Juden in Paris und Berlin. Zur Berichterstattung über die Französische Revolution in Berliner Zeitungen und Zeitschriften (1789–1791)
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Ulrich Wyrwa
Gut vierzig Jahre nach der Proklamation der rechtlichen Gleichstellung der Juden durch die Französische Nationalversammlung am 27. September 1791 schrieb der jüdische Historiker und Pädagoge Isaak Markus Jost (1793–1860) in seiner »Allgemeinen Geschichte des israelitischen Volkes«, daß dieser »plötzliche Wechsel« wie ein »Zauberschlag« gewirkt habe. »Statt Abgestumpftheit sah man ein neu erwachtes Leben, Heiterkeit und Lebenslust«. Alle »Scheidewände« seien niedergerissen, so fährt er fort, und »frei und munter entwickelten sich die Kräfte«. Ein etwas ambivalenteres Bild der Situation zeichnete Heinrich Graetz (1817–1891). Endlich sei zwar für die Juden »der Tag der Erlösung und Befreiung nach so langer, langer Knechtschaft unter den europäischen Völkern« gekommen, aber die Freiheit ist den französischen Juden »nicht so ganz wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen«. Für den italienischen Rabbiner und Herausgeber der jüdischen Zeitschrift ›Il Vessillo Israelitico‹, Flaminio Servi (1841–1904), wiederum überwogen die positiven Aspekte. In seiner Schrift über die Juden Europas und die Zivilisation schrieb er, daß die Geschichte der Juden in Europa seit der glorreichen Französischen Revolution bis zum Jahr 1870, dem Jahr der Entstehung seiner Einleitung, die Geschichte von Engagement und heroischen Taten sei, die in Erinnerung behalten werden müsse; sie zu verschweigen oder zu vergessen wären eine unverzeihliche Schuld. Auch der deutsch-jüdische Historiker Martin Philippson (1846–1916) begann seine historische Darstellung der neueren jüdischen Geschichte mit der »Morgenröte der Freiheit«. Die Befreiung der Juden Europas sei aus jenem Lande gekommen, das zum ersten Mal den Grundsatz der Freiheit aufgestellt habe, aus Frankreich, so sein emphatischer Einstieg. Skeptischer wiederum beurteilte Ismar Elbogen (1874–1943) die Erfahrungen der französischen Juden in der Revolution. Denn nicht, »wie man erwarten durfte, durch die Erklärung der Menschenrechte, sondern erst nach schweren parlamentarischen Kämpfen« habe die Nationalversammlung den Juden das volle Bürgerrecht gewährt; und voller Skepsis fügte Elbogen an: »Aber das Experiment glückte nicht ganz«. Ähnlich zwiespältig äußerte sich Simon Dubnow: die Revolution habe den Juden »zugleich Freude und Leid« gebracht. Auch in dem 1927 erschienenen ›Jüdischen Lexikon‹ wurde betont, daß es in der französischen Nationalversammlung sehr heftiger Auseinandersetzungen bedurft habe, bevor die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung durchgesetzt werden konnte. Für Salo W. Baron wiederum waren die Erfahrungen der Juden in Europa seit der großen Revolution, mit der nach Baron das Zeitalter der Emanzipation begann, keineswegs so glorreich, wie jüdische Historiker diese beschrieben hätten. Deshalb plädierte Baron dafür, die »tränenreichen« Darstellungen der vorrevolutionären Epoche aufzugeben und die bunten und vitalen Aspekte jüdischen Lebens vor 1789 stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Postfach 2140, D–72011 Tübingen, 2003
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