Startseite Nikolas Koch & Claudia Maria Riehl. 2024. Migrationslinguistik. Eine Einführung (Narr Studienbücher). Tübingen: Narr Francke Attempto. 324 S.
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Nikolas Koch & Claudia Maria Riehl. 2024. Migrationslinguistik. Eine Einführung (Narr Studienbücher). Tübingen: Narr Francke Attempto. 324 S.

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Veröffentlicht/Copyright: 17. Juni 2025

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Nikolas Koch & Claudia Maria Riehl. 2024. Migrationslinguistik. Eine Einführung (Narr Studienbücher). Tübingen: Narr Francke Attempto. 324 S.


Migration stellt eines der bedeutendsten soziokulturellen Phänomene dar, das zu tiefgreifenden Veränderungen in den heutigen zunehmend superdiversen Gesellschaften (vgl. Vertovec 2023) geführt hat. Das gilt auch für Deutschland, in das zwischen 1950 und 2023 insgesamt über 60 Millionen Menschen aus unterschiedlichen Beweggründen eingewandert sind. Somit scheint aus postmigrantischer Perspektive die Frage obsolet, „ob Deutschland ein Einwanderungsland ist“. Vielmehr sollte der Fokus darauf verschoben werden, „wie dieses Einwanderungsland gestaltet wird“ (Foroutan 2019: 19. Kursiv im Original). Eine zentrale Relevanz nehmen hierbei die Sprache bzw. die mit Migrationsprozessen verbundenen Sprachen ein. Diese prägen nicht nur die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Migrationshintergrund (derzeit ein Viertel der Gesamtbevölkerung), sondern stehen auch in einer Wechselwirkung mit der Majoritätsgesellschaft.

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Transformationen gewinnt auch die Migrationslinguistik zunehmend an Bedeutung. In dieser noch recht jungen Teildisziplin der Linguistik bietet die 2024 erschienene Einführung Migrationslinguistik von Nicolas Koch und Claudia Maria Riehl (unter Mitarbeit von Johanna Holzer und Nicole Weidinger) einen umfassenden und systematischen Überblick zu struktur- und soziolinguistischen, spracherwerbsbezogenen sowie sprach- und bildungspolitischen Themen und Phänomenen. Berücksichtigt werden auch damit zusammenhängende Fragestellungen, die aufgrund ihrer Aktualität (vgl. den Verweis auf die durch den russischen Überfall bedingte Migrationsbewegung aus der Ukraine) in dieser Form ein Novum darstellen. Aus einer interdisziplinären Perspektive wird dieses innovative Forschungsfeld in seiner gesamten Komplexität dargestellt, indem unter dem gemeinsamen Dach der Mehrsprachigkeit und Migration Aspekte und Prozesse der Sprachvariation, des Sprachwandels, Spracherwerbs, Sprach­erhalts und Sprachverlustes ebenso wie sprachstrukturelle Elemente, Fragen des Zusammenhangs von Sprache, Integration und Identität und daraus hervorgehende sprach- und bildungspolitische Implikationen miteinander verbunden werden. Dieser Reigen an Themen zu den sprachbezogenen Facetten von Migration nimmt seinen Ausgangspunkt beim Deutschen in multilingualen Kontexten, deren Entstehungsgeschichte durch die Darstellung der einzelnen Migrationsphasen von den 1950er Jahren bis in die heutige Zeit nachgezeichnet wird. Verwiesen wird dabei auf den engen Zusammenhang von Sprache und Integration, wobei sich die Autor:innen – ohne es explizit zu benennen – auf eine postmigrantische Position berufen; sie „verstehen [...] Integration als einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, der sowohl Migrantinnen und Migranten als auch die einheimische Bevölkerung umfasst“ (S. 19). Ziele der migrationslinguistischen Forschung sind jedoch nicht nur die Entwicklung und Auseinandersetzung mit theoriebezogenen Ansätzen, sprachsystematischen Analysen und Aspekten des Spracherwerbs, die Migrationslinguistik sieht es auch als ihre Aufgabe an, „Handlungsorientierung für aktuelle Fragen und Herausforderungen von Mehrsprachigkeit und Migration zu liefern“ (S. 19). Dabei bedient sie sich empiriebasierter Herangehensweisen, die bereits in der Sozio-, Variations- und Kontaktlinguistik sowie in der Spracherwerbsforschung zur Anwendung kommen.

Die insgesamt vierzehn Kapitel der Einführung lassen sich sechs thematischen Makroschwerpunkten zuordnen, die zunächst die beiden zentralen Begriffe des Forschungsfeldes in den Blick nehmen: Migration und Mehrsprachigkeit (Kap. 2). Hier geht es um die Darstellung und Klärung grundlegender Aspekte (z. B. transnationale Migration vs. Binnenmigration), aktuelle statisti­sche Daten zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die Abgrenzung unterschiedlicher Arten von Migration und die damit einhergehenden dynamischen Prozesse. Da die Migrationslinguistik sich immer auch als Mehr­sprachig­keits­linguistik versteht (vgl. S. 19), werden auch zentrale psycho- und sozio­linguistische Konzepte der Mehrsprachigkeitsforschung erörtert. Zudem wird auf die Unterscheidung zwischen lebensweltlicher und bildungsbezogener Mehrsprachigkeit verwiesen und auf die damit verbundenen Folgerungen für den Erwerb und Erhalt der Herkunftssprachen. Wie die jeweiligen Sprachen in der mehrsprachigen Gesellschaft verteilt sind, welche Rolle autochthone und allochthone Sprachminderheiten insbesondere in Deutschland einnehmen, wird im dritten Kapitel ausführlich erläutert.

Der zweite Themenschwerpunkt richtet den Fokus auf den Erwerb, Erhalt und Verlust von Sprachen im Kontext von Migration (Kap. 4–6). In Bezug auf den mehrsprachigen Spracherwerb wird der Facettenreichtum dieser Erwerbsprozesse beleuchtet, ausgehend vom bilingualen Erstspracherwerb über den (früh-)kindlichen Zweitspracherwerb bis hin zum Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter. Verdeutlicht werden in diesem Zusammenhang die individuellen Unterschiede hinsichtlich der Erwerbsvoraussetzungen, die dementsprechend auch verschiedene Erwerbswege zur Folge haben. Von Bedeutung ist hierbei die unmissverständliche Widerlegung der monolingualen Norm, die zur Herausbildung des Vorurteils der „doppelten Halbsprachigkeit“ geführt hat. Vielmehr belegen neurolinguistische Studien, dass das

„flexible Wechseln zwischen den Sprachen keineswegs ein Zeichen einer beeinträchtigten sprachlichen und kognitiven Entwicklung [ist], sondern [...] insbesondere für die Ausbildung exekutiver Funktionen förderlich zu sein“ [scheint]. (S. 75)

Wie sich der Zweitspracherwerb im Kontext von Migration mittels verschiedenartiger theoretischer Ansätze erklären lässt, wird anhand einflussreicher Hypothesen und Modelle der Zweitspracherwerbsforschung aufgezeigt, wobei insbesondere die Unterschiede zwischen nativistischen und gebrauchsbasierten Ansätzen deutlich zu Tage treten (Kap. 5). Des Weiteren werden aus einer generationalen Perspektive die Sprecher:innen und ihre Herkunftssprachen in den Blick genommen, insbesondere in Bezug auf die jeweiligen herkunftssprachenbezogenen Erwerbsvoraussetzungen der ersten Generation sowie die Erwerbsbedingungen der nachfolgenden Generationen. Diese Erwerbsprozesse können sehr unterschiedlich ablaufen, da sie dem Einfluss von verschiedenen Faktoren (wie der Sprachvitalität und dem sprachlichen Potential, das die Eltern ursprünglich mitbringen) unterliegen. Dies determiniert letztendlich den Erhalt der Herkunftssprache bzw. individuelle und kollektive Erosionserscheinungen, die zu Sprachverlust und Sprachwechsel in den Folgegenerationen führen können (Kap. 6).

Im dritten Themenkomplex steht das mehrsprachige Sprechen im Mittelpunkt (Kap. 7–8). Ausgangspunkt hierfür bilden begriffliche Bestimmungen. Anhand zahlreicher Beispiele werden dabei unterschiedliche Formen von Sprachmischungen (Code-Switching, Code-Mixing), Transferphänomene auf lexikalischer, semantischer, struktureller und pragmatischer Ebene, Simplifizierungsprozesse und das umstrittene Konzept des Translanguaging veranschaulicht (Kap. 7). Im nachfolgenden Kapitel werden die konkreten Sprachmischungsprozesse erläutert, d. h. ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen, Mechanismen und die damit verbundenen Funktionen, die sowohl den Sprachgebrauch mehrsprachig aufwachsender Kinder als auch den von Migrant:innen charakterisieren. Diesbezüglich wird darauf verwiesen, dass beim bilingualen kindlichen Spracherwerb Sprachmischungen als Kompensationsstrategien eingesetzt werden bzw. in Zusammenhang mit der dominanten Sprache zu sehen sind, während sie im Kontext von Migration oftmals als Identitätsmarkierung fungieren.

Der vierte thematische Fokus beleuchtet die Auswirkungen der Migration auf das Sprachsystem der Herkunftssprache und des Deutschen (Kap. 9–10). So kommt es im Kontext individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit zur Herausbildung von Sprachkontaktphänomenen, die sich zu neuen Varietäten entwickeln können. Allerdings stellen diese Diasporavarietäten keine eigenständigen, konsolidierten Varietäten dar, zumal die Herkunftssprachen in den meisten Fällen nicht in ihrer Standardvarietät verwendet werden und somit eine Vergleichsnorm fehlt. Demzufolge sind die neuen kontaktinduzierten Varietäten nicht nur innerhalb der jeweiligen allochthonen Minderheitengruppe äußerst variabel und heterogen, sondern auch innerhalb ein und desselben Sprechers. Anhand der in Deutschland verbreiteten Herkunftssprachen des Russischen, Türkischen und Italienischen werden typische Kontakterscheinungen im Bereich der Lexik, Semantik, Morphologie, Syntax und Pragmatik aufgezeigt, die allerdings nicht verallgemeinerbar sind (Kap. 9). Im Gegenzug hinterlässt der Sprachkontakt auch Auswirkungen auf die Mehrheitssprache (Kap. 10). Veranschaulicht wird dies zum einen am Beispiel der Kontaktvarietät „Gastarbeiterdeutsch“ (S. 185), einer Lernervarietät mit pidginisierten Zügen, zum anderen werden die phonetischen, lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Merkmale von Ethno- bzw. Multilekten in den Blick genommen. Trotz der beachtlichen Variation in Bezug auf die verwendeten Formen und Konstruktionen wird deutlich, dass all diesen Kontaktvarietäten generationsunabhängig die Tendenz zur Sprachökonomie gemeinsam ist.

Der fünfte thematische Block (Kap. 11–12) lenkt die Aufmerksamkeit auf soziolinguistische Fragestellungen. So wird im elften, von Johanna Holzer verfassten Kapitel der Zusammenhang von Sprache und Identität insbesondere unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der Sprachbiographieforschung erörtert. Sprachbiographien als Forschungsgegenstand ermöglichen nicht nur aufschlussreiche Einblicke in Spracherwerbsprozesse oder in die mit den jeweiligen Sprachen verbundenen Emotionen. Vielmehr legen sie auch migrations­bedingte Brüche in Lebens- und Sprachbiographien offen, die aus der „ständigen Neuausrichtung von Zentrums- und Peripherie-Sprachen“ (S. 209) hervorgehen. Zudem machen sprachbiographische Ansätze den Zusammenhang von Sprache und narrativen hybriden Identitäten ebenso wie die Konstruktion von Selbst- sowie Fremdpositionierungen nachvollziehbar. Die Frage, wie die Herkunftssprachen in der Mehrheitsgesellschaft und im öffentlichen Raum repräsentiert werden, bildet den Schwerpunkt des zwölften Kapitels (unter Mitarbeit von Johanna Holzer). Sprach(en)politik, Sprachplanung und Sprachmanagement stellen im Zusammenhang mit dem Sprachverhalten in individuellen und gesellschaftlichen Interaktionen die zentralen Schlüsselkonzepte dar. Darüber hinaus, so wird hier dargelegt, beschäftigt sich die migrationslinguistische Forschung auch mit alltäglichen, gruppenspezifischen Sprach- und Kommunikationsgewohnheiten im öffentlichen Raum, insbesondere bei der Erforschung von Sprachlandschaften, denen auch in didaktischer Hinsicht ein bedeutendes Potential für die Auseinandersetzung mit den Funktionen, dem Prestige und der Macht von Sprachen im Kontext lebensweltlicher Mehrsprachigkeit innewohnt.

Der sechste und damit letzte Themenbereich behandelt Migration in Verbindung mit Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit sowie den Heraus­forderungen, mit denen sich das deutsche Bildungssystem durch die Migration konfrontiert sieht (Kap. 13–14). So zeigt Nicole Weidinger, die Verfasserin des 13. Kapitels, anhand einschlägiger Bildungsmonitoring-Studien, dass das deutsche Bildungswesen vom frühkindlich-vorschulischen und Primarbereich bis hin zur Sekundarstufe I bzw. bis zum Übergang zur Sekundarstufe 2 migrationsbedingte Disparitäten aufweist, deren Ursachen im sozioökonomischen Hintergrund und in der Bildungseinstellung der Eltern sowie in den mangelnden Kompetenzen in der Bildungssprache Deutsch zu suchen sind. Zum Abbau der Benachteiligungen und Ungleichheiten werden von der Autorin Maßnahmen zur Früherkennung, Prävention und Sprachförderung für mehrsprachige Kinder diskutiert, die es auch aus migrationslinguistischer Perspektive zu untersuchen gilt. Hieraus ergeben sich bedeutende Herausforderungen für das Bildungssystem, wobei die Sprache(n) nicht nur für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine zentrale Rolle spielt/spielen, sondern für das Gelingen von Integrations- und gesellschaftlichen Partizipationsprozessen insgesamt (Kap. 14). Entscheidend ist hierbei die Förderung der Zielsprache Deutsch, insbesondere des hochkomplexen Registers der Bildungssprache, die zugleich das zentrale Lehrmedium zur Vermittlung von Wissen und Bildungsinhalten und den Lerngegenstand darstellt. Vor dem Hintergrund des Translanguaging-Konzepts, das aus sprachdidaktischer Perspektive den Einbezug des gesamtsprachlichen Repertoires der Lernenden vorsieht, erweist sich auch die Förderung der Herkunftssprachen als äußerst relevant. Dementsprechend sollte im Kontext eines sprachsensiblen und -integrativen Unterrichts auch der Erwerb schriftlicher Kompetenzen auf besondere Weise unterstützt werden, da diese eine grundlegende Voraussetzung für den Zugang zur literalen Gesellschaft darstellen. Dies gilt auch für den Erwachsenenbereich, in dem durch institutionelle Alphabetisierungs- und Integrationskurse sprachliche Kenntnisse und Kompetenzen sowie gesellschaftliche Konventionen, Werte und Normen vermittelt werden.

Damit schließt sich der weite Bogen, den diese Einführung über das so vielschichtige, multidimensionale Themenfeld der Migrationslinguistik spannt. Durch seine klare Strukturierung, die übersichtlichen Kapitelanordnungen, die typographischen Hervorhebungen von Schlüsselkonzepten, Ansätzen und Theorien, die zahlreichen Beispiele und Fallstudien, die abschließenden Kapitelzusammenfassungen sowie die Möglichkeit, die Verarbeitung der Inhalte durch die online zugänglichen Aufgaben (mit Lösungen) zu überprüfen, erweist sich der Band zudem als ein sehr geeignetes didaktisches Instrument, um sich mit der Bedeutung von individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in der heutigen postmigrantischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dass die Autor:innen diese Sprachen, d. h. auch die Herkunftssprachen, als eine Bereicherung und Ressource verstehen, „die es unbedingt zu pflegen und zu fördern gilt“ (S. 19), daran lassen sie keinen Zweifel. Außer Zweifel steht meiner Meinung nach ebenfalls, dass sich die Migrationslinguistik mit ihren hochaktuellen Themen- und Fragenstellungen zu einem zunehmend bedeutenderen Paradigma entwickeln wird, das auch auf gesamteuropäischer Ebene eine interdisziplinär angelegte linguistische Auseinandersetzung mit Sprache(n) im Kontext von Migration bewirken wird.

Literatur

Foroutan, Naika. 2019. Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.10.1515/9783839442630Suche in Google Scholar

Vertovec, Steven. 2023. Superdiversity. Migration and Social Complexity. London, New York: Routledge.10.4324/9780203503577Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-06-17

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Heruntergeladen am 3.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zrs-2025-2014/html
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