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»Pessimisme productif«

  • Stephanie Marchal

    STEPHANIE MARCHAL wurde nach dem Studium der Kunstgeschichte und Romanistik in Heidelberg, Siena und Neapel 2010 mit einer Dissertation zu Gustave Courbet promoviert. Sie ist nach einem Volontariat an der Frankfurter Schirn-Kunsthalle, Stationen am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und an der Leuphana Universität Lüneburg seit 2020 Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den modernen Bildkünsten, der Sozialgeschichte der Kunst(institutionen) und der Kunsthistoriographie.

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Published/Copyright: March 7, 2025
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Claass Victor, L’impressionisme à ses frontières : Le cas Meier-Graefe et la lutte pour l’art moderne en Allemagne (Passages, Bd. 67) Paris: Éditions de la Maison des sciences de l’homme, 2023, 473 Seiten, € 30, ISBN: 978-2-735-12934-8 (eBook: € 20,99, ISBN: 978-2-735-12935-5)


Endlich gibt es sie: eine Biographie des Kunstkritikers Julius Meier-Graefe (1867–1935) in französischer Sprache. Der äußert zurückhaltenden, lediglich punktuellen und überwiegend negativen Rezeption des Kunstkritikers in Frankreich stellt die umfangreiche Studie von Victor Claass einen differenzierten Lebens- und Werklauf entgegen, der die französische Leserschaft für die Verdienste des Kritikers um die Vermittlung der französischen Moderne in den deutschsprachigen Raum sensibilisiert und sein Image nachhaltig zu korrigieren verspricht. Wäre es, wie ursprünglich seitens des Kritikers selbst geplant, zu einer Übersetzung seiner Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1904 bzw. 1914–1924) gekommen, wäre seine Kenntnisnahme im Nachbarland sicherlich von Beginn an ganz anders verlaufen. Allein, bislang basierte diese vor allem auf einer kulturpolitischen Entgleisung Meier-Graefes, auf seinem kurz vor dem Ersten Weltkrieg publizierten Drei-Gewinne-Aufsatz, einem »moment charnière« (114), der als nahezu einziger ins Französische übersetzter Text eine Sonderstellung in Meier-Graefes Werk einnimmt (189) – und auf dem mit dem Ziel der Verleumdung durch identitätspolitische Revanchisten im Zwischen- und Nachkriegsfrankreich nachhaltig rufschädigend herumgeritten wurde. Diese zum Teil bewusst verkürzte Rezeption Meier-Graefes minutiös zu rekonstruieren und dafür auch einen in der Forschung unbeachtet gebliebenen, 1922 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Text Meier-Graefes ›ausgegraben‹ zu haben, in dem der Kritiker sich – unter der im Typoskript ursprünglich erwogenen Überschrift »Revision«, die schließlich in »Reparation« geändert werden sollte –um eine »autoréhabilitation« bemüht, ist ein großes Verdienst der vorliegenden, deutschfranzösische Vermittlungsarbeit leistenden Untersuchung (285–291).[1] Sie schließt an vergleichbare Studien auf Englisch und Deutsch an und vermag dieser bisherigen Forschung auf Basis einer profunden Quellenkenntnis durchaus die eine oder andere Facette hinzuzufügen.[2]

Entlang von neun Hauptkapiteln, bei denen es sich um in sich abgeschlossene Aufsätze handelt, um »certains épisodes marquants« (25), entfaltet Claass chronologisch und panoramatisch zentrale Aktivitäten und Anliegen des Kritikers. Seinem eingangs programmatisch formulierten Anspruch, dabei allzu starke Deskription vermeiden und stattdessen, wie Claass gestützt auf Pierre Vaisse schreibt, »les conditions dans lesquelles les différents jugements se sont formés, les besoins idéologiques auxquels ils répondent, [et] les mécanismes de pensée auxquels ils obéissent« (33) darlegen zu wollen, wird er allerdings nicht gerecht. Meier-Graefe erscheint all zu oft freigestellt von seinen Zeitumständen – zumal mentalitäts- und diskursgeschichtlich. Darüber hinaus bleiben, indem Claass sich auf die bereits bekannten Etappen konzentriert, viele weiße Flecken von Meier-Graefes Agieren weiterhin unbeleuchtet. Seine intellektuelle Entwicklung wird nicht über die bereits bekannten Koordinaten hinaus umrissen, sein literarisches, kritikgeschichtliches und philosophisches Referenzsystem, seine teils in Vergessenheit geratenen Schriften wie etwa sein erstes Kunstbuch über Félix Vallotton (1898), seine Romane und Theaterstücke werden erneut nicht berücksichtigt; die in mehrfacher Hinsicht schwierige Situation des Kritikers während der Erstarkung des Nationalsozialismus tippt Claass lediglich an – wenn auch mit bislang ungehobenen Quellen bzw. Zitaten (108, 194), aus denen erkennbar wird, dass Claass für eine intensivere Inaugenscheinnahme dieses letzten Lebens- und Schaffensabschnitts Meier-Graefes durchaus Material vorgelegen hätte. Was weiterhin fehlt, ist eine über den deskriptiven, historisierenden Nachvollzug seiner Tätigkeiten hinausgehende Erarbeitung von Meier-Graefes Kritikpraktik sowie seiner Beweggründe, sich für Kunst einzusetzen, zumal für französische. Zwar wird immer wieder auf Meier-Graefes Verständnis von Kunst als »coaguant socioculturel« (325) hingewiesen und von seiner »sozialen Mission« (307) gesprochen – dies aber in einem thetischen Ton. Überfällig ist und bleibt die Scharfstellung dessen, was Meier-Graefe von den Bildkünsten eigentlich konkret erhoffte, für welche Potentiale er sensibilisieren wollte – und wie er dies tat. Letztere Frage, die Analyse seiner Vorgehensweise, ist wichtig, um seine Wirkabsicht respektive seine tatsächliche Wirkung verstehen, aber auch, um das Phänomen Kritik in seinen Funktionsweisen und Ausprägungen, seinen Möglichkeiten und Grenzen überhaupt begreifen zu können.[3] Es ist ferner weiterhin überfällig, endlich einmal seinen Kunstbegriff zu konturieren, der sich aus idealistischen Vorstellungen speist, diese aber für die konkrete Anwendung praktikabilisiert und entsprechend modifiziert, etwa durch Ausponderierung mit materialistischen Annahmen und/oder durch Amalgamierung mit moderneren Wahrnehmungsvorstellungen, zumal mit der physiologischen Ästhetik Charles Baudelaires. Nicht um extrapoliert greifbare, systematisierende Theoriegebäude handelt es sich bei Meier-Graefes Kritik, sondern um mit ihnen inkommensurable Praxisvollzüge, die im Bewusstsein des eigenen kontingenten Horizonts operieren. Ihre Erschließung gestaltet sich entsprechend aufwendiger – darf aber in der Untersuchung einer »praktischen Ästhetik«,[4] wie Meier-Graefe seine Kritik selbst nannte, erwartet werden. Herauszuarbeiten wäre dabei, welche Hoffnungen sich mit Meier-Graefes (organischem) Bildverständnis warum und aus welcher gesellschaftlichen Befindlichkeit und Bedingtheit heraus verbanden und auf welche Rezeptionskontexte er wie ein- und hinwirkte – denn sein Einsatz für die Künste war alles andere als ästhetizistischer Selbstzweck, worauf Claass am Ende seiner Studie auch hinweist, ohne jedoch die Vision des Kritikers respektive deren praktische Umsetzung zu analysieren. Kunst sei für Meier-Graefe, wie Claass schreibt, »d’une triple valeur esthétique, économique et symbolico-identitaire« (25), der göttlichen Sphäre nahe – ja, aber wieso? Und wie stiftet Meier-Graefe diese symbolische Bedeutung – und was genau meint hier ›symbolisch‹? Für Meier-Graefes Verständnis von Artefakten als symbolischen Formen ist – etwa im Unterschied zum Erkenntnisinteresse Erwin Panofskys – das »Wertmoment« das alles entscheidende.[5] Unermüdlich versucht Meier-Graefe zu ergründen und vor Augen zu führen, warum und wie ein Kunstwerk eingedenk und trotz seiner Partikularität allgemeine, ›symbolische‹ Gültigkeit zu reklamieren und Verbindlichkeit zu erzeugen vermag. In seiner Kunstkritik stehen, anders als in der zeitgenössischen, auf das »Stilmoment« abhebenden Kunstwissenschaft,[6] weniger konventionalisierte denn produktive Symbole im Fokus; es wird entsprechend weniger nach den allgemeinen, das Einzelwerk ideengeschichtlich kontextualisierenden Strukturen und Gehalten (als deren Symptom ein Werk bei Panofsky gedacht wird) als danach gefragt, welche Bedeutung dem Werk im jeweiligen Hier und Jetzt, im Heute und ›Davor‹ beigemessen werden kann. Von Kunstformen handelt Meier-Graefe entsprechend so gut wie nie abstrakt, sondern konkret, am Entgegenstehenden und eingedenk produktions- wie rezeptionsästhetischer Fragen, d. h. aus der Praxis des Gestaltens und Betrachtens heraus.

Es ist diese Herangehensweise, das Entwickeln seiner Überlegungen und Wertungen aus der konkreten, auf das Partikulare fixierten Anschauung heraus, das Meier-Graefes Vorgehen von kunsttheoretischen ebenso wie von kunstwissenschaftlichen Ansätzen unterscheidet, denen Kunstobjekte üblicherweise gleichwertig, der Kanon verbindlich und entsprechend die relativierende Frage nach der (sozialen) Relevanz künstlerischer Ausdrucksweisen für die eigene Zeit nicht zentral sind. Diese für das Verständnis des Phänomens Kunstkritik entscheidende Differenz wird von Claass nur gestreift (50, 53, 140), wodurch das Meier-Graefes kritische Praxis konstituierende Moment aus dem Blick gerät, dezidiert für die jeweilie Gegenwart verfasst zu sein, Kulturdiagnostik entlang der Kunst in fortwährender Selbstrevision zu betreiben und damit Setzungen stets nur in heuristischer Perspektive vorzunehmen. Die Frage, was uns heute das in Augenschein genommene Werk bedeutet, ist für Meier-Graefes fallbasiertes Operieren leitend, aus ihr heraus aktualisiert er sprachlich elaboriert Werk um Werk. Dieses sich-Aus- und zur-Disposition-Stellen, dieses sich selbst ebenso wie die Kunst fortwährend historisierende Vorgehen verkennt Claass, wenn er von »Manipulation« (387) im Sinne ideologischer Vereinnahmung spricht und konstatiert: »Aérien et prétenduement situé hors de l’histoire, le formalisme analytique de Meier-Graefe contribuait en réalité bien à recharger les batteries idéologiques des artefacts migrateurs qu’il prenait pour objet« (386). Nach der Bedeutung ›für uns‹ zu fragen, ist nicht ohne weiteres mit Manipulation gleichzusetzen, sondern Kernanliegen avancierter kunstkritischer Praktik. Dass dabei nichts in Stein gemeißelt, sondern alles im Fluss begriffen ist, führen Meier-Graefes fortwährende Neujustierungen seiner Bedeutungsermittlungen vor Augen, wenn er etwa angesichts der Werke und Schaffensphasen Édouard Manets zu immer neuen Einsichten gelangt und seine Texte entsprechend neuer Platzierungen im flexiblen Wertesystem umbaut und überarbeitet. Selbstkritik und Situiertheit, die die kritische Praxis Meier-Graefes ausmachen, fallen in Claass’ Studie, die die Bedeutung einzelner Künstler für Meier-Graefe monolithisch einzukreisen versucht (bes. Kap. I–III), unter den Tisch.[7]

Der Einschätzung Claass’, für Meier-Graefe ließe sich »une voie alternative« zu »un nationalisme traditionaliste et un cosmopolitisme suspect« konstatieren, den er mit »un patriotisme de progrès et d’ouverture, qui n’avait rien de commun avec la célébration d’une Deutschtum nuisible« (276) zu beschreiben versucht, ist durchaus etwas abzugewinnen, wäre aber weiterhin und erneut mit Blick auf Meier-Graefes kritisches Vorgehen zu begründen und zu differenzieren: Anstatt wie aufkeimende, völkisch-ideologische Richtungen seiner Zeit von einem etwaigen, essentialistischen Volkswesen auszugehen, Kunst für dieses in Dienst zu nehmen und wie in Julius Langbehns notorischem Rembrandt als Erzieher (1890) als ›Seelenausdruck‹ zu beschwören, ist Meier-Graefes Stoßrichtung insofern eine genau umgekehrte, als er, wie gesagt, beim »Primat der Form«[8] ansetzt und an deren jeweiliger Partikularität nach den spezifischen Erfahrungswerten und Welt verändernden Perspektiven fragt, die Kunst der eigenen Zeit böte, nach Erfahrungswerten, von denen die Betrachter andere Sicht- und Umgangsweisen für ihr eigenes Leben lernen könnten – wie etwa, im Anschluss an Schiller’sche Ideen, einen momenthaften Ausgleich zwischen leiblich-stofflicher Bedingtheit und geistiger Freiheit und damit verbunden eine ganzheitiche Selbsterfahrung jenseits von gesellschaftlich vorherrschendem Rationalismus, individualistischen Partikularinteressen und Verwertungslogiken. Über diese Erkenntnisdimensionen und Visionen, die Meier-Graefe in Bildern eingeschrieben sieht und in seinen Werkbeschreibungen hervorzutreiben versucht, verliert Claass kein Wort. Stattdessen setzt er den Kunstschriftsteller an einer Stelle en passant mit Langbehn gleich (178) und geht damit am Kern von Meier-Graefes kunstkritischer Stoßrichtung vorbei. Anders als bei Langbehn ist es die jeweils am Werk entwickelte Perspektive, die Meier-Graefe in seiner kunstkritischen Praxis ins Bewusstsein hebt, die er aus einer dezidiert subjektiven, aber um Nachvollziehbarkeit bemühten Warte heraus aktualisiert, um dergestalt Verständigung über im Qualitätsurteil kommunizierte Erlebnisweisen zu erwirken und zu einem gemeinsamen Nachdenken über qualitative Weltbezüge (in einem relationalen, keinesfalls essentialistischen Sinne) anzuregen – letztlich die Grundlage dafür, Weisen des Zusammenlebens überhaupt erst zu ermitteln und idealiter an und mit Kunst zu stiften. Bei Meier-Graefe ist die Gemeinschaft Flucht-, nicht aber Ausgangspunkt seiner kunstkritischen Praxis wie bei Langbehn. Es geht Meier-Graefe um emotionale, ästhetische, nicht aber um Volks-Gemeinschaften.[9]

Um emotionale und ästhetische Gemeinschaften zu stiften, verfährt Meier-Graefe im Grunde analog zur Kunst, die er idealiter als interpiktoriales und internationales Geflecht konzipiert, das sich im fortwährenden Aneinander der Positionen, in fortwährender kritischer Scheidung, gleichsam selbsttätig und ohne Telos fortschreibe und gerade dadurch, dass sie nicht ex nihilo auftauche, sondern immer mit Vertrautem weiterarbeite, Anschlüsse für die Rezipienten gewähre. Auch Meier-Graefe geht es in seiner Kritik um eben diese Anschlussmöglichkeit durch das Aufgreifen von Traditionen. Auf diese spezifische Verfasstheit seiner Praxis, die Meier-Graefe hierzulande tatsächlich ein großes Publikum bescherte und die meines Erachtens die bislang kaum untersuchte DNA seines Tuns darstellt, geht Claass nicht ein.[10] Doch genau hier hätte er einer französischen Leserschaft verdeutlichen können, warum Meier-Graefe ›zog‹ und warum seine kulturelle Verankerung im deutschsprachigen Raum seine Vermittlung nach Frankreich erschwert.

Neben dem Involvieren seiner Leser durch eine metaphorische Sprache, die das Sprachneben das Kunstbild stellt, setzt Meier-Graefe vor allem auf seinen vor den Artefakten in Szene gesetzten Leib und seine dialogische, vermeintlich unmittelbar verständliche Struktur, um Erlebnisweisen zu kommunizieren. Ein weiterer Kniff, den (Leser-)Betrachter zu erreichen und abzuholen, ist sein fortwährendes Einarbeiten und Aufrufen von im kollektiven Gedächtnis und kulturellen Selbstverständnis verankerten literarischen Traditionen, wenn er für die im Tenor so unterschiedlich gehaltenen Bildeinholungen je nach Gegenstand Anleihen bei der Bibel, bei Märchen und Mythen respektive dem Bildungsroman oder dem Theater nimmt, mit wechselnden Personenperspektiven spielt oder auf poetische und philosophische Positionen rekurriert, ohne dass diese sich in den Vordergrund schieben. Allein, »fernen Erinnerungen gleich« scheinen auch sie (analog zu den interpiktoral arbeitenden Bildkünsten und deren Anverwandlungsweisen älterer Kunstformen) die entworfenen Sprach-Bilder zu grundieren und den Lesenden ein assoziatives Andocken und Mitspielen zu gewähren.[11] Darüber hinaus ist das Gattungsschema des Essays, der die kritische Denkbewegung theatral zur Aufführung bringt, nachvollzieh- und miterlebbar macht, der »Essay als Form« im Sinne Adornos, »ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der spezifischen Literarizität« seiner Texte.[12] Dass Claass auf all diese Aspekte und Fragen nach dem kaum erforschten ›Wie‹ der Leseradressierung und Bedeutungsproduktion mit intellektuellen, empathischen und rhetorischen Techniken und damit auf das Medium von Meier-Graefes Vermittlungsarbeit so gut wie nicht zu sprechen kommt, ist nicht so recht nachvollziehbar. Der Meier-Graefe attestierte »regard novateur« (42) hätte weniger thetisch konstatiert als inhaltlich profiliert und die Tradition, in der Meier-Graefe damit zugleich auch steht, aufgezeigt werden müssen. Allein mit Blick auf die Spanische Reise, die in dieser Hinsicht aber bereits an anderer Stelle untersucht worden ist,[13] erwähnt Claass die Literarizität von Meier-Graefes Texten kurz (123). Wenn er dann in einem merkwürdig unausgegoren anmutenden Epilog (»Mots de passe«; 379–389), der sich dieses Desiderats verpasster literatur- und geistesgeschichtlicher Referenzmarkierungen gewahr zu werden scheint, einerseits kurz andeutet, dass Baudelaires Ästhetik eine wichtige Quelle für Meier-Graefe gewesen sei, auf die er sich aber nur »de manière anecdotique« (385) bezogen habe, dann übersieht Claass schlicht, wie der Kritiker ganze Kapitel, etwa seine Besprechungen von Constantin Guys, Édouard Manet und Henri de Toulouse-Lautrec, in den Ton und die Sprachbildlichkeit des französischen Dichter(kritikers) kleidet und damit nicht nur die Kunst, sondern auch die Diskurse des Nachbarlandes in den deutschsprachigen Raum vermittelt und mit Gedanken der idealistischen Kunsttheorie in eigenwilliger Weise amalgamiert.[14] Dem im Untertitel suggerierten Anspruch, »Le cas Meier-Graefe et la lutte pour l’art moderne en Allemagne« im Zusammenhang zu betrachten, wird die Studie somit nicht wirklich gerecht.

Seine Sprache und seine Art der (Selbst-)Darstellung waren es, mittels derer Meier-Graefe seine Zeitgenossen zu überzeugen versuchte, Werte ermittelte und vor Augen führte – und deretwegen die Lektüre seiner Texte auch heute noch lohnt und keineswegs, wie Claass resümiert, als das Werk eines Gestrigen obsolet zu heißen ist (389). Ob Meier-Graefe bei seinen Urteilen mit Blick auf den heutigen Kanon ›richtig‹ lag, geht meiner Ansicht nach an der sui generis momentgebundenen Kunstkritik, die Kunst(werte) für die eigene Gegenwart diagnostiziert und erstreitet und nicht mit dem Anspruch ewiger Gültigkeit auftritt, glatt vorbei. Die gängige, von Claass fortgeschriebene Abstempelung Meier-Graefes als »Reaktionär« (206, 209, 221, 225, 231, 346), der schon Abstraktion und Kubismus nicht mehr zu folgen vermocht habe, erachte ich insofern als problematisch, als auf diese Weise ein Fortschrittsdenken impliziert wird, das im Bereich der Kunst und ihrer Kritik, wo Werte nicht einfach gegeben, sondern gesetzt und erstritten werden, fehl am Platz ist. Statt blind die darin implizierte Erzählung von der Avantgarde fortzuschreiben, wäre einmal aufzuzeigen, welche Werke Meier-Graefe warum und wie für die eigene Gegenwart aktualisierte, welche Bedürfnisse er an ihnen verhandelte und was er mit welcher Begründung ablehnte. Auf diese Kernfragen seiner kritischen Praxis wurde dieser so ›kanonisch‹ wirkende Kritiker bislang so gut wie gar nicht untersucht.[15] Dabei ließen sie sich produktiv machen, um heute noch mit Meier-Graefe ins Gespräch zu kommen und unsere eigenen Vorstellungen von Kunst zu schärfen – um auf diesem Weg, indem wir lernen, was es heißt, sich in ein Verhältnis zur Kunst zu setzen, vielleicht sogar eine selbstbestimmte und selbstwirksame Flexibilisierung des Kanons zu erwirken. Claass’ Konklusion, Meier-Graefe betreibe eine »pratique de la critique d’art vouée à tomber en désuétude« (384), ist für mich eine verpasste Chance; denn viel produktiver wäre es, eingedenk der oben skizzierten Besonderheit des offensiv falliblen Phänomens Kritik zu fragen: Sehen wir, was er sieht? Erschließt er uns neue, andere, vermeintlich vertraute Werke unvertraut machende Sichten? Wo folgen wir ihm, wo widersprechen wir? Mit solchen Fragen erschließen wir uns nicht nur historische Praktiken der Kritik, vergangene Diskurs-, Wahrnehmungsund Gefühlskulturen – sondern vergewissern uns auch unserer eigenen (Vor-)Urteile und Wertbeimessungen. Meier-Graefes Anliegen, Sehen zu lehren und die Augen zu öffnen, zeitigte so einen wünschenswerten Langzeiteffekt. In seinen Bennington Seminars führte Clement Greenberg vor, wie dieses Weiterdiskutieren mit Meier-Graefe über die Zeiten hinweg funktionieren könnte und worin für ihn der Wert von dessen Umgang mit Kunstwerken liegt. Mit der Zeit erkenne man einen guten Kritiker daran, so Greenberg, »that his judgments, his verdicts, coincide in some part with yours and in other part, as I said, begin to disturb you when they don’t coincide with yours.«[16] Er schätze es, darauf aufmerksam zu werden »that the good critic reminds you of something in your own experience that you have blanked on, and sends you back to the work with sharpened attention«.[17] Zu einer solchen Blickweitung durch und mit Meier-Graefe würde diese Rezension gerne einladen, anstatt, wie es Claass tut, das Kapitel Meier-Graefe als abgeschlossene Episode ad acta zu legen.

Beizupflichten ist Claass hingegen in seiner Identifizierung ungemein aktueller Momente in Meier-Graefes Kunstansichten – dessen Kritik an der Kommerzialisierung der Kunst, an ihrer Warenförmigkeit, seine Wendung gegen die Suche nach vermeintlichen Nationalstilen und damit sein vehementes Eintreten gegen jegliche ideologische Vereinnahmung von Kunst wie er sie allenthalben auf dem Vormarsch sah (384). Was Meier-Graefe suchte, war eine Kunst, die sich nicht in Zwecke setzen und über die sich doch Verbindlichkeit stiften ließ – meines Erachtens das zentrale Anliegen seiner kunstkritischen Operationen, das in der vorliegenden Studie nicht deutlich konturiert wird. Wenn Meier-Graefe die Abstraktion eines Wassily Kandinsky als Verabsolutierung des Künstler-willens, als Schaffen aus dem Geist statt aus der verbindlichen Tradition heraus kritisierte, und am diametral dazu stehenden Verismus eines Otto Dix insofern ideologische Vereinnahmung am Werk sah, als hier qua Abschreckungs-Theorie für den Pazifismus geworben und damit agitiert antatt auf genuin bildkünstlerische Potentiale und Wirkweisen vertraut würde,[18] dann begründet er durch explizit ausgestellte Erwartungen den Maßstab seiner Wertbeimessung, gibt uns Argumente für sein Votum, seine Sichtweisen an die Hand – die wir nicht teilen müssen. Meier-Graefe als reaktionär abzutun, ist zu leichtfertig, zumal es sich um einen Vorwurf handelt, der gegenüber Carl Einstein, der mit Meier-Graefe in puncto Dix und auch Kandinsky absolut d’accord ging, nie erhoben worden ist. Bei dem hiermit kurz versuchten Nachvollzug seines Kunstbegriffs kann es, wie gesagt, nicht darum gehen, ob Meier-Graefe ›recht‹ hatte; das wäre der situativ um Relevanzen streitenden Kunstkritik unangemessen; sondern es geht darum zu verstehen, wie und warum Meier-Graefe für Ideale und Ziele, die er mit Dix durchaus teilte, nämlich Frieden und Gemeinschaft in einem über den Nationalstaat hinausgehendenden Sinne, ganz andere Mittel als erforderlich erachtete. Auch wenn er dieses Bemühen aus seinem »pessimisme productif« (384) heraus 1924 schließlich resigniert als »haltlose Fiktion« bezeichnen sollte,[19] sind seine kunstschriftstellerischen Ambitionen von genau diesem Ansinnen einer emotionalen, völkerübergreifenden Gemeinschaftsbildung entlang des Vorbilds der Kunst durchdrungen. Wenn auch argumentativ vielfach im Unscharfen und an der Oberfläche seines Agierens bleibend, hebt die Claass’sche Studie im Grunde auf dieses Bemühen des Kritikers ab– und legt, bei aller hier vorgebrachten Kritik, ein wichtiges Kapitel zum deutsch-französischen Kulturtransfer vor.

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Stephanie Marchal

STEPHANIE MARCHAL wurde nach dem Studium der Kunstgeschichte und Romanistik in Heidelberg, Siena und Neapel 2010 mit einer Dissertation zu Gustave Courbet promoviert. Sie ist nach einem Volontariat an der Frankfurter Schirn-Kunsthalle, Stationen am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und an der Leuphana Universität Lüneburg seit 2020 Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den modernen Bildkünsten, der Sozialgeschichte der Kunst(institutionen) und der Kunsthistoriographie.

Published Online: 2025-03-07
Published in Print: 2025-03-26

© 2024 Stephanie Marchal, published by De Gruyter

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Downloaded on 25.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2025-1009/html
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