Überleben durch Kooperation mit dem »Feind«? Deutungen von Krieg und Frieden in der Gründungslegende des rabbinischen Judentums
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Wolfram Drews
Die entscheidende Krise des antiken Judentums resultierte aus der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. Der Tempel war das wohl wichtigste Symbol jüdischer Identität gewesen, er war als Ort der Immanenz Gottes in der Welt gedacht worden und bildete den religiösen Bezugspunkt für Juden in Israel und in der Diaspora. Auch nach seiner Zerstörung blieb er zwar als virtueller »Erinnerungsort« im historischen Gedächtnis des Judentums präsent, doch konnte das jüdische Volk nur überleben, weil es seine Identität darüber hinaus auch an Institutionen und lebendige Traditionen knüpfen konnte, die sich bereits in der Zeit vor der Tempelzerstörung herausgebildet hatten und die eine Überbrückung und Bewältigung des existenziellen Bruches möglich machten. Entscheidend für das Selbstverständnis des sich herausbildenden rabbinischen Judentums war die Überzeugung der spätantiken Rabbinen, sie seien die zeitgenössischen Glieder der rabbinischen Traditionskette, die bis zur Sinaioffenbarung, also auf Mose selbst, zurückgeführt wurde. Als Nachfolger Moses verstanden sich die Rabbinen als zeitgenössische Interpreten der jüdischen Tradition und als Garanten der Aufrechterhaltung der jüdischen Identität, die über den existentiellen Bruch des Jahres 70 hinweg Bestand hatte. Lebensweltliche Diskontinuität konnte jedoch ohne Identitätsverlust nur bewältigt werden, weil in der Erinnerung ein Identitätsbewußtsein generiert und weiterentwickelt wurde, das die Identifikation mit der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglichte, indem die rabbinische Traditionskette als symbolische Klammer zur bestimmenden Form der historischen Erinnerung und der Selbstidentifikation überhöht wurde.
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Postfach 2140, D–72011 Tübingen, 2003
Artikel in diesem Heft
- Überleben durch Kooperation mit dem »Feind«? Deutungen von Krieg und Frieden in der Gründungslegende des rabbinischen Judentums
- Zur sozialen Hierarchie der Judenheit in Spätantike und Frühmittelalter
- Die Judensteuerliste Markgraf Albrechts von Brandenburg aus dem Jahr 1461
- Juden in Paris und Berlin. Zur Berichterstattung über die Französische Revolution in Berliner Zeitungen und Zeitschriften (1789–1791)
- Salomon Formstechers »Religion des Geistes« – Versuch einer Neulektüre
- Der frühe Hermann Cohen und die Völkerpsychologie
- Von Parodien deutscher Dichtung, dem Nachleben von Isaak Euchels ›Reb Henoch‹ und anderen Lesestoffen der Berliner Juden: Die Kolportagereihe ›Gedichte und Scherze in jüdischer Mundart‹
- Das Tagebuch der Šejna Gram – ein historisches Dokument und Zeugnis eines menschlichen Schicksals
- Henry Wassermann, die deutsche Kollektivschuld und das Ausbleiben des Messias
- Die Welt der »Jüdischen Studien« – von außen betrachtet
- Der Centralverein in neuer Perspektive? Zur »ideengeschichtlichen« Monographie des Sozialhistorikers Avraham Barkai
- »Mährischen Volkes Weisen«. Das Olmützer »Lexikon deutschmährischer Autoren«
- »Die Schauspieler haben es wohl in der Emigration am schwersten«. Anmerkungen zu einem Standardwerk über Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler
- »Polemisch mäandrierende Prosa«. Zu Anton Kuhs geistiger Signatur aus Anlaß einer Neuausgabe seines Buchs »Juden und Deutsche«
- »und alles war ihm Opfertod: Erinnern«. Eine Rezension und ein Nachruf – Armin A. Wallas in memoriam
- Rezensionen
- Zur Dokumentation jüdischer Ritualbauten in Brandenburg
- Namen- und Ortsregister
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