Rezensierte Publikation:
Simon Meier-Vieracker. 2024. Sprache ist, was du draus machst! Wie wir Deutsch immer wieder neu erfinden. München: Droemer. 256 S.
Dieses Buch gibt eine allgemein verständliche Einführung in aktuelle Themen der deutschen Sprachwissenschaft. Es ist weder ein Sprachratgeber noch singt es ein Klagelied über angeblichen Verfall der deutschen Sprache noch schreckt es Laien von Wissenschaft ab. Ganz im Gegenteil gelingt es Meier-Vieracker, Sprachinteressierte für Sprachwissenschaft zu begeistern.
Ein Prolog führt an einem fiktiven „ganz gewöhnlichen Tag“ vor, wie man „buchstäblich von morgens bis abends von Sprache umgeben“ ist (S. 10). Die sieben folgenden Kapitel möchten „von Alltagsbeobachtungen zu Sprache und Sprachgebrauch ausgehen, wie sie im Prinzip alle machen können, und sie mit linguistischen Perspektiven in einen Dialog bringen“ (S. 14). Behandelt werden (1) sprachliche Varietät („Was ist eigentlich Sprache und wenn ja, wie viele?“, S. 17), (2) Sprachwandel („Ist das schon Sprachwandel oder ist das einfach nur falsch?“, S. 38), (3) Schreiben in Sozialen Medien, (4) gendersensible Sprache, (5) Sprache in der Politik („Die Macht der Wörter“, S. 123), (6) die Sprache des Fußballs („Phrasen auf’m Rasen“, S. 157) und schließlich (7) in einem hoch aktuellen und klug mahnenden Schlusskapitel Künstliche Intelligenz. Ein Epilog blickt auf das Buch zurück, empfiehlt TikTok als einen interessanten „Lernort“ (S. 215) und diskutiert Risiken und Nebenwirkungen populärwissenschaftlicher Bücher. Es folgen Hinweise auf drei frei zugängliche sprachwissenschaftliche Ressourcen (S. 219), ein Glossar zu 52 im Text verwendeten Termini (S. 220–226), Danksagung, Bildnachweise und Anmerkungen.
Der gesamte Band und die einzelnen Kapitel sind thematisch und argumentativ gut aufgebaut, und es gibt jeweils geschickte Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln und Abschnitten (z. B. S. 53 f. über ,das macht Sinn‘). Entsprechend sorgfältig ist die Gedankenführung angelegt, und die Leserin oder der Leser wird freundlich an die Hand genommen, zum Beispiel so: „Nach diesem Vorlauf sind wir nun endlich beim Gendern angelangt“ (S. 96).
Im Text laden über 300 kleine Fußnotenzeichen, die die flüssige Lektüre in keiner Weise stören, dazu ein, sich über im Anhang genannte sorgfältig ausgewählte Quellen und Literatur eingehender mit dem jeweiligen Gegenstand zu beschäftigen. Themen und Literatur sind durchweg hochaktuell. Da gilt schon mal eine Studie aus dem Jahr 2010 als „etwas älter“ (S. 83). Doch sehr gelegentlich wird auch auf Literatur aus den 1960er, 70er oder 80er Jahren verwiesen (S. 247, S. 244 f. bzw. S. 243), die deswegen ja nicht unbedingt veraltet sein muss.
Der Text ist durchweg locker, verständlich und ansprechend geschrieben, wie man es von deutschen Wissenschaftlern selten gewohnt ist, und führt von alltäglichen Beobachtungen behutsam zu wissenschaftlichen Denkweisen und Begriffen. Ansätze linguistischer Methoden werden klar und für Anfänger passend erläutert. Zum Beispiel: „So weit also meine erste Diagnose. Wie aber geht man in der Sprachwissenschaft nun weiter vor? Wir könnten [etc.]“ (S. 77).
Im Vorbeigehen werden viele linguistische Aspekte gestreift und immer wieder auch tiefer verfolgt. Dabei werden Fachwörter beiläufig, kompetent und verständlich eingeführt, etwa so: „Hier müssen wir einen kurzen Blick in die Graphematik des Deutschen werfen, also die Regeln, wie Schriftzeichen bestimmten Lauten zugeordnet sind und umgekehrt“ (S. 75). Oder so: „Konnektoren [...], also Verbindungsglieder wie ,weil‘ oder ,nämlich‘, die wir in Texten nutzen, um größere Text- und Argumentationszusammenhänge herzustellen“ (S. 84).
Der Verfasser verfolgt durchweg eine vernünftig-aufklärerische Grundhaltung. Wenn es zum Beispiel um Schreiben in Sozialen Medien geht (Kap. 3), heißt es abschließend über Medienkompetenz: „Die Nutzenden ebenso wie die, die über sie urteilen, brauchen Wissen über die besonderen Anforderungen, denen gerade schriftliche Kommunikation in den Sozialen Medien genügt“ (usw.; S. 90).
Meier-Vieracker schreibt für „ein großes Publikum“ (S. 212). Der plakative Titel „Sprache ist, was du draus machst!“ mag ein wenig altväterlich wirken: ,Junge! Mach was aus dir!‘ Tatsächlich begleitet der Verfasser seine Leser:innen fürsorglich, ohne fordernd oder überheblich zu wirken. Und am Ende kommt er zu der richtigeren Formulierung „Sprache [...] ist, was wir draus machen“ (S. 209).
Es handelt sich nicht um eine Einführung in die Linguistik und will das auch nicht sein. Der Verfasser meint am Ende zwar, „eine Einführung in die aktuelle Angewandte Linguistik“ (S. 212) geschrieben zu haben. Doch auch das trifft nur in Grenzen zu. Erstens werden nicht alle dafür relevanten Gebiete abgedeckt. Und zweitens wird nicht immer das dort zu erwartende wissenschaftliche Niveau erreicht. Stattdessen eignet sich das Buch aber hervorragend sowohl als packende Lektüre für interessierte Sprachfreundinnen und -freunde als auch als Propädeutikum zur Vorbereitung auf ein wissenschaftliches Studium oder zu dessen Begleitung im ersten oder zweiten Semester. Allerdings könnte der Eindruck entstehen, dass Sprachwissenschaft eine einfache Sache sei, bei der jeder halbwegs Gebildete ohne Weiteres mitreden kann, also ein ,Laberfach‘. Das liegt vor allem daran, dass nur Gebiete behandelt werden, die ohnehin schon für blutige Laien interessant sind und notfalls auch zu Partygesprächen taugen. Die klassischen linguistischen Kernthemen (Phonetik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Textlinguistik, Sprachtheorie bzw. in der Angewandten Linguistik etwa Spracherwerb, Fremdsprachenlernen, Klinische Linguistik u. a.) kommen, wenn überhaupt, allenfalls flüchtig in Nebensätzen vor (z. B. S. 160). Ein Hinweis darauf, dass Wissenschaft nicht nur Spaß machen kann, sondern auch anstrengend ist, hätte dem sonst ja vorzüglichen Buch gut getan.
Doch auch umgekehrt: Dass „wer populär über sein Fach schreibt und ein großes Publikum erreicht, [...] unter Umständen seinen wissenschaftlichen Ruf aufs Spiel“ setzt (S. 213), scheint mir falsch und durch dieses Buch selbst widerlegt. (Bastian Sick, der gelegentlich (z. B. S. 49, 57) legitime Seitenhiebe abbekommt, hat zu Recht niemals behauptet, ein Wissenschaftler zu sein.)
Und Meier-Vierackers abschließendes Motto „Sprachwissenschaft ist, was du draus machst“ (S. 217) stimmt natürlich nicht. Vielmehr zehrt Sprachwissenschaft wie jede Wissenschaft von einer langen und oft mühevollen Geschichte und wird von Wissenschaftler:innen nach jeweils zur Diskussion stehenden Standards weiterentwickelt. Freilich ist es, worauf Meier-Vieracker zu Recht pocht, von erheblicher Bedeutung, dass „die Öffentlichkeit“ „in den Diskurs über Wissenschaft“ eingeschlossen wird (S. 213). Aber nicht jeder Laie, der sich daran beteiligt, ist dadurch schon Wissenschaftler – wie auch nicht jeder, der eine Gartenhütte selbst baut, schon allein dadurch ein Handwerker ist.
Wie auch immer: Diese vergnügliche, interessante und stets gut informierte Einladung zur Linguistik bewältigt spielend und erfolgreich den schwierigen Spagat zwischen nicht-normativer Laienlinguistik und aktueller Sprachwissenschaft. Absolut lesenswert!
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