablösbarkeit, die lange umstritten war, die aus dem Rentenkauf erst ein so gängiges Kreditinstrument machte.

Es ist unschwer zu erkennen, dass dieser Kaufvertrag auch als verzinslicher Kredit gelesen werden kann: Der Verkäufer der Rente ist dabei der Kreditnehmer, der Rentenkäufer ist Kreditgeber und wird zum Gläubiger; der Kaufpreis steht für die Kreditsumme, die Rentenhöhe entspricht den jährlichen Zinsen. Vergleicht man diese Kreditform mit den zeitgenössischen Krediten bei jüdischen oder lombardischen Geldverleiherinnen oder -verleihern, fallen jedoch Unterschiede ins Auge: In der jeweiligen Ausgestaltung standen den langfristigen Rentenkrediten meist kurzfristige Kredite bei Juden und Lombarden gegenüber; der hypothekarischen Sicherung mit Immobilien die Faustpfänder; den eher hohen die eher mittleren bis niedrigen Leihsummen; den mäßigen Zinssätzen von 5 bis 10 Prozent p. a. die hohen Zinsen von zwei Pfennigen pro Pfund und Woche. Angesichts der offensichtlich günstigeren Kreditkonditionen bei Renten stellt sich die Frage, warum man überhaupt zu jüdischen Geldverleihern ging.[33] Hier ist ein funktionales Ineinandergreifen anzunehmen, das heißt, dass jüdische Kredite nicht selten zur Zwischenfinanzierung genutzt wurden, wenn der Zinstermin nahte und der Rentenschuldner gerade nicht flüssig war. Aus dem erhöhten Ausfallrisiko ergab sich der notwendigerweise höhere Zinssatz bei den jüdischen Darlehen.[34]

Sofern man den Rentenkauf als verzinslichen Kredit las, lief er natürlich dem kirchlichen Zinsverbot zuwider. Schon im späten 13. Jahrhundert formulierte der Pariser Gelehrte Heinrich von Gent (gest. 1293) die wesentlichen Einwände gegen die Erlaubtheit des Rentenkaufs in mehreren öffentlichen Disputationen.[35] Seine Kritik lief im Wesentlichen darauf hinaus, dass es keine hinreichende Abgrenzung des Rentenkaufs vom Darlehensgeschäft gebe.[36] Trotz der Tatsache, dass Heinrichs Schlussfolgerungen von maßgeblichen Zeitgenossen abgelehnt wurden,[37] kam die Debatte um die Erlaubtheit des Rentenkaufs im Spätmittelalter lange nicht zur Ruhe. Die Entscheidung Papst Martins V. in der Bulle Regimini universalis von 1425, die den Rentenkauf mit Rückkaufklausel für wucherrechtlich unproblematisch erklärte, sorgte für eine gewisse Beruhigung;[38] im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts polemisierten Angehörige der Bettelorden, insbesondere Franziskanerobservanten, aber weiterhin gegen den Rentenkauf.

Offenbar hatte die Praxis in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nochmals erheblich zugenommen. Dies ist jedenfalls die geschilderte Ausgangssituation einer wenig bekannten Schrift De contractibus reddituum, die dem Zisterzienser-Magister Konrad von Ebrach (gest. 1399)[39] zugeschriebenen wird.[40] Der Text geht auf eine öffentliche Disputation zurück, die an der Prager Universität zwischen 1375 und 1378 stattfand.[41] Der Verfasser sagt, seine Argumente dienten nur der akademischen Auseinandersetzung in einem Verfahren, bei dem er die Vertretung des ablehnenden Standpunkts übernommen habe.[42] Seine Rhetorik lässt aber die Vermutung zu, dass es ihm um mehr zu tun war als um eine akademische Pflichtübung. Kurz zusammengefasst, läuft seine Argumentation auf sechs Punkte hinaus: Erstens widerspreche die Praxis des Rentenkaufs den biblischen Geboten der Nächstenliebe und damit zugleich dem Naturrecht.[43] Zweitens unterscheide sich der Rentenkaufvertrag nur dem Namen nach von einem Darlehensvertrag (dem mutuum).[44] Drittens handle es sich um keinen echten Kauf, weil weder die Ware noch der Preis genau bestimmt werden könnten;[45] fünftens sei es auch unlogisch, vom Kauf eines Rechts zu sprechen; denn dass (10) der gerechte Preis für das Recht auf (10 + 1) sein solle, widerspreche der Vernunft.[46] Sechstens werde nicht nur beim Darlehensgeschäft, sondern auch beim Rentengeschäft mit der Zeit gerechnet, die hier zu einem Werkzeug der zunehmenden Verknechtung werde, obwohl sie doch schon im Alten Testament zur Befreiung aus der Knechtschaft im Sabbatjahr vorgesehen sei.[47]

Für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem Konrads zweites Argument von Belang:

Wenn ceteris paribus der ganze Vertrag zwischen A und B mit ganz denselben Absichten auf beiden Seiten und nur mit der Änderung vorgenommen würde, dass der Käufer sagt und schriftlich festhält »ich leihe Dir [= A] zehn für eins« und so weiter, und A unter derselben Bedingung den Vertrag akzeptierte – dann würden doch alle ihn als Wuchervertrag werten, den die Heiligen und das Kirchenrecht verdammen.[48]

Er fährt fort: »Solche Bezeichnungen sind Wörter, die ganz nach dem Willen der Vertragsparteien gewählt werden, und eine Äußerlichkeit der genannten Verträge.«[49] In einem Bild zusammengefasst: »Du kannst einen Hund waschen und kämmen, aber er wird doch einer bleiben. So wird auch jener Kontrakt derselbe bleiben und gleich unerlaubt, ganz gleich wie er genannt werden mag.«[50]

An dieser Stelle kommen auch die Juden ins Spiel: Müssten die Christen, und besonders die Prälaten und Gelehrten unter ihnen, den Juden nicht sagen, dass sie ihre Wucherverträge nur als Kaufverträge bezeichnen bräuchten, um sie so zu erlaubten Verträgen zu machen? Dies würde doch auch jenen Christen etwas nützen, die ihnen Häuser vermieten, denn sie würden sich dann nicht mehr solchen (spirituellen) Gefahren aussetzen wie sie es jetzt tun.[51]

Die Willkürlichkeit der Bezeichnungen zeige sich, so Konrad, auch darin, dass an Orten, wo es »dem Namen nach christliche« Geldverleiher gebe, diese sich als »Geld- bzw. Münzkaufleute« (mercatores de pecuniis) bezeichneten. Er habe sogar gehört, in Wien gebe es einen Juden, der bei jeder Kreditvergabe sage und schreibe, er »kaufe« so und so viel pro Woche von dem Kunden, der ihm dafür ein Pfand versetze oder eine andere Sicherheit leiste. Ob man denn solche Leute bezüglich ihrer Verträge von Schuld freisprechen könne?[52] Dass der eine, ein Christ, erlaubterweise eine zehnprozentige Rente kaufen könne, der andere, ob Christ oder Jude, aber nicht zu zehn Prozent leihen dürfe – das möge verstehen wer will! (Qui possit hoc capere capiet!)[53] Am Ende rufe noch der Jude (mit den Worten des Hiob) aus:

»Ich schreie: Gewalt!« (Hiob 19,7) »Ihr quält mich, tretet mich mit Worten nieder und schmäht mich« (Hiob 19,2 f.), nämlich indem ihr mich einen Wucherer nennt, »und schämt euch nicht mich zu beleidigen« (Hiob 19,3). Hört doch auf euren Meister, der sagt: »worin du den anderen richtest, darin verurteilst du dich selbst« (Röm 2,1). Wenn ich aus meinem Vaterland in diese Knechtschaft geführt worden bin, sodass ich ein auskömmliches Leben nur noch mit dem Verleih von Geld auf Profit erwerben kann, dann nennst du mich einen verächtlichen Wucherer? Du aber, der du so viele der Deinen, nämlich der Christen, beraubst, wagst es, dich in aller Ruhe als »Herr« bezeichnen zu lassen? Wie einst der Pirat zu Alexander gesagt haben soll: »Weil ich mit einem kleinen Boot das Meer heimsuche, werde ich Dieb und Räuber genannt; du aber, der du mit einer großen Flotte die ganze Welt ausplünderst, nennst dich Imperator!« (vgl. Augustinus, De Civitate Dei, Buch 4, c. 4). Möge also der Christ zuerst »den Balken aus seinem Auge« herausziehen [Mt 7,4; Lk 6,42]![54]

Der Rentenkauf brachte – nicht anders als der Geldverleih der Juden – oft Verschuldungsprobleme mit sich.[55] Offenbar führte die Belastung städtischer Immobilien dazu, dass viele Häuser von ihren Besitzern nicht mehr in Stand gehalten werden konnten und verfielen.[56] Die städtische Steuerbasis erodierte, während auf der anderen Seite die Stadträte ja selbst längst der Versuchung erlegen waren, ihre Budgetdefizite durch den Verkauf von Leibrenten auszugleichen; nicht wenige Städte gingen gerade in der hier interessierenden Zeit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bankrott.[57]

Landesherren und städtische Magistrate reagierten auf diese Situation mit sogenannten Ablösungsgesetzen, auf deren Geschichte, Erfolg und Misserfolg hier wiederum nicht näher einzugehen ist.[58] Die herrschaftlichen Eingriffe bestanden vor allem darin, bestimmte für die Zinsschuldner günstige Ablösungsmodalitäten vorzuschreiben, und etwa auch für bereits laufende Verträge den Preis für den Rückkauf der Rente zu senken. Es ging also um erhebliche Markteingriffe.[59] Damit riefen die Gesetzgeber den teils erbitterten Widerstand der Geistlichkeit hervor. Denn auf dem Rentenmarkt waren die geistlichen Institutionen und Pfarreien die wichtigsten Akteure auf Käuferseite.[60] Sie empfingen nicht nur viele Stiftungen in Form von Renten, sondern investierten auch einmalige Zuwendungen systematisch auf dem Rentenmarkt. Ihnen musste also unbedingt an dem Nachweis gelegen sein, dass der Rentenkauf – jedenfalls ihr Rentenkauf – wucherrechtlich unproblematisch war.[61]

Vor diesem Hintergrund sind die mindestens vier Gutachten über den Rentenkauf zu lesen, die von Wiener Gelehrten zwischen 1392 und 1394 vorgelegt wurden. Sie reagierten auf Fragen und Probleme, die offenbar durch die Ablösungsgesetze des österreichischen Herzogs Rudolf IV. (gest. 1365) entstanden waren.[62] Zwei wichtige Beiträge zu dieser Debatte stammen von Magister Heinrich Hainbuche von Langenstein genannt von Hessen, ein weiterer von seinem Freund und Kollegen Heinrich Totting von Oyta.

4 »Juden« bei Heinrich von Langenstein

Langenstein war zweifellos die bedeutendste Figur in der Gründungszeit der Wiener Universität. Nach Studien und erster Lehrtätigkeit in Paris hatte er 1382 wegen des Schismas die Sorbonne verlassen und war 1384 vom Herzog an die neue Universität berufen worden, 1388/89 amtierte er als Dekan der theologischen Fakultät, 1393/94 als Rektor der Universität. Er starb 1397 in Wien.[63] Heinrichs umfangreiches theologisches Werk nimmt aus theologischer und pastoraler Perspektive auch zu zahlreichen gesellschaftlichen Fragen Stellung. Einheit und Reform der lateinischen Kirche – wir befinden uns in der Zeit des Großen Schismas – waren ihm ein wichtiges Anliegen.[64] Er zeigt ein gewisses Interesse für das Hebräische[65] und für die Juden seiner Zeit. Als Wiener Hauptwerk Langensteins gilt sein noch ungedruckter Kommentar zum Buch Genesis, der zwar nur bis zum Kapitel 3 des biblischen Buches reicht, aber schon in dieser fragmentarischen Form vermutlich heute 5.000 Druckseiten füllen würde.[66] Wie Fritz Peter Knapp am Beispiel des Arbeitsbegriffes im Genesiskommentar gezeigt hat,[67] sind die dort vertretenen Grundpositionen auch für das Verständnis von Langensteins Traktat über die Rentenverträge von grundlegender Bedeutung. Nicht zufällig steht dieser unter dem Leitwort: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« (vgl. Gen 3,19).[68]

Fritz Peter Knapp war es auch, der erstmals auf die in mehreren Handschriften jeweils unvollständig erhaltenen Sermones ad judaeos convertendos aus Heinrichs Feder hingewiesen hat. Diese Texte sind im deutschsprachigen Raum die frühesten erhaltenen Predigten, die sich ausdrücklich der Bekehrung der Juden zum christlichen Glauben widmen.[69] Ob die Predigten je gehalten wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Ihr Herausgeber charakterisiert sie als ein seltenes Gesprächsangebot, das freilich von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen sei; denn trotz der vorgebrachten Absicht, in einen vorurteilsfreien Dialog einzutreten, enthalten sie über weite Strecken doch wieder die üblichen Stereotype und eben – Vorurteile.[70] Gleichwohl sei die Ansprache an die jüdischen »Brüder« in der zweiten Bekehrungspredigt bemerkenswert:

… Hört uns mit offenem Ohr, und umgekehrt werden wir euch hören. Kein Zorn oder Groll möge uns entzweien, sondern die Liebe der in den heiligen Vätern begründeten Brüderlichkeit uns verbinden. Nicht möge das eine Volk das andere vor den Kopf stoßen, sondern in Frieden höre ein Bruder den andern an und der Sohn den Vater, in Freundschaft sollen sie mit einander reden und sehen, was der Grund des Zwistes ist, und mögen imstande sein, diesen zu beseitigen und einträchtig dem einen Gott in einem Glauben und einem Ritus friedlich zu dienen.[71]

In der ersten Predigt heißt es:

Ich habe Mitleid mit euch, o hebräische Söhne der Zerstreuung, die ihr, aus dem Fleische der heiligen Väter Abraham, Isaak und Jakob erzeugt, noch nicht zur himmlischen Segnung, welche Euch einst im Messias verheißen wurde, gelangt seid, daher freilich deren Söhne – dem Fleische, nicht (aber) dem Geiste nach. Dem Geiste nach sind mit größerem Recht ihre Söhne: alle aus den Heidenvölkern zur Erkenntis des einen wahren Gottes Versammelten, welche der von Gott den Vätern vor vielen Jahrhunderten gegebenen göttlichen Verheißung teilhaftig wurden. Und dadurch haben einige mit euch ein Band der Verbrüderung oder Verwandtschaft geknüpft. Kraft (dieses Bandes) bin ich als einer von denjenigen, welche den Glauben an den wahren Gott von den Juden erlangt haben, gewiss in gleicher Weise auch vom Eifer für euer Heil ergriffen und erleide euretwegen Schmerz, o Brüder aus dem Samen der Väter, die ihr im Elend zurückgelassen seid.[72]

Die Abstammung von den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob, einerseits aus dem Fleisch oder dem Samen, andererseits (und in einem höheren Sinne wahrhaftig) im Geiste, begründet also eine Art Brüderlichkeit zwischen Juden und Christen, die als Grundlage des Gesprächs dienen soll (jedenfalls sollen die Juden ihm, Langenstein, zuhören).

Die Kategorie der Abstammung, dem Fleische (de semine) oder dem Geiste nach, greift der Verfasser auch in seinem zweiteiligen Rentenkauf-Traktat auf, freilich im Rahmen einer Polemik, deren Heftigkeit verstört. Gegen Ende des ersten Hauptteils spricht Langenstein die fortdauernde Existenz der Juden unter den Christen an, deren Ursache er vor allem in der Habgier der weltlichen Herrschaftsträger verortet – den Geldhandel (»Wucher«) der Juden duldeten sie aus eigennützigen Motiven (ein nicht gerade neues Argument).[73] Mag sein, argumentiert er, dass den Juden im Gesetz (d. h. in der Tora) der Verleih gegen Zinsen an Heiden erlaubt war (vgl. Dt 23,20 f.); heute begingen sie eine Sünde, wenn sie Zinsen von den Christen verlangen, denn diese seien die wahren Juden »dem Geiste nach, wenngleich nicht nach dem Fleische«.[74] Die Hintergründe dieses Verhältnisses entwickelt Langenstein dann folgendermaßen:

Zur Zeit der Verkündigung des Evangeliums, als das Licht der himmlischen Lehre kräftig in der Welt leuchtete, haben viele aus beiden Völkern, also sowohl Heiden als auch Israeliten, die Gnade Gottes dankbar angenommen und der Wahrheit geglaubt. Sie haben sich vertrauensvoll in der katholischen Einheit des umfassenden Glaubens, jenseits dessen es kein Heil mehr gibt, versammelt. Dabei haben sie aus beiden Völkern, also sowohl dem heidnischen als auch dem jüdischen, viele hinter sich gelassen, die nicht glauben wollten und der göttlichen Gnade gegenüber undankbar blieben, die man zu Recht mit der Spreu oder dem Kot (fecibus) oder mit jedweden anderen unnützen und überflüssigen Resten vergleichen kann.[75]

Das Bild von Spreu und Weizen ist recht geläufig, das von den feces nicht.[76] Langenstein wird hier noch deutlicher: Wenn man die Reste aus beiden Völkern vergleiche, erwiesen sich die Reste des jüdischen Volkes als die schlimmeren, sie seien »die übelsten feces, die jeden Wein, der auf ihnen liegt, verderben«. Das Bild stammt aus der Kelterei: »So wie der Abfall des (Wein-) Schaums alles verdirbt, wenn er nicht durch den Prozess des Abschäumens aus der Mündung [= dem Zapfen des Weinfasses] ausgestoßen wird, sondern darin verbleibt.« Der Begriff feces steht hier also für die Trübstoffe, die sich bei der Gärung aus der Hefe bilden und die, wenn man sie nicht beim Abschäumen entfernt, den Wein umkippen lassen.[77] In der weiteren Exploration des Begriffs vergleicht Langenstein die Juden mit Taubendreck (stercus columbinum), der die gute Erde, unter die er gemischt wird, nicht anreichere sondern verschmutze und steril mache. Mit einigem Recht könnten die Juden sogar mit den stercores patrum, den Ausscheidungen der biblischen Väter, verglichen werden. Hier wird es nun sehr körperlich: Sie seien schließlich, so Langenstein, »aus dem Körper Abrahams (hervorgegangen) und nicht seine Kinder« (de corpore Abrae egressi sunt et non sunt eius filii).[78] Was also seien die gegenwärtigen Überreste der Juden anders als »sozusagen der Kot Abrahams und die stinkende Scheiße der heiligen Väter«? (Quid sunt ergo presentes iudeorum reliquie nisi quasi stercus Abrae et sanctorum patrum feces fetide?)[79]

In seltener Drastik übersteigert Langenstein hier die Metaphorik von der Abstammung der Juden von den Vätern secundum carnem, indem er ihnen sogar die bloß genealogische Abstammung de semine patrum abspricht. Die Gegensätzlichkeit der Bildsprache in seinen Schriften erscheint schroff.[80] Zu bedenken ist, dass Langensteins Rentenkauf-Traktat im Unterschied zu seinen Missionspredigten, die nur fragmentarisch und verstreut erhalten sind, eine große handschriftliche Verbreitung erfahren hat.[81] Die Ausfälle gegen die Juden (Teil 1, Kapitel 24–31) sind zudem auch gesondert als »Tractatus contra iudaeos« überliefert.[82] Ein Echo dieser Polemik findet sich sogar bei einem hussitischen Gelehrten: Jakobellus von Mies (de Stříbro, gest. 1429) übernimmt in seinem Tractatus contra usuram die Langenstein’schen Vergleiche der Juden mit feces und stercus Wort für Wort.[83] In dieser Sicht hat das Judentum jegliche Legitimität verloren; für eine Brüderlichkeit gibt es keine Grundlage mehr. Ob damit der Übergang zum Antisemitismus markiert ist, darüber könnte man nachdenken – die biologistische Metaphorik würde man vielleicht als »proto-antisemitisch« einordnen wollen. Doch sprachliche Entgleisungen sind nicht das, was einen Code begründet. Es ist die Dynamik der Kodierung, die uns interessiert.

5 Intentio recta – intentio ociose vivendi

Damit kommen wir zurück auf den Kontext dieser Passagen, den Traktat über den Rentenkauf. Wie angedeutet, unternahmen es die Wiener Theologen Heinrich von Langenstein und sein Freund und Kollege Heinrich Totting von Oyta (ebenfalls 1397 verstorben)[84] in den 1390er Jahren wohl auf eine Anfrage der Stadt Wien hin, die Erlaubtheit dieser Vertragsform nachzuweisen und die herrschaftlichen Eingriffe in Form der Ablösungsgesetze zu verurteilen. Es würde zu weit führen, die ausführliche Argumentation der beiden Gelehrten hier zu rekapitulieren.[85] Es sei allerdings angemerkt, dass Heinrich von Oyta dabei erstmals eine Theorie des Marktpreises entwickelte, der als »gerechter Preis« (precium iustum) gewertet werden könne.[86] Kurz gefasst, kommen die beiden zu den folgenden Schlüssen: Erstens, der Rentenkauf ist meistens erlaubt, vor allem wenn die damit verbundenen Absichten nicht betrügerisch, sondern aufrichtig sind: Das Kriterium der intentio recta wird vor allem von Heinrich Totting stark gemacht.[87] Es wird bei ihm ebenso wie bei Langenstein besonders für den Kauf solcher Renten ins Feld geführt, die mit religiösen Zielsetzungen verbunden sind (der laufende Betrieb des Kults, die Freistellung von Gelehrten für Studium und Lehre, Hospitalstiftungen usw.).[88] Zweitens: Herrschaftliche Eingriffe in den Rentenkauf sind illegitim, und die Verluste, die den Rentenkäufern dadurch entstehen, sind ihnen bei Strafe der Exkommunikation zu restituieren.[89]

Der Zusammenhang mit den Vorstellungen über »Juden« und »Judentum« ist nicht direkt ersichtlich. Doch enthalten beide Traktate auch Kapitel über den jüdischen Geldverleih, der in traditioneller Weise (und unhinterfragt) als »Wucher« klassifiziert wird.[90] Jüdischer Kredit ist demzufolge nie erlaubt, er kann von vornherein keinen legitimen religiösen Zwecken dienen:[91] Er dient vielmehr – entgegen dem biblischen Gebot (»im Schweiße deines Angesichts« usw.) – dem Zweck, in Müßiggang zu leben (der intentio ociose vivendi).[92] Der herrschaftliche Schutz über die Juden und die Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit sind illegitim, weil sie ebenfalls von Habgier motiviert seien.[93]

Auch hier also sehen wir einmal mehr die Dynamik einer binären Codierung am Werk. »Juden« und »Jüdisches« dienen der gedanklichen Orientierung, hier auf dem noch wenig verstandenen und von vielerlei moralischer Uneindeutigkeit beherrschten Feld der Ökonomie. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Wiener Theologen die Frage nach den Juden und ihrem Kreditwesen nur deshalb in ihre Traktate aufgenommen hätten, um das Kreditwesen der geistlichen Institutionen umso besser dastehen zu lassen. Wahrscheinlich war diese Frage ihnen von den Wiener Stadtvätern schon mitgegeben worden. Aber sie half ihnen dabei, das eigene Verhalten zu rechtfertigen, indem sie dessen vorgeblich lautere Absichten deutlicher konturierten. Die jüdische Aktivität in der Zinsleihe war – so übereinstimmend die Theologen – weder nach den Gesetzen des Alten noch denen des Neuen Testaments erlaubt. Juden konnten prinzipiell keine intentio recta vorweisen, wenn sie Geldgeschäfte mit Christen machten, weil sie eben Juden waren. Religiöse Delegitimation – bei Langenstein bis zum Äußersten getrieben – bot damit die Folie für die eigene Legitimation. So sortieren sich die Gedanken. Übrigens argumentierten die Theologen dabei im Grundsätzlichen, nicht etwa – was ebenfalls möglich gewesen wäre – mit dem Unterschied in den Zinssätzen zwischen Rentenkauf und »Judenwucher«. Angesichts der Rigorosität des Kirchenrechts, wonach alles über die Hauptsumme hinaus Geforderte als Wucher zu werten war (vgl. Grat. 14,3,3), konnten sie an solchen graduellen Unterschieden gar nicht interessiert sein. Sie gingen einfach davon aus, dass jüdischer Kredit auf jeden Fall Wucher sein musste, und suchten nach einer Unterscheidung auf moralischem Gebiet. Dabei halfen die überkommenen Muster der binären Kodierung. Ganz unabhängig von der Alltagserfahrung, dass Kredite bei Juden teuer waren, konstruierten sie den »Judenwucher« als eine gelehrte Schuldprojektion.

6 Binärer Code als religiöses Erbe im Antisemitismus

Es geht nicht um Heinrich von Langenstein und darum, ob er im Vergleich zu anderen Zeitgenossen eher »judenfreundlich« oder »judenfeindlich« fühlte, ob er gar als Antisemit zu bezeichnen sei. Die Spannung zwischen seinen Sermones, in denen er die Juden als »Brüder« anspricht, und dem geschichtstheologischen Entwurf in seinem Rentenkauftraktat, worin er ihre abrahamitische Abstammung zu vernichten sucht, lässt sich schwerlich aufheben. Vielleicht ließe sich sagen, dass er als Theologe umso radikaler dachte, je mehr er in der Abstraktion verblieb? Oder dass er, wie Knapp vermutet, gegen Ende seines Lebens an der Verbesserungsfähigkeit der Welt zu zweifeln begann, konkret auch an der Möglichkeit, mit rationalen Argumenten in aristotelisch-scholastischer Manier die Juden von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugen zu können?[94]

Worum es vielmehr gehen sollte, ist der Umstand, dass die Figur des »Juden« und des »Jüdischen« auf einer einfachen, binären Kodierung beruhte und dass sie damit zugleich ein starkes Werkzeug für Ordnung der Welterfahrung bot. Wir sahen dies sowohl im semi-monastischen Kontext bei Lambert von Saint-Omer, der die mönchischen Tugenden und Laster einander gegenüberstellte und die eine Seite als Ecclesia fidelium und die andere Seite mit Synagoga markierte; wir sahen es auch bei Heinrich von Langenstein und Heinrich von Oyta, denen die Figur des »Jüdischen« dazu diente, moralische Ordnung auf dem schwer durchschaubaren Feld der Kontrakte und Wirtschaftsgesetze zu schaffen.

Um auf das Verhältnis zwischen Antijudaismus und Antisemitismus zurückzukommen, können wir vielleicht die These wagen, dass der christliche Antijudaismus eine simple und zugleich mächtige Dynamik der binären Kodierung in das »variable, vielschichtige und offene System« (Schäfer) namens Antisemitismus einbrachte und so zu dessen Resilienz bis in die Gegenwart hinein beitrug.

Published Online: 2022-11-11
Published in Print: 2022-11-09

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 4.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/asch-2022-2013/html
Button zum nach oben scrollen