Rezensierte Publikation:
Juliane Schröter (Hg.). 2022. Politisches Argumentieren in der Schweiz (Sprache – Politik – Gesellschaft 31). Hamburg: Buske. 228 S.
Das politische System der Schweiz ist aufgrund der Rolle von Volksabstimmungen einzigartig. Zusammenhänge mit politischem Argumentieren liegen nahe. Dem geht dieser Band nach, indem er nicht bloß darauf zielt, „zu einem noch umfassenderen Bild vom politischen Argumentieren in der Schweiz [...] zu gelangen“ (S. 4), sondern insbesondere Hypothesen zu wechselseitiger Einwirkung von politischem System und Argumentation zu prüfen (S. 1f.) – so Herausgeberin Juliane Schröter im Einleitungsaufsatz, wo sie auch darauf hinweist, dass die Beiträge an unterschiedliche Argumentationskonzepte anknüpfen (S. 5).
Zunächst erläutert der Politikwissenschaftler Marc Bühlmann das politische System der Schweiz. Es basiere auf dem „Zusammenspiel repräsentativ- und direktdemokratischer Elemente“. Dem sei „ein institutionalisierter Zwang zum Dialog inhärent“ (S. 17). Der Mehrheit der Gesetze liegen Parlamentsentscheidungen zugrunde. Doch über ihnen hänge das „Damoklesschwert“ der Volksabstimmung (S. 22). Institutionell hat das zur „Konkordanz“ geführt, einer Art Allparteienkoalition, und kommunikativ zu permanentem „Dialog“ mit der Stimmbürgerschaft, in dem „möglichst viele und diverse Argumente angehört und potentiell anerkannt werden“ (S. 17).
Es folgen drei linguistische Beiträge zur deutschsprachigen Schweiz. Alexandra Hauenstein analysiert ein Zeitungskorpus. Ihre Befunde:
89 % der Argumente stützen die vertretene Position, nur 11 % gelten Gegenargumenten, deren Wertebasis aber „häufig“ akzeptiert werde (S. 46).
Argumentiert wird „vor allem“ mit dem nach Perelman/Olbrecht-Tyteca als ‚pragmatisches Argument‘ bezeichneten Schluss vom Wert einer Folge auf den Wert ihrer Ursache – bei Volksabstimmungen der Schluss vom Wert der Folgen für eine „kohärente Schweizer Gesellschaft“ (S. 52) auf den Wert der sie verursachenden Abstimmungsvorlage.
Argumentiert wird „über weite Strecken sachlich und konstruktiv“ (S. 54), „in der Regel personenunabhängig“ (S. 56), ohne zu „verunglimpfen“ (S. 54).
Hauenstein wertet das als Ausweis „latenter Konsens- und Kooperationsorientierung“ (S. 54) und Bestätigung der Hypothese von der „reziproken Hervorbringung bzw. der reziproken Beeinflussung“ von politischem System und politischem Argumentieren (S. 38).
Gerda Baumgartner behandelt die Politik-Talkshow „Abstimmungsarena“. Analysiert werden die Eingangs- und Schlusspassagen mit ungestörten Politiker-Statements. Der konfrontative Hauptteil bleibt außen vor. Zwei Befunde erscheinen Baumgartner relevant. Sie werden als konsensorientiert gedeutet:
Zur Dominanz des ‚pragmatischen Arguments‘ (73 %) heißt es: „Es ist denkbar, dass durch die Offenlegung und die Diskussion aller potenziellen Folgen die konsensorientierte Grundhaltung in der Gesellschaft gestärkt wird“ (S. 75).
Wenn im Rahmen dieses Argumentationsmusters auf Akteure und Betroffene verwiesen wird, werden sie meist als „wir“ bezeichnet, verstanden als „inklusiver Ausdruck einer nationalen Zusammengehörigkeit“ (S. 80).
Martin Luginbühl analysiert den Umgang von sieben Schweizer Online-Nachrichtenmedien mit Politiker-Tweets in 2019/2020. Zusammenhänge mit dem politischen System werden nicht thematisiert. Der Anteil von Texten mit Bezug auf solche Tweets ist sehr gering, doch mit z. B. 2.243 Texten bei „NZZ Online“ oder 1.415 Texten bei „Zwanzig Minuten“ laut Autor genug, um täglich auf einen solchen Text zu stoßen. Darin fungieren Tweets nur selten als „Auslöser (Trigger)“ der Berichterstattung. Ihr Zitieren – und damit Rekontextualisieren – dient „zu gut zwei Drittel“ dazu, zu einem Thema „verschiedene Einschätzungen darzustellen“ (S. 91). Tweet-Zitate tragen zur „Personalisierung der Berichterstattung bei“ (S. 92). Kürze und emotionsbetonte Bewertungen sollen Aufmerksamkeit und Zitierbarkeit verstärken. Zwei argumentative Funktionen werden hervorgehoben:
den Standpunkt des Nachrichtenmediums zu belegen, bspw. durch einseitige Auswahl und Häufung der Tweets,
die Strittigkeit eines Themas zu illustrieren.
Damit soll „Nachrichtenwert inszeniert“ werden (S. 99). Soweit Tweets Argumentation enthalten, ist Argumentieren ohne explizite Indikatoren üblich.
Mit Manfred Kienpointners Aufsatz zum Argumentieren über Glaubensfreiheit am Beispiel Minarettverbot beginnen Ländervergleiche. Der Bau von Minaretten wurde in der Schweiz 2009 per Volksabstimmung verboten. In Österreich versuchte man es ab 2008 über Bauordnungen. Auf der Datengrundlage von Pro- und Kontra-Argumentationen in politischen Textsorten hebt Kienpointner für beide Länder die Häufigkeit des ‚pragmatischen Arguments‘ hervor. Auch Definitions-/Einordnungstopos und Gerechtigkeits-/ Analogietopos haben „einen prominenten Status in der Debatte“ (S. 125). Ein Unterschied fällt auf: In der Schweiz wird „viel stärker Bezug auf die durch die direkte Demokratie [...] garantierten Mitbestimmungs- und Freiheitsrechte“ genommen, während im Nachbarland die Argumentation „stärker um die österreichische Verfassung“ kreist (S. 126). Grund sind die politischen Systeme: Die Schweiz hat kein Verfassungsgericht, das Volksentscheide aufheben kann. Der österreichische Verfassungsgerichtshof vermag dagegen Gesetze, die z. B. gegen die Religionsfreiheit verstoßen, aufzuheben – darum der Versuch, Minarettbau aus baurechtlichen Gründen zu verhindern. Kienpointner schließt normativ: Die Argumente für ein Minarettverbot seien schwächer als die dagegen.
Aus kritisch wertender Position untersucht Martin Wengeler Pro-Argumentationen zu Gesetzesvorlagen „zur Abschottung gegenüber Fremden“ (Schweiz: Volksinitiative „Für eine maßvolle Zuwanderung“, abgelehnt 27.9.2020; Deutschland „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ beschlossen vom Deutschen Bundestag 7.6.2019). Bei Volksinitiativen gebräuchliche Texte sowie 15 Bundestagsreden bilden das Korpus. Als Analysekategorien dienen kontextspezifische Topoi. Dominant sind in den Schweizer Texten Topoi, die schon aus der überkommenen deutschen Argumentation gegen Arbeitsmigration bekannt sind: Überlastungstopos, Topos vom wirtschaftlichen Nutzen, Kriminalitätstopos etc. In den Bundestagsreden 2019 geht es um Asyl- bzw. Fluchtmigration. Hier dominieren Akzeptanztopos, Humanitätstopos und – eher implizit als deutlich ausgesprochen – der Missbrauchstopos. Wengeler hebt hervor, „wie drastisch einerseits in der Schweiz argumentiert wird und wie moderat andererseits in Deutschland Asylrechts-Verschärfungen verkauft werden“ (Ausnahme AfD) (S. 150). Die engeren „Grenzen des Sagbaren“ in Deutschland könnten „Ergebnis der entsprechend intensiver geführten Diskussionen um eben diese Grenzen, um political correctness etc. in Deutschland sein“ (ebd.).
Verschwörungstheoretisches Argumentieren zur Corona-Pandemie untersucht Thomas Niehr am Beispiel von sog. Alternativmedien: „Klagemauer TV“ (Schweiz) und „Schrang TV“ (Deutschland). Sie operieren vorwiegend im Internet und beanspruchen beide, die von „Mainstream-Medien“ und Eliten systematisch verdeckte ‚Wahrheit‘ ans Licht zu bringen. Doch Stil und Performance sind gegensätzlich. Bei „Klagemauer“ bleibt der Produzent Ivo Sasek im Hintergrund. Technisch und im visuellen Design gibt sich der Sender als seriöse Nachrichten-Plattform mit Objektivitätsanspruch. Doch Platz für unterschiedliche Standpunkte gibt es laut Niehr nicht, sondern ausschließlich Stützung der favorisierten Verschwörungstheorien und Delegitimierung der gescholtenen Mainstreampositionen per Autoritätstopos durch Zitieren sog. „Experten“. Bei „Schrang TV“ setzt Produzent Heiko Schramm dagegen auf eigene Bildschirm-Präsens – in der Authentizitäts-Pose eines selber argumentierenden Investigativ-Journalisten, der moralisch und emotional engagiert in umgangssprachlichem Stil ‚Wahrheiten‘ aufdeckt. Gegnerische Argumente werden einbezogen, doch statt sachbezogener Analyse werden deren Repräsentanten per argumentatio ad hominem diffamiert. Für beide Beispiele erhebt Niehr ausdrücklich keinen nationalen Typizitätsanspruch.
Im Beitrag von Constanze Spiess wird die Funktion der Metapher in politischer Argumentation thematisiert. Als Korpus dienen Texte des politischen Spitzenpersonals zur Corona-Pandemie 2020/21 (Schweiz: Bundesrat, Österreich: Bundeskanzler Kurz, Deutschland: Bundeskanzlerin Merkel). Spiess betont, dass Metaphern wie Argumentationen Schlussprozesse auslösen und innerhalb von Argumentationen „als Argumente fungieren, Schlussregeln etablieren, Teil der These oder selbst als verdichtete Argumentation auftreten“ können (S. 180). Sie geht von „einem kognitiv orientierten, soziopragmatischen Metaphernbegriff“ (S. 177) sowie vom Konzept politiktypischer, in „Argumentationsclustern“ verknüpfter Topoi (S. 185) aus. Gezeigt wird an Beispielen, wie Metaphern Schlussprozesse innerhalb topischen Argumentierens (Daten-, Bewertungs-, Finaltopos) auslösen und wie metaphorisch geprägtes Argumentieren Handlungsfunktionen (Feststellen, Appellieren, Warnen) erfüllt. 30 Metaphernkonzepte identifiziert Spiess im Korpus. Am häufigsten sind Bewegungs-/Wegmetaphern (98), gefolgt von 36 Kriegsmetaphern. Auch wenn es quantitative Unterschiede gibt – Kurz verwendet die mit Abstand meisten Bewegungs-/Wegmetaphern (48), Merkel die meisten Kriegsmetaphern (22) –, nationale Unterschiede unter dem Aspekt ‚Argumentieren‘ ergeben sich daraus nicht.
Den Band beendet ein Aufsatz der Herausgeberin zum Argumentarium – eine primär deutsch-schweizerische Bezeichnung für schriftliche Argumentsammlungen (französisch argumentaire). Sie gehören zur Vorbereitung von Volksabstimmungen, ohne darauf beschränkt zu sein. An einem Korpus von 15 Argumentarien zu Volksabstimmungen und 15 aus anderen Zusammenhängen zeigt Juliane Schröter, dass es sich um eine Textsorte handelt, und zwar um eine spezifisch schweizerische: Argumentarien werden im Internet veröffentlicht, viele, vor allem politische, auch gedruckt. Emittenten sind Organisationen (Initiativ- oder Referendumskomitees, außerhalb der Politik gemeinnützige Organisationen, Interessenvertretungen u. Ä.). Gerichtet sind sie an die allgemeine Öffentlichkeit sowie an Angehörige/Anhänger der emittierenden Organisation – beides in informierender und persuasiver Absicht: einen Überblick über die wichtigsten Argumente zu geben sowie zu überzeugen und Überzeugte zu bestärken. Der Umfang reicht vom Einseiter bis zur Broschüre. Hauptbestandteil ist eine Liste von bis zu zehn Argumenten für die vertretene Position, gegliedert durch Zwischenüberschriften o. Ä. und gelegentlich ergänzt z. B. durch Erläuterungen zum Thema. Selten ist der Einbezug von Gegenargumenten. Als Argumenttyp dominiert das ‚pragmatische Argument‘ im Korpus mit 87,3 %. Häufig wird per Bigramm auf das Land als Ganzes referiert (die/der Schweiz), für Schröter ein Zeichen dafür, dass die Texte „wenn man so will, national orientiert“ sind (S. 222). Insgesamt wird deutlich: Argumentarien haben ihre zentrale Funktion bei Volksabstimmungen. So ist die Textsorte einerseits durch das partizipatorische politische System geprägt. Gleichzeitig aber stellt sie einen unverzichtbaren Bestandteil des politischen Systems dar: als Verpflichtung zur argumentativen Konstituierung der Abstimmungsinhalte, kondensiert und fasslich, durch Sprachregionen übergreifende Verfügbarkeit, durch breite diskursiv-mediale Zugänglichkeit und durch einen trotz konträrer Positionen Kooperation erleichternden Argumentationsstil (S. 225).
Blickt man auf den Band als Ganzen, so bietet sich ein gemischtes Bild: Zwar bietet er in einem allgemeinen Sinn einen Zugewinn an Erkenntnis über politisches Argumentieren in der Schweiz, auch beim Vergleich mit Nachbarländern, doch hinsichtlich der Ausgangshypothesen, die laut Herausgeberin durch den Band überprüft werden sollen, bleibt er defizitär. Einige Beiträge (Luginbühl, Wengeler, Niehr, Spiess) haben – unabhängig von ihrer durchweg überzeugenden internen Qualität – mit den Hypothesen nichts zu tun. Wo es der Fall ist, betreffen die Beiträge vor allem die Hypothese der Prägung von Argumentation durch das politische System. Eine solche Prägung politischer Kommunikation generell arbeitet Bühlmann unter dem Begriff Dialog einleuchtend heraus. Im Falle von Kienpointners Beitrag zu den Minarettverbotsdebatten wird die Hypothese auf inhaltlicher Ebene (Thema Freiheit/Mitbestimmung statt Verfassung) bestätigt, allerdings weder bei Argumentationsstruktur noch Topik. Mediale Argumentationspraktiken als geprägt von Konsensorientierung zu deuten, wie sie im politischen System als Konkordanzprinzip existiert, ist den Beiträgen von Hauenstein und Baumgartner gemeinsam. Allerdings ist diese Deutung angesichts der Befunde ziemlich gewagt: Sachlich und ohne persönliche Abwertungen zu argumentieren, bedeutet nicht zwingend Konsensorientierung, sondern schlicht gesittetes Kommunizieren. Und Verzicht auf Auseinandersetzung mit Gegenargumenten kann auch Missachtung oder Ignoranz bedeuten. Der häufige Einsatz von wir im Sinne eines großen Gemeinschaftskollektivs ist ein so universell gebräuchliches rhetorisches Mittel, dass es zum Ausweis einer spezifisch schweizerischen Konsensorientierung ungeeignet ist. Gleiches gilt für den allfälligen Gebrauch des ‚pragmatischen Arguments‘. Erst recht sind die beiden Beiträge ungeeignet, die Hypothese von der Reziprozität von System und Kommunikation bzw. Argumentation zu stützen. Anders immerhin der Schlussbeitrag der Herausgeberin. Schröter gelingt es mit Analyse und Funktionsbestimmung der Textsorte Argumentarium, eine wechselseitige Prägung zwischen politischem System und politischer Argumentationspraktik nachzuweisen – eine Erkenntnis von linguistischer wie politikwissenschaftlicher Relevanz.
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