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Objektkultur und Körperbewusstsein um 1900

  • Marta Smolińska

    Marta Smolińska ist Leiterin des Lehrstuhls für Kunstgeschichte und Philosophie an Magdalena-Abakanowicz-Universität der Künste in Poznań, Kuratorin und Kunstkritikerin. Sie veröffentlichte u. a. zusammen mit Burcu Dogramaci Re-Orientierung: Kontexte zeitgenössischer Kunst in der Türkei und unterwegs (Berlin 2017) und mit Maike Steinkamp A-Geometry: Hans Arp and Poland (Poznań 2017). Auf Polnisch erschienen von ihr Die erweiterte Haptik: Der Tastsinn in der polnischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 21. Jahrhunderts, Kraków 2020.

Published/Copyright: March 4, 2024
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Moser Thomas, Körper & Objekte: Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900 Paderborn: Brill/Fink, 2022, XXXVII, 424 Seiten, 53 Farb- und 42 Schwarzweißabbildungen, € 69,00, ISBN 978-3-7705-6757-7 (Hardcover) bzw. 978-3-8467-6757-3 (eBook)


Das Buch von Thomas Moser schließt eine Lücke in der Forschung zur haptischen und verkörperten (angewandten) Kunst und ihrer Perzeption zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900. Die Kunstgeschichte hat sich seit dem sogenannten sensual turn in den 1980er Jahren vor allem auf Analysen der Kunst des 20. Jahrhunderts durch das Prisma der bisher vernachlässigten Sinne Tastsinn, Geschmack oder Geruch konzentriert. Die angewandte Kunst und die kunsthistorische Objektwissenschaft in Bezug auf die Aufwertung der Sinneshierarchie ist bisher nicht in den Fokus gerückt. Moser hat sich diesem Thema im Kontext von Kunst und Wissenschaft um 1900 mit großer Gelehrsamkeit und Leidenschaft genähert und weist in seiner Einleitung auch auf eine zeitgenössische Perspektive hin, die sich beispielsweise auf die Somästhetik von Richard Shusterman, die Dekonstruktion des Okularozentrismus von Martin Jay oder die Studien von Martin Grunwald über den Tastsinn bezieht.

Ausgehend von einer Analyse des Gemäldes Satyre et bacchante von Édouard-Antoine Marsal aus dem Jahr 1887 stellt der Autor die beiden Hauptgedanken des Buches heraus, »die Frage nach dem Ort des menschlichen Körpers, seiner Physiologie sowie seinem Vermögen zum sinnlichen Kunstgenuss«, und zum anderen »den Befund, dass räumlich gestaltende Kunst eine besondere Disposition für betont somatische Kunsterfahrungen aufweist« (VII). Dieser doppelten Prämisse folgend, baut Moser die Struktur und das Narrativ des Buches logisch und übersichtlich auf, das sich – entsprechend den Hauptforschungsfragen – in zwei Abschnitte zur »Tastästhetik« bzw. »Kraftästhetik« gliedert.

Der erste Teil (3–142), unterteilt in drei Kapitel, befasst sich mit dem Werk des französischen Architekten Jules Lavirotte im Kontext von Haptik und Erotik, dem haptischen Vermögen in Bezug auf den Übergang von der Erkenntnis zum Kunstgenuss und der Figur des Krakens als Verkörperung des achtfachen Tastgenusses. In diesem Teil des Buches steht die taktile Erfahrung, Alltagsgegenstände mit den Händen zu berühren und ihre Beschaffenheit und materielle Oberfläche zu erfühlen, im Mittelpunkt. Der Krake hingegen wird als geradezu ikonisches Symbol der Berührung gezeigt, das sowohl im Kontext der damaligen Kunsthandwerksproduktion als auch im Zusammenhang mit dem philosophischen Hintergrund der Sexualisierung der Natur präsentiert wird.

Der zweite Teil (145–324), ebenfalls in drei Kapitel gegliedert, konzentriert sich dagegen auf Krafterfahrungen und die Figuren des französischen Kunsttischlers, Fotografen und Bildhauers Rupert Carabin und seine Theorie der werkkonstitutiven Schwere. Ferner werden berücksichtigt der französische Anatom, Physiologe, Bildhauer, Medailleur und Anatomiekünstler Paul Richer im Kontext des Konzepts des szientistischen Naturalismus. Moser widmet sich auch der Tänzerin Loïe Fuller, einer Ikone des modernen Tanzes, in deren Choreografien sich die unaufhörliche Umwandlung von Körperkraft in Form zeigte. In diesem Abschnitt der Publikation geht es nicht mehr um die Erfahrungen, die durch die Berührung der Hände und Finger erzeugt werden, sondern um solche, die mit der Propriozeption und der Tiefensensibilität zusammenhängen. Es werden also nicht mehr Oberflächen und Texturen analysiert, sondern eher Volumen, Gewichte, Muskelanspannungen, Maßstäbe, Skalierungen und Kräfte.

Diese Unterteilung wurde jedoch vom Autor im Bewusstsein vorgenommen, dass die haptische Wahrnehmung gerade nicht von der Propriozeption und der Tiefensensibilität getrennt werden kann. Die beiden Teile des Buches sind daher stark miteinander verwoben, obwohl sie auf unterschiedlichen Beispielen beruhen. Was sie eint, ist die Überzeugung, dass die verkörperte Wahrnehmung in der Produktion von angewandter Kunst und Kleinplastik in der Zeit um 1900 bewusst mitgedacht und angeregt wurde.

Im Titel der Zusammenfassung kreiert Moser die Figur des »kleptomanischen Betrachters« – ein Begriff, der die Leidenschaft für die Berührung und die Unfähigkeit ausdrückt, dem Wunsch zu widerstehen, mit dem Werk über die verkörperte Wahrnehmung in Kontakt zu treten. Wirtschaftlicher und ästhetischer Konsum fallen in dieser Figur in eins. Es geht um den begehrlicher Betrachter, nicht um die Betrachter:innen – der Autor verzichtet bewusst auf das Gendern, da wir es – wie er zuvor betonte (325–331) – um 1900 mit der von Männern für Männer gemachten Kunst zu tun haben, die in einer homosozialen Konstellation entstand.

Obwohl Fuller im Mittelpunkt eines der Unterkapitel steht, werden im Wesentlichen, wie Moser es beschreibt, zu Bronze erstarrte fluktuierende Körperphantasien und Zeichnungen analysiert, die eine Tänzerin darstellen, aber von Männern angefertigt wurden (u. a. Louis-Auguste-Théodore Rivière und Koloman Moser). Das Ziel des Autors ist demnach, eine historisch spezifische Objektkultur sichtbar zu machen, die auf bewusste Körpererfahrungen ausgerichtet war, obwohl Berührungen zu dieser Zeit als unangemessen stigmatisiert wurden.

Mosers umfangreiche Studie befasst sich also mit dem biomorphen Jugendstil im Kontext der damaligen Forschung zum Tastsinn und zur Physiologie, deren Umfang sich in dieser Zeit erheblich erweitert hatte. Diese Themen werden auf der Grundlage zahlreicher Archiv- und Bibliotheksrecherchen vertieft dargestellt. Dadurch ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf Themen zu lenken, die bisher außerhalb der Kunstgeschichte lagen, weil diese sich eher auf Architektur, Malerei und Skulptur konzentrierte als auf angewandte Kunst oder mobile Kleinplastik als Wohnungsschmuck. Mosers überzeugende Erzählung führt die Leser:innen von der Analyse spezifischer Werke über den theoretischen und historischen Kontext zu allgemeinen Schlussfolgerungen, die den Charakter der gesamten Epoche zu fassen versuchen und ein verstärktes Interesse an Körperlichkeit und Physiologie sowohl im Kontext der Erotik als auch in den Naturwissenschaften erkennen lassen. Der umfangreiche Fußnotenapparat und die Bibliografie bestätigen die Breite der Kontextualisierung der behandelten Themen. Auch der Frage, welche und wessen Körper durch diese Werke aktiviert werden, weicht der Autor nicht aus, indem er darauf hinweist, dass es sich um die wohlhabenden Gesellschaftsschichten handelt – und unter diesen sind es vor allem Männer, denen sinnliches Vergnügen bereitet werden soll. Während man sich bei den Darstellungen mit dem Krakenmotiv auch ein weibliches Wahrnehmungsvergnügen vorstellen kann, besteht bei den Möbeln, Karaffen, Türklinken usw. mit weiblichen Akten kein Zweifel, dass sie sich an einen heterosexuellen männlichen Betrachter richten, wie Moser betont.

Der analysierte Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft spiegelt sich auch in Illustrationen wider, die aus Sicht der klassischen Kunstgeschichte weder offensichtlich noch besonders bekannt sind. So erweitert Moser die Ikonosphäre der Zeit um 1900, indem er den Leser:innen Beispiele von Kleinplastiken und architektonischen Details präsentiert, dazu die kraftindexikalischen Vitrinen und raffinierten Möbelstücke Carabins, etwa dessen körpergewichtbewusste, anthropomorphe Fauteuils.

In diesem Buch über Berührungserfahrungen und haptische Wahrnehmungsweisen taucht der Name Alois Riegls, der am Anfang der 20. Jahrhunderts das Konzept der Haptik einführte, sehr selten auf. Dies ist jedoch eine bewusste und durchaus verständliche Strategie, weil Moser mit jeder Analyse des ausgewählten Objekts die These von John Michael Krois bestätigt, dass das Haptische den ganzen Körper umfasst.[1] Es geht in diesem Fall nicht um die Rieglsche klassische Definition des Haptischen,[2] was die Thesen von Moser mit meinem eigenen Zugang bezüglich der sogenannten »erweiterten Haptik« verbindet.[3] Das Haptische wird körperlich und emotional aktiviert, wozu das ganze Repertoire der körperlichen Materialität, Sensomotorik und somaästhetischen Erfahrungen beiträgt und dazu eine tiefe Sinnlichkeit, die ihrerseits aus der Lage und Dynamik des Körpers im Raum resultiert. Die erweiterte Haptik ist meiner Meinung nach eine somaästhetische Modalität mehrerer Sinne eines empathischen haptischen Subjekts, das einen fühlenden Leib und Sinnenbewusstsein besitzt.

Mosers Analysen der Objekte im historischen Kontext belegen, dass die in den 1980er Jahren eingeleitete Aufwertung der Hierarchie der Sinne doch keine so große Neuheit war. Der Autor weist nämlich darauf hin, dass Propriozeption und Tastsinn bereits um 1900 als Quellen ästhetischer Erfahrung angesehen wurden. Die damaligen Erkenntnisse werden durch die heutige Forschung bestätigt, die sich auf die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Neuroästhetik stützen kann. Mit Carabins und Richers haptischem Schaffen korrelieren demnach die Thesen Barbara Monteros,[4] die den Sinn der Propriozeption den ästhetischen Sinnen zurechnet. Ist die Propriozeption ein ästhetischer Sinn, dann kann das ästhetische Urteil auf propriozeptiver Erfahrung basieren, die ihrerseits aus der Aktivität und Funktion der Spiegelneuronen resultiert. Durch diesen Sinn lässt sich die Darstellung einer Bewegung als ›schön‹ wahrnehmen. Montero prägte dafür den englischen Neologismus des »proprioceiving«, der die aktive und wichtige Beteiligung des Sinnes der Propriozeption am Prozess der Rezeption eines Kunstwerkes betont. Die Forscherin, die sich auf Tänzer:innen als Ikonen der propriozeptiven Sinnesaktivität in der ästhetischen Sphäre konzentriert, hebt hervor, dass sie den ästhetischen Wert ihres eigenen Tanzes durch Empfindung und eben »proprioceiving« zu beurteilen vermögen. Moser analysiert das Phänomen dieses »proprioceiving«, nennt es aber nicht so, sondern geht von einer historischen Perspektive aus.

Der Sinn der Propriozeption spielt bei der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle, sowohl auf der Seite der Tänzer:innen und der Künstler:innen im Allgemeinen als auch vom Standpunkt der Rezipient:innen aus.[5] Die Propriozeption lässt uns den Rücken durchstrecken und die Muskeln anspannen, wenn unser Blick den Hochleistungsbewegungen und dem Serpentinentanz von Fuller folgt. Die Arbeit der Spiegelneuronen und die menschliche Propriozeption lassen uns Fullers Performances ästhetisch beurteilen, wenn wir sie verfolgen, ohne uns selbst zu bewegen. Denn die Bewegungen der Performerin ›hallen‹ in unserem Körpern nach, weil sie in ihm nicht nur visuell, sondern auch kinästhetisch repräsentiert werden.[6] Moser hingegen beschreibt diese Wahrnehmungseffekte nur unter Berufung auf damalige physiologische Studien. Damit ist seine Argumentation eher historisch bedingt als ausgerichtet auf eine anachronistische Sichtweise im Sinne Georges Didi-Hubermans oder der »preposterous history« Mieke Bals.

Die Bewegung blieb bei der klassischen Definition des Haptischen durch Riegl außen vor. In der Definition der haptischen Wahrnehmung hingegen, wie sie etwa Mark Paterson formuliert, wird sie berücksichtigt und aufgewertet. Dabei geht es sowohl um die Bewegung auf Seiten des Objekts, des Bildes oder des Raumes als auch auf der der Rezipient:innen, die dieses Objekt, dieses Bild oder diesen Raum beobachten.[7] Es handelt sich mithin um eine Art Synergie zwischen dem Sehsinn, dem Tastsinn, dem Gleichgewicht des Körpers und dem Raumbewusstsein; das propriozeptive Modell fungiert hier als haptisches Phänomen. Nach Paterson kommt es zu einer propriozeptiven Fusion der Kinästhesie mit der taktilen und der Hautwahrnehmung. Gestützt auf die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, definiert Paterson die haptische Wahrnehmung als propriozeptive und kinästhetische, das heißt als Wahrnehmung der Lage, des Zustands sowie der Bewegung des Leibes und seiner Gliedmaßen im Raum.[8] Eben diese Theoreme sind auch Moser nicht fremd, der in seinem Buch den Sehsinn nicht ausschließt oder abwertet, sondern ihn in eine neue multisensorische Konfiguration einordnet, vor allem in Bezug auf den Tastsinn und die Propriozeption.

Mosers Studie, so lässt sich konstatieren, bereichert das bestehende Wissen über haptische Wahrnehmung. Sie schärft auch die somatische Empfindungsfähigkeit der Leser:innen und fügt sich damit produktiv in den sogenannten sensual turn ein. Obwohl sich der Autor auf die historisch-wissenschaftlichen Kontexte der Beziehung zwischen Körpern und Objekten konzentrieren wollte, ist ein waches Bewusstsein für zeitgenössische Diskurse über das Haptische, das den ganzen Körper umfasst, im gesamten Buch wahrzunehmen.

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Marta Smolińska

Marta Smolińska ist Leiterin des Lehrstuhls für Kunstgeschichte und Philosophie an Magdalena-Abakanowicz-Universität der Künste in Poznań, Kuratorin und Kunstkritikerin. Sie veröffentlichte u. a. zusammen mit Burcu Dogramaci Re-Orientierung: Kontexte zeitgenössischer Kunst in der Türkei und unterwegs (Berlin 2017) und mit Maike Steinkamp A-Geometry: Hans Arp and Poland (Poznań 2017). Auf Polnisch erschienen von ihr Die erweiterte Haptik: Der Tastsinn in der polnischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 21. Jahrhunderts, Kraków 2020.

Published Online: 2024-03-04
Published in Print: 2024-03-25

© 2024 Marta Smolińska, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2024-1010/html
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