Volume 129, Issue 1

Zum ältesten Sprachmaterial der kontinentalgermanischen Sprachen gehören die volkssprachigen Erklärungen in den sonst lateinisch überlieferten Gesetzen der germanischen Stämme. In den meisten Fällen wird dabei jeweils ausdrücklich gesagt, dass es sich um einen volkssprachigen Fachausdruck handelt, etwa, wenn in der ›Lex Alemannorum‹ (cap. 54) eine Frau per pectus suum (›mit der Hand auf der Brust‹) beschwört, was ihr von ihrem Mann als Morgengabe zur Verfügung gestellt wurde: hoc dicunt alamanni nasthait ›dies nennen die Alemannen einen Nesteid ‹, womit uns ein früher Beleg für das ›Nest‹, den aufgebundenen Zopf der verheirateten Frau (nicht das gleiche Wort wie das Vogelnest , sondern zu Schuhnestel usw. gehörig), geliefert wird (wenn auch in den verschiedenen Handschriften verschieden verstümmelt) – zugleich der früheste Beleg für den Schwur der Frauen (wenigstens der alemannischen Frauen) ›auf ihre bloße linke Brust und ihren linken Zopf‹ (so in späteren Rechtstexten). Das Nest ist dabei in späterer Zeit die Tracht der verheirateten Frau; deshalb ist der nast-eid wohl nicht einfach ein ›Zopfeid‹, sondern der Eid der verheirateten Frau, für deren Stand ihr Haarnest steht (so wie die Spindel oder die Kunkel für die weibliche und das Schwert für die männliche Verwandtschaft).

Malbergische Glossen treten in der Regel nur an einer Stelle oder allenfalls an wenigen gleichartigen Stellen auf – mit einigen Ausnahmen, vor allem der Glosse leodardi (u. ä.), die in mehr als einem Dutzend Fällen in den Text eingefügt ist. Wegen der weit auseinanderfallenden Inhalte, die auf diese Weise glossiert sind, ist die Bedeutung des Wortes unklar und umstritten. Ein Anhaltspunkt scheint sich daraus zu ergeben, dass die Lautform zu dem altfriesischen Rechtsterminus leodwerdene (u. ä.) zu passen scheint; doch ist auch dieser alles andere als eindeutig. Auf jeden Fall versucht man, ein Kompositum vorauszusetzen, dessen erster Bestandteil das Wort Leute ist, eventuell in einer nur früh und selten bezeugten singularischen Bedeutung. Für das Hinterglied versucht man meist, von afries. werdene auszugehen, das so etwas ähnliches wie ›Beschädigung, Verletzung, Beeinträchtigung‹ bedeutet. Das ergäbe dann etwa ›Mann-Verletzung‹; aber da es in den betreffenden Kontexten (im Friesischen wie im Fränkischen) um Gelder geht, nimmt man an, dass sich die Bedeutung von einer Bezeichnung der Tat zur Bezeichnung der Buße für diese Tat gewandelt hat.

Wolframs ›Parzival‹ ist ein ›offener‹ Text. Das Erzählte ist über eine Vielzahl offener und verborgender Verweise als Ausschnitt eines größeren Zusammenhangs konstruiert. Diesen größeren Zusammenhang hat Cornelia Schu mit einer suggestiven Metapher als Welt ›hinter‹ dem Text beschrieben, wobei die von Schu gesetzten einfachen Anführungszeichen den metaphorischen Charakter eines solchen Redens anzeigen sollen. Die Metapher ist gut gewählt, denn wirklich zeichnet den ›Parzival‹ aus, dass er viel stärker als etwa Hartmanns Artusromane oder Gottfrieds ›Tristan‹ eine Welttotalität andeutet.

Schon lange hat die ›Parzival‹-Forschung sich darüber verwundert, dass Gawan, von dem Moment an, als er im 12. Buch die Aventiure auf dem Lit marveile bestanden hat, mit den ihm nahestehenden Personen ein merkwürdiges Versteckspiel treibt, das erst im Zelt des Artus auf der Ebene von Joflanze am Schluss des 13. Buches sein Ende findet. So hält Gawan seinen Namen vor den Bewohnern der Zauberburg geheim und gibt sich sogar seiner Großmutter Arnive, seiner Mutter Sangive und seinen Schwestern Cundrie und Itonje im direkten Gegenüber nicht zu erkennen. In seiner brieflichen Botschaft an König Artus informiert er diesen nur über den bevorstehenden Zweikampf mit Gramoflanz und bittet ihn, sich mit dem ganzen Hof bei Joflanze einzufinden, um dem Kampf beizuwohnen; er verschweigt ihm außer seiner Liaison mit der Herzogin Orgeluse von Logroys die auch und gerade für seinen Onkel Artus, den Sohn der Arnive und Bruder der Sangive, hochbedeutsame Tatsache, dass er Herr von Schastel marveile geworden ist. Andererseits verbirgt Gawan vor den Bewohnern der Zauberburg und vor Orgeluse die Einladung an Artus. Diese seltsame Heimlichtuerei Gawans wird im Text nicht begründet.

Die Frage nach der Rolle der Einzelpersönlichkeit in der Geschichte gehört sei jeher zu den zentralen Fragen der Geschichtswissenschaften. Seit der griechischen Antike wurde abendländische Geschichte als politische Geschichte geschrieben und als die Geschichte der Taten ›großer Männer‹ verstanden. In den vergangenen Jahrzehnten war die Geschichte der großen Einzelperson – aus bekannten Gründen – in den Hintergrund getreten, in der Geschichtswissenschaft dominierten die Struktur- und Sozialgeschichte, die Mentalitäts- und die Institutionengeschichte etc. Nunmehr hat es den Anschein, als würde die Personengeschichte wieder an Boden gewinnen. Peter Herde rief etwa eine WBG-Reihe »Gestalten des Mittelalters und der Renaissance (GMR)« ins Leben. Über zehn Bände sind mittlerweile erschienen.