Startseite Verena Sauer. 2024. Hochdeutsch. Eine framesemantische Analyse historischer Spracheinstellungen zum Deutschen vom 16. bis 18. Jahrhundert (Studia Linguistica Germanica 145). Berlin, Boston: De Gruyter. 272 S.
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Verena Sauer. 2024. Hochdeutsch. Eine framesemantische Analyse historischer Spracheinstellungen zum Deutschen vom 16. bis 18. Jahrhundert (Studia Linguistica Germanica 145). Berlin, Boston: De Gruyter. 272 S.

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Veröffentlicht/Copyright: 3. November 2025

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Verena Sauer. 2024. Hochdeutsch. Eine framesemantische Analyse historischer Spracheinstellungen zum Deutschen vom 16. bis 18. Jahrhundert (Studia Linguistica Germanica 145). Berlin, Boston: De Gruyter. 272 S.


Was ist Hochdeutsch? Diese Frage versucht die vorliegende, auf die Habilitationsschrift der Autorin zurückgehende Arbeit für den Spracheinstellungsdiskurs vom 16. bis 18. Jahrhundert zu beantworten. Ein Alleinstellungsmerkmal ist die methodische Herangehensweise: Um ein historisches Konzept von Deutsch bzw. Hochdeutsch zu rekonstruieren, wird die Frame-Semantik verwendet, deren Aufgabe es ist, Wissensstrukturen und ihre sprachliche Manifestation zu beschreiben. Entsprechend soll das Augenmerk in dieser Rezension weniger auf der Plausibilität der Diskursrekonstruktion liegen als vielmehr auf der methodischen Umsetzung, die eine Öffnung der Frame-Semantik in Richtung historischer Daten aus einem großen Textkorpus verspricht. Dies ist gerade das erklärte Ziel der Arbeit, nämlich „vorhandene Erkenntnisse zu nutzen, zu vergleichen, zu vereinheitlichen“ (S. 2), anstatt neue Quellen zu erschließen.

Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil (Kapitel 1 und 2) werden neben einer Hinführung zum Thema wesentliche theoretische Konzepte vorgestellt, aus der Spracheinstellungsforschung wie aus der Frame-Semantik. Der zweite Teil (Kapitel 3) gibt einen Forschungsüberblick über die historische Spracheinstellungsforschung, worauf ein kurzer dritter Teil (Kapitel 4) mit einer Darstellung der Methodik für die durchgeführte Untersuchung folgt. Der mit Abstand größte Teil besteht aus den Kapiteln 5 bis 7, in denen nacheinander Diskurse um Spracheinstellungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert nachvollzogen und frame-semantisch modelliert werden. Den Abschluss bildet ein Fazit (Kapitel 8) sowohl zur Methode der Frame-Semantik als auch zu den Ergebnissen der Korpusstudie.

In der knappen Einleitung (Kapitel 1) werden vier Aspekte genannt, in denen die vorliegende Arbeit innovativ sein möchte (S. 2): Es soll (1) der Sprachnormierungsdiskurs des 16. bis 18. Jahrhunderts untersucht werden, dieser soll (2) frame-semantisch modelliert werden, es soll (3) ein Vergleich unterschiedlicher Konzepte von ‚Hochdeutsch‘ in den Texten des Korpus angestellt werden und es soll (4) ein für weitere Analysen verwendbares Modell entwickelt werden. Aus methodischer Sicht und für diese Rezension sind insbesondere der zweite und vierte Punkt interessant.

Kapitel 2 ist zweigeteilt. Im ersten Teil erfolgen Definitionen und Untergliederungen der Begriffe Spracheinstellung und Stereotyp. Beide Begriffe werden in ihrer Forschungsgeschichte behutsam rekonstruiert. Betont wird die Rolle von Kontexten, die sowohl für Spracheinstellungen als auch für Stereotype „dringend mitberücksichtigt werden [müssen] bei der Interpretation“ (S. 16). Bemerkenswert ist, dass in den Definitionen kognitive Aspekte herausgearbeitet werden, die die Notwendigkeit einer frame-semantischen Methode für die Modellierung historischer Spracheinstellungen plausibilisieren. Entsprechend erfolgt im zweiten Teil ein Überblick über frame-semantische Ansätze. Hier werden zunächst die wesentlichen Stationen in der Forschungsgeschichte der Frame-Semantik nachvollzogen. Die Darstellung orientiert sich an Busse (2012), setzt aber eigene Schwerpunkte hinsichtlich des kognitionstheoretischen Verständnisses von Frames sowie der Anwendungsperspektive, dass mit Frames „die kontextuelle Verarbeitung von Konzepten in Texten analysiert und dargestellt werden kann“ (S. 19). Dieser Fokus auf (Voll-)Texte ist in der Frame-Semantik weitgehend ein empirisches Desiderat. Für den weiteren Verlauf der Studie erfolgt schließlich eine Anknüpfung an das Frame-Modell von Barsalou (1992), da dieses in erster Linie für die Analyse nominaler Ausdrücke konzipiert ist, die auch „[b]ei der Rekonstruktion historischer Spracheinstellungen [...] im Zentrum [stehen]“ (S. 28). Demzufolge erfolgt eine terminologische Festlegung: Die Bestandteile eines Frames werden im Anschluss an Barsalou Attribute genannt, deren Ausfüllungen Werte, die frame-evozierenden nominalen Ausdrücke Zielausdrücke. Zur Illustration werden die Frames ‚Hochdeutsch‘ und ‚Deutsch‘ an dieser frühen Stelle der Arbeit modelliert. Anschließend werden einige theoretische Eigenschaften von Frames sowie eine mehrdimensionale Klassifikation von Frames diskutiert, deren Relevanz für die spätere Untersuchung beispielreich herausgearbeitet wird. Auf eine Diskussion des für die Untersuchung historischer Spracheinstellungen wichtigen Diskursbegriffs folgt eine kritische Reflexion der frame-semantischen Methode. Trotz einiger Einschränkungen wird die Frame-Semantik letztlich als wertvoll erachtet, da ihre „Repräsentationsformate [...] einheitlich strukturiert sind und die bisherigen heterogenen Repräsentationsformate [von Diskursen] integriert werden können“ (S. 50). Das Ergebnis ist ein theoretisch und methodisch integrierender Ansatz, der die historische Diskursforschung mit der Frame-Semantik verbindet.

Kapitel 3 widmet sich einem Forschungsüberblick zu historischen Spracheinstellungen. Dabei werden Überblicksdarstellungen und Diskurseinteilungsversuche für das 16., 17. und 18. Jahrhundert berücksichtigt. Die Auswahl der diskutierten Arbeiten erscheint einem damit nicht vertrauten Rezensenten einschlägig und repräsentativ, wird aber nicht explizit begründet. Was dieses Kapitel besonders interessant macht, ist, dass jeder einzelne Überblick über eine Arbeit bzw. einen Diskurseinteilungsversuch mit der Skizze eines Frames endet. Dort werden die einen Diskurs dominierenden Autoritäten, Ideale des ‚Hochdeutschen‘, Postulate zu Varietäten des Deutschen, Leitvarietäten für die Entstehung einer hochdeutschen Norm und Sprach­ideologien als Attribute modelliert. Ihre jeweiligen Ausprägungen in der zugrunde liegenden Literatur werden als Werte modelliert. Am Schluss des Kapitels erfolgt eine prägnante Übersicht über die einzelnen Attribute sowie mögliche Sub-Attribute (für Autorität z. B. Institutionen, Personen und Schriften). Auch wenn an dieser Stelle noch nicht von Frames gesprochen wird, zeigt die Autorin eindrücklich, dass Frames nicht nur der Rekonstruktion von Spracheinstellungen an sich dienen können, sondern auch als Werkzeug für die Zusammenfassung von Analyseergebnissen. Die aus der Literatur extrahierten Attribut-Wert-Paare dienen im vierten Teil der Arbeit als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Frames.

Gegenstand von Kapitel 4 ist die Methodik der folgenden empirischen Untersuchung. Hier erfolgt auch die Begründung für das Textkorpus, das aus „59 Vorreden aus sprachnormierenden sowie -reflektierenden Schriften des 16. bis 18. Jahrhunderts“ (S. 77) besteht. Ziel der empirischen Untersuchung ist es, aus diesen Schriften Spracheinstellungen über die Entstehung einer hochdeutschen Norm zu rekonstruieren. Dies erfolgt im Einklang mit empirischen Standards der Frame-Semantik grundsätzlich bottom-up, da „sich allein schon durch die textmusterspezifischen Besonderheiten kontextuelle Beschränkungen ergeben und die rekonstruierten Frames dadurch geprägt sind“ (S. 77). Aus so rekonstruierten Token-Frames werden dann allgemeinere Type-Frames abstrahiert. Die Begründung der Textauswahl für das Korpus geschieht reflektiert und unter Einbezug transparenter Kriterien. Eine Diskussion der frame-semantischen Methodik erfolgt mit Bezug auf die in Kapitel 2 eingeführte Theorie. Dreh- und Angelpunkt ist der Zielausdruck Deutsch bzw. Hochdeutsch, von dem ausgehend Attribute und Füllwerte in den Texten im Korpus rekonstruiert werden.

In den Kapiteln 5, 6 und 7 werden aus dem Textkorpus der 59 Vorreden schließlich historische Spracheinstellungen in Form von Frames rekonstruiert. Nach einer Einführung der einzelnen Autoren und ihrer Werke erfolgt zunächst ein Überblick über die aus den Vorreden gewonnenen Attribute und Sub-Attribute, ähnlich dem Verfahren für die Forschungsliteratur in Kapitel 3. Die Attribute werden näher definiert, wobei diese Definitionen nicht wie in einer frame-semantischen Datenbank strukturiert dargestellt, sondern im Fließtext wiedergegeben werden. Darauf folgt eine detaillierte Auswertung der einzelnen Schriften im Textkorpus, aus denen Token-Frames, also mit konkreten Füllwerten angereicherte Frames, rekonstruiert werden. Für jedes der drei Kapitel erfolgt eine eigene Strukturierung dieser Texte. Für das 16. Jahrhundert (Kapitel 5) werden Schriften der Schulmeister und der Schreiber sowie Schriften in lateinischer Sprache ausgewertet. Für das 17. Jahrhundert (Kapitel 6) sind es Schriften der Didaktiker, der Grammatiker und der Poetiker. Für das 18. Jahrhundert (Kapitel 7) schließlich werden Schriften vor Gottscheds Deutscher Sprachkunst von 1748, Schriften mitteldeutscher, süddeutscher und norddeutscher Autoren untersucht. Nach jedem dieser Abschnitte erfolgt ein kurzes Zwischenfazit sowie die Rekonstruktion eines Type-Frames aus den einzelnen Token-Frames. Aus diesen Type-Frames werden dann am Ende jedes Kapitels wiederum Type-Frames für den Zielausdruck Deutsch im entsprechenden Jahrhundert rekonstruiert. Bei der Darstellung wird deutlich, wie nützlich Frames nicht nur für das Verständnis der historischen Spracheinstellungen sind, sondern wie sie auch die vorliegende Arbeit verständlich machen: Die Darstellung nennt regelmäßig Attribute der Token-Frames, die ein zusätzliches strukturierendes Moment einführen. Dies schafft zudem eine Vergleichsgrundlage zwischen den Texten aus dem Korpus, die ohne eine frame-semantische Methodik schwerer zu erzielen wäre. Anzumerken ist, dass die konkreten Füllwerte der Token-Frames in entsprechenden Visualisierungen insbesondere für das 16. Jahrhundert als direkte Zitate aus dem Texten dargestellt werden. Es bleibt zu überlegen, inwiefern hier eine weitere Abstraktion einer zusätzlichen Strukturierung dienen würde. Jedes der Kapitel zu den einzelnen Jahrhunderten schließt mit einem kurzen Fazit ab.

Das Gesamtfazit (Kapitel 8) stellt die wichtigsten frame-semantischen Erkenntnisse zusammen. Dazu zählen die komplexen Vererbungsrelationen zwischen Frames, ihre historische Dynamik sowie im Korpus rekonstruierbare Abstraktionsgrade von Frames. Abschließend erfolgt eine kurze Zusammenfassung der Befunde zur einleitenden Frage: Was ist Hochdeutsch? Vor dem Hintergrund der frame-semantischen Methode erscheint der Vergleich zwischen den drei betrachteten Jahrhunderten gut nachvollziehbar.

Alle vier in der Einleitung genannten innovativen Aspekte der vorliegenden Arbeit können als eingelöst betrachtet werden. Sie erfüllt Ansprüche aus mehreren sprachwissenschaftlichen Lagern. Durch den Untersuchungsgegenstand mit dem Ziel der Neubetrachtung bekannter Quellen leistet sie einen wichtigen Beitrag für die historische Sprachwissenschaft und die Diskursforschung. Aus Sicht der Frame-Semantik besonders interessant ist ihre Anwendung auf diachrone Daten, die noch immer ein großflächiges methodisches und empirisches Desiderat darstellt. Das Spannungsfeld zwischen der Rekonstruktion von (historischen) Wissensstrukturen und einem intensiven Quellenstudium erscheint als geeigneter Ort, solche Desiderate zu beheben. In diesem Sinne löst die Arbeit von Verena Sauer ein, was schon Fillmore (1985) als ein zweifaches Verständnis von Frames formuliert: Frames sind sowohl Formate des Sprach- und Weltwissens als auch Analysewerkzeuge für Bedeutungen und – hier ganz besonders – Texte (dazu auch S. 2, Anm. 2). Es bleibt zu hoffen, dass diesem Vorbild weitere Studien folgen werden.

Literatur

Barsalou, Lawrence W. 1992. Frames, Concepts, and Conceptual Fields. In: Adrienne Lehrer & Eva Feder Kittay (Hg.). Frames, Fields, and Contrasts. New Essays in Semantic and Lexical Organization. Hillsdale: Erlbaum, 21–74.Suche in Google Scholar

Busse, Dietrich. 2012. Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110269451Suche in Google Scholar

Fillmore, Charles J. 1985. Frames and the semantics of understanding. In: Quaderni di Semantica 6(2), 222–254.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-11-03

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Heruntergeladen am 11.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zrs-2025-2039/html?lang=de
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