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Die vielen Hände des Émile Gallé: Produktionsszenarien der Glaskunst um 1900 zwischen Hand, Kopf und Maschine

  • Léa Kuhn

    Léa Kuhn ist stellvertretende Direktorin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Zuvor war sie akademische Rätin a. Z. an der LMU München und vertrat zudem von 2021 bis 2023 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der GoetheUniversität Frankfurt. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den sich wandelnden Vorstellungen künstlerischer Arbeit in der Moderne und den Interdependenzen von künstlerischer Praxis und Kunstgeschichtsschreibung. 2020 ist ihre Dissertation Gemalte Kunstgeschichte: Bildgenealogien in der Malerei um 1800 bei Wilhelm Fink erschienen.

Published/Copyright: June 10, 2023
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Abstract

This essay examines the display of artistic labour embedded in Émile Gallé's glass objects. As a starting point, it takes the telling discrepancy between Gallé's representation as an artist working in the solitude of his studio in the well-known portrait painted by Victor Prouvé in 1892 and the actual involvement of many hands organized under a strict division of labour in his glass manufactory. His glass objects thus exist somewhere between the logic of the singular work of art and that of serial production. The essay looks closely at Gallé's exhibition practice at the Salon du Champ-de-Mars as well as at his public statements about the making of his glass works in order to trace contemporary negotiations of the relationship between art and industry and, more broadly, notions of what constituted an adequate modern art around 1900.

Ein dunkelhaariger Mann sitzt hochkonzentriert an seinem Schreibtisch, den Kopf in Richtung Fenster gewandt. Die Szene ist in warmes Licht getaucht, es herrscht eine Atmosphäre der Ruhe. In der linken Hand wiegt der Mann eine ebenfalls vom Licht erleuchtete bläulich-rosafarbene Vase, und mit dem Pinsel in seiner Rechten schickt er sich an, letzte Emailverzierungen an dem Objekt anzubringen (Abb. 1). Er hält jedoch inne, der finale Pinselstrich ist noch nicht getan: Was hier ins Bild gesetzt wird, ist weniger die kunstfertige Ausführung des Vorgangs als vielmehr ein Moment der reinen Inspiration oder auch der konzentrierten Reflexion des bereits Geschaffenen. Buchstäblich selbst erleuchtet, wartet der Künstler offenbar auf die entscheidende Eingebung, wie es dieses eine Objekt zu vollenden gilt. Im Bildvordergrund finden sich neben bereits realisierten weiteren Ergebnissen seines Tuns in Form von Vasen unterschiedlicher Größe und Form auch Skizzen sowie getrocknete Blüten und Blätter, die mit den Vasen in einen Dialog zu treten scheinen: Mit dem getrockneten Blattwerk ist auch sofort ersichtlich, woher der Mann seine Inspiration gewinnt, nämlich unmittelbar aus der Natur selbst.

Das Gemälde zeigt den damals bereits international bekannten Glaskünstler Émile Gallé bei der Arbeit; gemalt wurde es im Jahr 1892 von dessen Kollegen und Freund Victor Prouvé.[1] Noch heute schmückt Prouvés Bildnis zahlreiche Publikationen zum Thema Glaskunst und wird regelmäßig dann abgebildet, wenn es darum geht, einen kursorischen Eindruck der Arbeit mit dem Werkstoff Glas zu vermitteln oder aber den lothringischen Glaskünstler in einer Art Professionsporträt vorzustellen.[2] Der anhaltende Erfolg des Motivs in fachlich- wie populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen schließt dabei unmittelbar an jenen zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes an, denn damals wie heute scheint Gallé förmlich mit Prouvés visueller Charakterisierung seiner Tätigkeit als maître verrier zu verschmelzen.

1 Victor Prouvé, Portrait de M. Emile Gallé, 1892, Öl auf Leinwand, 160,5 × 101 cm. Nancy, musée de l’École de Nancy
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Victor Prouvé, Portrait de M. Emile Gallé, 1892, Öl auf Leinwand, 160,5 × 101 cm. Nancy, musée de l’École de Nancy

2 Blick in den sogenannten Ätz-Saal der Damen, um 1894–1913, Fotografie
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Blick in den sogenannten Ätz-Saal der Damen, um 1894–1913, Fotografie

Dass aller Stimmigkeit der Szene zum Trotz das Verhältnis, das Gallé zu seinen Glasobjekten unterhielt, etwas weniger intim gewesen sein dürfte als Prouvés Bildnis es nahelegt, wird deutlich, wenn man sich die konkrete Herstellungsweise der Glasobjekte aus dem Hause Gallé vor Augen führt. Um die Jahrhundertwende herum nämlich beschäftigte Gallé allein in seinen Glaswerkstätten in Nancy sage und schreibe 250 Mitarbeitende.[3] Hinzu kamen weitere große Werkstätten für Keramik und Möbel, die in der vorliegenden Aufzählung nicht berücksichtigt sind. Im Laufe der 1890er Jahre baute Gallé insbesondere die Glasproduktion massiv aus und errichtete etwa 1894 einen Hüttenneubau vor Ort, auf den später zurückzukommen sein wird. Allein ein Blick in die beiden nach Geschlecht getrennten Ätz-Säle, die Gallé in Nancy unterhielt und die in historischen Aufnahmen dokumentiert sind, vermittelt einen deutlich von Prouvés Gemälde abweichenden Eindruck (Abb. 2, 3).[4] Während die größeren Objekte von den Männern bearbeitet wurden, waren Frauen und teils auch Kinder für die kleinteiligen Objekte zuständig, wie sich auch an der stark nach vorne gebeugten Körperhaltung der arbeitenden Frauen in der Fotografie ablesen lässt. Die in den beiden Sälen versammelten Frauen und Männer sind also allein mit einer Unterart der Glasbearbeitung befasst; weitere Ateliers sind dem Glasschnitt, dem Glasschliff oder der Glasmalerei gewidmet. Ein Gebäudeplan von 1893 verzeichnet zudem einen eigenen Verpackungssaal für die einmal fertiggestellten Objekte.[5] Für die Herstellung der Glasobjekte bedeutete dies, dass sie, nachdem sie als bereits in mehreren Verfahrensschritten bearbeitetes Rohglas die Glashütte verlassen hatten, zur Weiterverarbeitung die verschiedenen Ateliers durchliefen, wobei sie insbesondere beim Ätzprozess zwischen der Aufbringung des Schutzlackes auf bestimmten Partien des Objekts in den bereits angesprochenen Ätz-Sälen und dem darauffolgenden Säurebad in einem separaten Raum häufig solange hin- und herpendelten, bis die gewünschte Schichtenstaffelung des Überfangs erreicht war. Oftmals folgte dann eine mattierende Behandlung der Oberfläche, bevor die Glasobjekte zur Politur und Reinigung weitergereicht und schließlich für den Verkauf verpackt wurden.[6]

3 Blick in den sogenannten Ätz-Saal der Herren, um 1894–1913, Fotografie
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Blick in den sogenannten Ätz-Saal der Herren, um 1894–1913, Fotografie

Hinter Gallés Glasobjekten steht folglich ein stark funktionalisierter, strikt arbeitsteilig organisierter Produktionsprozess. Gallé selbst war in der Regel an der Ausführung gar nicht beteiligt; auch waren seine eigenen praktischen Kenntnisse der Glasbearbeitung eher beschränkt. Tatsächlich half Gallé nur in der Anfangszeit und, wenn überhaupt, bei der Emailarbeit auf Glas mit – ab 1884 aber waren auch dafür vollständig Hilfskräfte zuständig. Trotz einiger kürzerer Aufenthalte zu Ausbildungszwecken in der Glashütte Meisenthal in seiner Jugend hatte Gallé keine fundierten Erfahrungen etwa im Bereich Glasschnitt vorzuweisen, wenn auch seine über die Jahre gewonnenen ausgeprägten theoretischen Kenntnisse der Glastechnologie ihm den engen Austausch mit seinen Mitarbeiter:innen ermöglicht haben dürften.[7] Selbst beim Entwurfsprozess jedoch war seine Beteiligung nicht zwingend gegeben: Zwar stellte Gallé Entwürfe von Glasobjekten her, doch existierte auch hierfür ein eigens eingerichtetes atelier de dessin et de composition im Hause, das mit nichts anderem als der Ausarbeitung von Entwürfen für die Glasobjekte befasst war.[8] Ein genuiner Anteil Gallés am Entwurfsprozess kann also nicht prinzipiell vorausgesetzt werden – mindestens variierte dieser stark bei den unterschiedlichen Objekttypen.[9]

Diese kurze Skizze der Produktionsvorgänge im Hause Gallé dürfte allein schon deutlich gemacht haben, wie stark der Kontrast ausfällt zwischen dem, was Prouvé als Gallés Arbeit ins Bild setzt und den realen Abläufen in der Manufaktur. Nun ist die Tatsache, dass der Produktionsprozess eines künstlerischen Objekts und seine möglichen Visualisierungen auseinanderfallen, keinesfalls ungewöhnlich, sondern vielmehr der Normalfall der Kunstproduktion, wenn man so will, was unter anderem zu tun hat mit dem zwangsläufigen Moment der Nachträglichkeit des fertigen Werkes gegenüber seiner Entstehung, aber auch mit bestimmten Bildern und Konventionen davon, wie künstlerische Betätigung auszusehen hat und welche Formen sie (vermeintlich) annimmt.[10] Bei Gallé allerdings ist diese Spannung zwischen dem medial vermittelten Bild der Arbeit in Prouvés Gemälde und den eigentlichen Vorgängen bei der Herstellung der künstlerischen Objekte besonders ausgeprägt und auch, so möchte ich im Folgenden zeigen, besonders aufschlussreich im Hinblick auf die zeitgenössischen Verhandlungen darüber, was überhaupt als eine moderne, zeitgemäße Kunst um 1900 gelten kann.

4 Visitenkarte Émile Gallés für die Weltausstellung 1889, 1889
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Visitenkarte Émile Gallés für die Weltausstellung 1889, 1889

Wie etwa eine Visitenkarte deutlich macht, die der Künstler anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1889 drucken ließ, bezeichnete sich der in den Branchen Keramik, Holz und Glas aktive Gallé als »artiste industriel« (Abb. 4). Dieser Terminus war seit dem beginnenden 19. Jahrhundert für sämtliche sogenannten angewandten Formen der Künste in Frankreich gängig (also etwa für Silberschmiedekunst, Keramik oder Tapisserie, um nur einige zu nennen). Um 1900 allerdings geriet dieses Konzept dann zusehends unter Druck: Es verlangte regelrecht nach einer Verortung im Spannungsfeld zwischen Hochkunst auf der einen und Großindustrie auf der anderen Seite – und damit zwischen Hand- und Maschinenarbeit. Was ein artiste industriel ist, wurde also, so scheint es, um 1900 anders erklärungsbedürftig und musste dementsprechend als Konzept neu gefüllt werden.[11] Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick darauf, was Gallés Objekte selbst über ihre Gemachtheit aussagen, aber auch, was in anderen Bild- und Textquellen über ihre Herstellung berichtet wird.

Wenn ich im Folgenden versuchen möchte, diesen oft in sich divergierenden Produktionsszenarien von Glaskunst um 1900 am Beispiel Gallés nachzugehen, so ist damit nicht so sehr das Ansinnen verbunden, die sogenannte »Hinterbühne der Kunstwelt« auszuleuchten, um mit Franz Schultheiß zu sprechen,[12] und all denen, die eigentlich die Werke Gallés geschaffen haben, zu ihrem Recht zu verhelfen. Nur jene bis dato zumeist unsichtbare, von anonymer Hand ausgeführte Arbeit sichtbar machen zu wollen, greift meiner Ansicht nach zu kurz.[13] Stattdessen interessiert mich, wann welches Bild künstlerischer Arbeit evoziert wird und warum. Im Fall von Gallé ergibt sich daraus, so möchte ich mit diesem Beitrag gerne aufzeigen, auch eine Vorgeschichte jenes Kreativitätsdispositivs, das Andreas Reckwitz für unsere Gegenwart als ein gesamtgesellschaftlich dominantes kulturelles Modell beschrieben hat.[14] Reckwitz hebt hervor, dass der Kunst, dem Künstlerischen und der Figur des Künstlers eine zentrale Bedeutung zukämen für die Genese desjenigen spätmodernen Kreativitätskomplexes, der unterschiedlichste gesellschaftliche Bereiche, allen voran die Ökonomie, zuverlässig erfasst hat.[15] Im Sinne der von Reckwitz selbst angestrebten »genealogischen Detailanalyse«[16] verspricht ein Blick auf Gallé jedoch den Umschlag von künstlerischem Nischenphänomen in eine verbindliche gesellschaftliche Ordnung genauer zu fassen: In der Figur Gallés kommen nämlich, so wird zu zeigen sein, Künstler und Industrieller auf paradigmatische Weise zusammen.

Die Logik des Originals

Im selben Jahr, in dem Prouvés Bildnis Gallés bei der Arbeit entstand, nahm dieser am Salon du Champ-de-Mars teil, um seine Werke dort der Pariser Öffentlichkeit zu präsentieren. Unter seinen insgesamt 17 Exponaten im Medium Glas befand sich eine bläulich-rosa Vase (Abb. 5), die derjenigen im Porträt von Prouvé zumindest ähnelt.[17] Sie soll zunächst genauer betrachtet werden. Die in zarten Farben gestaltete Vase trägt den Titel Les veilleuses d’automne (Die Nachtlichter des Herbstes), wie dem livret der Ausstellung zu entnehmen ist.[18] Eine gleichlautende Inschrift findet sich außerdem auf dem Bauch des Gefäßes selbst, sie ist mittig im unteren Drittel zu erkennen. Der poetisch anmutende Titel nimmt dabei offenkundig Bezug auf das florale Motiv der Vase, das Herbstzeitlose zeigt. Nicht nur der florale Dekor im unteren Teil des Gefäßes bezieht sich jedoch auf die Herbstblume, sondern auch die zartrosa Farbigkeit der Vase als solche erinnert an den charakteristischen Farbton ihrer äußeren Blütenblätter; der im oberen Teil der Vase eingesetzte Gelbton wiederum greift die hervorleuchtenden innen liegenden Staubblätter der Blüte der Colchicum autumnale ebenfalls farblich auf.

Unter technischen Gesichtspunkten betrachtet, handelt es sich bei jenem Exponat um ein hochkomplexes Gebilde. Der eigentliche Gefäßkörper besteht aus Klarglas mit verstreuten Einschlüssen in Braun und Dunkelblau, das zweifach farbig überfangen ist, nämlich in Hellblau und Rosa. Hinzu kommen partielle Aufschmelzungen in besagtem dunkleren Gelbton sowie der ebenfalls bereits angesprochene, als Hochschnitt realisierte Blumendekor in der unteren Hälfte der Vase. Durch die kunstvolle Schichtung des unterschiedlich farbigen Glases mit seinen zarten Übergängen entsteht eine Oberfläche von transluzider Qualität und stark ausgeprägter Tiefenwirkung – ganz so, als würde man die Herbstzeitlosen durch eine sich lichtende Wand aus Herbstnebel hindurch wahrnehmen. Auch wenn die Besucher:innen des Salons wohl kaum die Einzelheiten des komplexen Verfahrens benennen konnten, dürfte ihnen der technisch innovative Charakter der Gallé-Gläser sehr wohl bewusst gewesen sein. Zum einen hatte Gallé selbst zu verschiedenen Gelegenheiten neue technische Errungenschaften seiner Glaskunst in kleinen Heften propagiert und für eine breitere Öffentlichkeit verständlich aufbereitet. So stellte er in einer zur Weltausstellung 1889 entstandenen Broschüre neben den jüngsten materialtechnischen Erfindungen aus dem Hause Gallé besonders seine langjährige Vorreiterrolle als technischer Neuerer heraus, betonend, dass er bereits 1878 unter dem Namen clair-de-lune ein neues Verfahren zur Farbgestaltung von Gläsern entwickelt habe, das seitdem in Frankreich, England und Deutschland angewandt würde.[19] Aber auch zum besagten Salon-Auftritt 1892 erschien ein aus Notizen Gallés kompilierter Artikel in der Revue des Arts décoratifs, in dem für die Mehrheit der Exponate die technischen Gegebenheiten zumindest knapp erläutert wurden, wenn auch eher die Wirkungsweise jener Techniken im Vordergrund stand: Dort führt Gallé beispielsweise aus, dass die der Haut der Lilienknolle ähnelnde Materialität und Farbigkeit des Glases im Fall seines im Salon präsentierten Gefäßes Bulbe de lis »einer metallischen Reaktion« zu verdanken seien.[20] Zum anderen dürfte schon der Blick auf die Exponate anderer Glas- und Keramikkünstler im Salon genügt haben, um ex negativo Gallés Innovationskraft visuell hervorzuheben: Kein anderer Ausstellender war mit so vielfältig gestalteten Exponaten vertreten – schon das schiere Spektrum der Farbund Oberflächengestaltungen stellte Gallés technische Virtuosität eindrucksvoll zur Schau.[21]

5 Émile Gallé, Les veilleuses d’automne, 1891, Klarglas mit vertreuten Einschlüssen in Braun und Dunkelblau, zweifach überfangen in Hellblau und Opakrosa, H 21,3 cm, Dm (Mündung) 8,0 cm. Paris, Musée d’Orsay
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Émile Gallé, Les veilleuses d’automne, 1891, Klarglas mit vertreuten Einschlüssen in Braun und Dunkelblau, zweifach überfangen in Hellblau und Opakrosa, H 21,3 cm, Dm (Mündung) 8,0 cm. Paris, Musée d’Orsay

Der kunstvollen Schichtung des Materials Glas im Fall der Veilleuses d’automne ist es auch zu verdanken, dass die Wahrnehmung bei der Betrachtung des Objektes changiert zwischen dem gegenständlichen Blütenmotiv und dem abstrakten Spiel der Farben und Formen. Wenn sich etwa in der unteren Vasenhälfte die Blütenform und die dunklen, wie hingeworfen aussehenden Einschlüsse optisch ineinanderschieben (Abb. 5; untere Mitte rechts), entsteht dank der ikonografischen Vagheit ein Spielraum für Assoziationen unterschiedlichster Art, die sich erst im Akt der Rezeption realisieren können.[22] Dass Gallés Vase gezielt auf die Kraft der Andeutung und der Suggestion setzt, wird mit Blick auf die gelbe, klecksartige Form auf der Vasenwand noch anschaulicher, gilt doch seit Leonardo der Fleck als Inbegriff der Potenzialität der Form – eine Lesart, die 1894 durch Paul Valéry eine prominente Aktualisierung erfahren sollte.[23] Solcherlei unklare oder erst im Entstehen begriffene Formen könnten überhaupt erst durch die Betrachter:innen vollendet werden, so die in den 1880er und 1890er Jahren verbreitete Auffassung. Auch die Kritik griff im Übrigen sofort auf den Begriff der Suggestion zurück, um Gallés 1892 im Salon gezeigte Glasobjekte zu beschreiben – die Rede ist von den »multiples suggestions«,[24] die für diese rätselhaften und mitteilsamen Gläser Gallés so charakteristisch seien. Für dieses Spiel mit der Imagination der Betrachter:innen kommt den Betitelungen der Gallé-Arbeiten eine wichtige Rolle zu, da sie gewissermaßen den breiteren Deutungshorizont schaffen, in dem die Objekte wahrgenommen werden können. Auch in der sorgfältigen Formulierung von Werktiteln befand Gallé sich demnach mindestens auf der Höhe der künstlerischen und ästhetischen Praxis seiner Zeit, etablierte sich die Betitelung von Kunstwerken doch gerade erst als werkkonstituierendes Element.[25]

Gallés klangvolle Titel, die zumeist – wie im Fall der Veilleuses d’automne – auf den Glasobjekten sogar direkt als Inschrift angebracht sind, erfüllen dabei noch eine andere Funktion, indem sie nämlich Glaskunst und Dichtung in ein besonderes Verhältnis der Nähe zueinander bringen. Wirft man einen Blick auf die gewählten Bezeichnungen der übrigen Exponate Gallés im Salon von 1892, wird deutlich, dass er nicht nur in den meisten Fällen seine Titel selbst gerne poetisch-andeutungsreich hielt, sondern darüber hinaus zwei Vasen in Gänze als Auseinandersetzung mit dem Werk zweier großer Dichter gestaltete – Sur un thème de Shakespeare lautet der Titel des einen, Sur un thème de Baudelaire derjenige des anderen Glasobjekts.[26] Ohne auf Gallés Baudelaire-Flacon an dieser Stelle im Einzelnen eingehen zu können, das Zeilen aus dem Gedicht L’homme et la mer aus den Fleurs du mal aufgreift, veranschaulicht allein die ebenfalls im livret publizierte gezeichnete Wiedergabe des Objektes, dass Gallé seine Baudelaire-Hommage keinesfalls illustrativ begriff, sondern, wie der Titel bereits ankündigt, als eine eigenständige Variation auf ein Thema, für die Baudelaires Verse als Ausgangspunkt dienten.[27]

Zum Einsatz von Text in Form von Inschriften auf seinen Objekten, die für Gallé charakteristisch bleiben sollten, äußerte er sich 1898 anlässlich einer späteren Salonbeteiligung folgendermaßen:

Ich behalte in der Tat, ob man sich darüber beschweren möge oder nicht, – wie die Künstler des Mittelalters, die sich auf den Glauben und auf Ideen stützten, – mein Vorgehen bei, Texte auf meine Vasen zu applizieren, wie ich es nenne, um meine Käufer durch Inschriften zu erbauen. Warum sollte man dem Dekorateur das Libretto verweigern, durch das sich der Musik-Komponist zweifelsohne inspirieren lassen kann?[28]

Die Poesie tritt hier also in eine Art dienende Funktion, sie firmiert lediglich als Inspirationsquelle für den Glaskünstler, ganz so, wie ein Libretto den Komponisten eines Musikstückes anzuregen vermöge, so der etwas idiosynkratische und vor allem instrumentelle Vergleich Gallés. Dieser Vergleich mit der Musik kommt nicht von ungefähr, galt sie doch als die der Suggestion zuträglichste Kunst.[29] So scheint es nur konsequent, dass auch der ›Glas-Komponist‹ Gallé in erster Linie die programmatische Nähe zur Klangkunst suchte. Sein doppelter Rekurs auf Dichtung und Musik macht darüber hinaus unmissverständlich deutlich, dass er für seine Glas-Objekte ähnliche Weihen beanspruchte wie diejenigen, die den Werken der sogenannten freien Künste traditionell zukamen.[30]

So sehr sich Gallé auf der Höhe des ästhetischen Diskurses seiner Zeit bewegte, wie sein hier skizziertes Bespielen der Klaviatur der Wertschätzung des Zufälligen und des Suggestiven nahelegt, so sehr mag es auf den ersten Blick verwundern, dass der Glaskünstler erst im Vorjahr, also 1891, erstmalig am Salon du Champde-Mars teilgenommen hatte. Der Grund dafür ist, dass den sogenannten angewandten Künsten die Teilnahme an den beiden Salons der Hauptstadt bis dahin zumindest offiziell verwehrt gewesen war.[31] In Konkurrenz zum etablierten Salon des Champs-Elisées gegründet, öffnete sich der 1890 von einer neuen Künstlerorganisation, der Société nationale des beaux-arts, ins Leben gerufene Salon du Champ-de-Mars schneller den arts décoratifs und ließ für seine Ausstellung im Jahr 1892 – also genau in jenem Jahr, in dem Gallé mit den Veilleuses d’automne und anderen Exponaten vertreten war – erstmals offiziell eine neue Objektgruppe neben den etablierten Kategorien der Malerei, Skulptur und Grafik zu, die unter dem Begriff »objets d’art« gefasst wurde. Auch das zugehörige livret führte nun eine entsprechende vierte Rubrik ein.[32] Wenn es auch im Vorjahr schon Bemühungen um die Teilnahme von Ausstellenden aus dem Bereich der arts décoratifs auf dem Champ-de-Mars gegeben hatte, in deren Zuge auch Gallé, wenn auch eher halbherzig, mit einer Handvoll Exponaten vertreten war,[33] so fällt doch auf, dass die betreffenden Künstler:innen 1891 noch nicht namentlich im Katalog aufgeführt wurden.[34] Dies ist erst mit der Ausstellung 1892 der Fall. Gallé spricht von der Aufnahme der Vertreter:innen der arts décoratifs in die Reihen der offiziellen Salon-Künstler:innen in einem Telegramm im selben Jahr enthusiastisch von einem noch jungen Sieg, »cette jeune victoire«,[35] der sich für die Beteiligten offenkundig noch alles andere als selbstverständlich ausnahm. Mit der Einführung der neuen Kategorie wurde den arts décoratifs offiziell ein Platz unter den im Salon vertretenen Künsten eingeräumt, was ihre Verfechter:innen als Triumph einer wiedervereinten ars una deuteten.[36] Wie also nutzte Gallé die sich ihm nun bietende Bühne des Salons? Und wie füllte er die neu etablierte Kategorie des objet d’art für sich?

Kehren wir noch einmal für einen Moment zu den Veilleuses d’automne (Abb. 5) zurück. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Gallé mit seinem Glasobjekt einen Anspruch verband, der über einen rein dekorativen Charakter klar hinausgeht. Vielmehr ging es ihm um die intellektuell-poetische Durchdringung eines Themas, die sich, angestoßen durch die sinnlichen Gegebenheiten des Objekts, im Akt der Rezeption zu Ideen und Metaphern verdichtet und damit den zeitgenössischen Anforderungen an ein Kunstwerk im starken Sinne genügen konnte. Dieser Anspruch wird mit Nachdruck unterstrichen durch Gallés Freund und ›Hausinterpret‹ Roger Marx, wenn dieser in einer Besprechung in der Revue encyclopédique über die Exponate im Salon von 1892 schreibt:

Herr Gallé ist nicht einfach der Bearbeiter der Materie, derjenige, der sie mit unendlichen Reizen ausstattet; er will, dass sie zum Geist spricht und zu ausgiebigen Träumereien einlädt, er will sie vielsagend und bis zum Äußersten suggestiv gestalten.[37]

Für diese programmatische Setzung kommt dem Themenfeld der Natur und der naturgleichen Schöpfung eine herausgehobene Position zu. Mit seiner ausgestellten Schlichtheit, die auch als Gegenentwurf zu historistischen Gestaltungsidealen der Zeit aufgefasst werden kann, scheint das Objekt selbst zu beanspruchen, naturgleich geschaffen zu sein. Das bereits angesprochene Motiv des safrangelben Flecks insbesondere legt nahe, man wohne als Betrachter:innen einem wahrhaft natürlichen Schöpfungsmoment, nämlich der Entstehung jener Formen in actu, bei. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass sich Gallé ausgiebig etwa mit Ernst Haeckel und Louis Pasteur befasst hat, dem zu Ehren er eine Dedikationsvase gestaltete, die im darauffolgenden Salon gezeigt wurde.[38] Auch die Veilleuses d’automne bedienen eine ontogenetische Ästhetik, wenn man so will.

Zugleich lässt sich jener Fleck aber auch als eine gestische Markierung deuten, die auf ihren Autor Gallé zurückverweist, indem nämlich ein malerisches Vorgehen bei der Herstellung suggeriert wird – als habe Gallé selbst mit lockerem Pinsel den gelben Akzent auf der Vasenwand platziert. In der Wirkung setzt das Glasobjekt folglich auch auf eine Form der Eigenhändigkeit, die durch die Signatur zusätzlich unterstützt wird: »en sept.bre 1891 Emile Gallé fec.t EG«, ist dort zu lesen.[39] Die präzise zeitliche Angabe verstärkt noch die auktoriale Markierung und lädt dazu ein, sich vorzustellen, wie Gallé – persönlich, versteht sich – mit der Fertigstellung dieses einen kunstvollen Objekts im September des vergangenen Jahres befasst war.[40] Interessanterweise erfüllt Gallé damit auf das Genaueste diejenige Anforderung, die an Exponate der neuen Kategorie objets d’art im Vorfeld gestellt worden war: Diese sollten signiert sein und von der Hand eines auf sich allein gestellten, für sich arbeitenden Künstlers stammen – also nicht etwa aus einer Fabrik oder Manufaktur.[41] Die Organisator:innen des Salon du Champ-de-Mars betreiben damit eine systematische Einpassung der objets d’art in ein Schema der Hochkunst, das einer individuellen, klar zuschreibbaren Autorschaft verpflichtet ist. Gallé bediente dieses Schema virtuos, indem er, so lässt sich schließen, seine ›Kunst der Suggestion‹ auf das Feld der (vermeintlichen) Entstehung der Objekte ausdehnte. Dabei kam Prouvés Porträt des Künstlers bei der Arbeit (Abb. 1) eine tragende Rolle zu, wie sich nun zeigen wird.

Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Aufnahme der arts décoratifs in den Salon wird nämlich deutlich, dass Prouvé den Glaskünstler genau so darstellt, wie sich Gallé gerne im Kontext des Salons präsentieren wollte: Es ist Gallé selbst, der sich hier, es wurde schon erwähnt, hingebungsvoll einem Kunstwerk von seiner Hand widmet. Fast könnte man meinen, das Glasobjekt in Gänze sei hinter dem Schreibtisch des Meisters entstanden und nicht etwa am Brennofen und als Resultat der Arbeit vieler. Dabei trägt der gewählte Moment der Inspiration wesentlich dazu bei, Gallé als Künstler zu konturieren, wird er doch als Maler bzw. Zeichner und Denker zugleich vorgestellt und nicht etwa beim Bedienen einer Schleifmaschine zur Nachbearbeitung des Glases oder bei einer vergleichbaren handwerklichen, technischen oder gar mechanischen Tätigkeit.[42]

Was der Maler ins Bild setzt, ist eine Schöpfungsszene im starken Sinne, bei der weniger das konkrete Machen als vielmehr die geistige Hervorbringung im Vordergrund stehen.[43] So nimmt es nicht wunder, dass die Hand des Meisters in Prouvés gemalter Glaskunst-Szene bezeichnenderweise innehält, während der Künstler das Objekt mit den Augen fixiert. Unter seinem Blick erst scheint die Materie eigentlich Form anzunehmen: Das geschaffene Objekt resultiert mehr aus der Berührung des Geistes als aus derjenigen der Hand. Die Betrachter:innen des Gemäldes wohnen jenem magischen Moment der Formwerdung bei, die Gallé eins sein lässt mit der ihn umgebenden Natur, als deren Zentrum er allerdings zugleich firmiert. So unterstreichen die kreisförmigen, aus einem hellen Zentrum zum dunklen Rand hin ausstrahlenden Strukturen des Hintergrundes, die um Gallés Kopf herum organisiert zu sein scheinen und den Blick des Künstlers auf das Objekt in seiner Hand zusätzlich rahmen, dass Gallé gewissermaßen im Zentrum seiner Schöpfungen sitzt und als alter deus allein durch seinen intensiven Blick und sein Wollen (und eben weniger durch seine Hand) die Dinge in ihre Existenz treten lässt.[44] Der flirrend-fleckige Hintergrund des Gemäldes bildet damit eine Art Echoraum für das Sujet der Formwerdung als solches und verstärkt mit seiner Lichtregie zugleich den Fokus auf die zentrale Figur Gallés als dem Hervorbringer dieser Formen. Hinzu kommt, dass der Fond mit seiner fleckigen Struktur auch eine zentrale ästhetische Strategie von Gallés Vasen aufgreift, wie anhand des gezielten Einsatzes von Flecken und unregelmäßigen, zufällig anmutenden Formen im Fall der Veilleuses d’automne deutlich wurde. Auch dass die Vase in Gallés Hand der erst kurz zuvor fertiggestellten Vase mit den Herbstzeitlosen ähnelt, kommt sicherlich nicht von ungefähr. Vielmehr setzt Prouvé präzise die jüngste Produktion Gallés in seinem Gemälde in Szene. Es erstaunt daher nicht, dass sich Gallé begeistert über Prouvés Porträt äußerte und einem Briefpartner beflissen versprach, diesem sobald als möglich eine fotografische Reproduktion des Gemäldes zukommen zu lassen.[45]

Als im nächsten Salon auf dem Champ-de-Mars Prouvé sein Gemälde 1893 ebenfalls ausstellte, kamen Gallés Objekte und ihr gemaltes Produktionsszenario von der Hand Prouvés auch für die Besucher:innen des Salons an einem Ort zusammen. Das Gemälde konnte sodann eine konkrete Funktion in der Ausstellung erfüllen, und zwar die einer gemalten Erläuterung der Genese von Gallés Objekten – oder wie man sich diese vorzustellen hat. Wie gut Gemälde und Objekte in ihrer gemeinsamen Präsentation ineinandergriffen, lässt sich auch daran ablesen, dass Prouvés Bildnis von Kritiker:innen als treffendes Porträt Gallés und seiner Tätigkeit aufgenommen und etwa mit den Worten »sehr klar, sehr natürlich« gepriesen wurde.[46] Dass Gallé diese gemalte Erläuterung im Kontext des Salons mehr als willkommen war, wird deutlich, wenn man sich seine parallel ausgestellten Glasobjekte anschaut. Darunter findet sich nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach auch die auffällige hohe blaue Vase mit Orchideen- und Libellendekor, die im Vordergrund von Prouvés Bildnis Gallés zu sehen ist.[47] Gallé selbst arbeitete also, wie anzunehmen ist, auf eine gezielte Doppelung von gemaltem und realem Objekt in der Ausstellungssituation hin, um den engen Bezug zwischen Gemälde und den gezeigten Exponaten zusätzlich zu unterstreichen und so eine Zwangsläufigkeit zu erzeugen, die die Glasobjekte als so hergestellt wie im Gemälde gezeigt erscheinen lässt.

Noch im selben Jahr erschien zudem ein Artikel in der Revue encyclopédique, der eine einzelne Arbeit Gallés unter dem Titel »Genèse d’une oeuvre d’art« (Genese eines Kunstwerks) besprach – und dazu Prouvés Porträt von Gallé bei der Arbeit abbildete (Abb. 6).[48] Über den unmittelbaren Ausstellungszusammenhang hinaus verschmolzen spätestens zu diesem Zeitpunkt Prouvés gemaltes Produktionsszenario und die Objekte Gallés. Nicht zuletzt durch seine mediale Vervielfältigung prägte Prouvés Gemälde die landläufige Vorstellung von der Entstehung der Werke Gallés also nachhaltig. Wie dieses Bild eines zurückgezogen in seinem Atelier für sich arbeitenden Glaskünstlers zu dieser Zeit genau funktionierte und warum es offenkundig so attraktiv war, sich den Schaffensprozess genau so vorzustellen, sei für den Moment dahingestellt. Auch den Zeitgenoss:innen Gallés dürfte bekannt gewesen sein, dass Gegenstände aus Glas in der Regel nicht von einer Hand produziert werden und dass es also schon auf der Ebene des Materials eine Reibung gibt zwischen ihrer Bearbeitung und deren Inszenierung. Nichtsdestotrotz betrieb Gallé, ausgehend vom Salon und den sich dort bietenden Möglichkeiten und unterstützt durch Prouvé, eine überaus erfolgreiche Mimikry an einen an Genievorstellungen orientierten Künstlertypus, der traditionell Malerei und Skulptur vorbehalten war und für den für gewöhnlich ein direktes, geradezu intimes Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung angenommen wurde.

Das Prinzip der Serie

Wie die eingangs thematisierte Fotografie des Ätz-Saales der Frauen (Abb. 2) anschaulich macht, bestand Gallés Glasproduktion keinesfalls nur aus den im Salon gezeigten besonders exquisiten Objekten. So offenbart ein Blick auf den im Bildvordergrund zu sehenden Arbeitstisch im Frauensaal mehrere kleinformatige Vasen, die nach Größe und Form geordnet zu Typen gruppiert sind und auf Tabletts darauf warten, zum nächsten Bearbeitungsschritt an einen anderen Arbeitsplatz getragen zu werden. Tatsächlich nahm die serielle Produktion bei Gallé mindestens seit den 1880er Jahren eine wichtige Rolle ein – wenn auch zunächst nicht vor Ort in Nancy.

6 Reproduktion des Bildnisses Gallés von Prouvé in Roger Marx, Genèse d’une oeuvre d’art, in: Revue encyclopédique, 1893, Nr. 59, Sp. 482–483
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Reproduktion des Bildnisses Gallés von Prouvé in Roger Marx, Genèse d’une oeuvre d’art, in: Revue encyclopédique, 1893, Nr. 59, Sp. 482–483

Schon damals nämlich ließ Gallé einen Großteil seiner Glasproduktion in der etwa 100 km entfernten und vor allem seit 1871 jenseits der deutsch-französischen Grenze liegenden Glashütte in Meisenthal in Nordlothringen fertigen.[49] So kann davon ausgegangen werden, dass Gallé über einen langen Zeitraum hinweg sämtliche seiner Glasobjekte in Meisenthal blasen ließ. Auch die Emailverzierung dürfte überwiegend jenseits der Grenze vorgenommen worden sein, während die Verzierung im Medium Glasschliff etc. wohl teils in Meisenthal und teils in Nancy auf Gallés Gelände in der Avenue de la Garenne von statten ging.[50] Die Arbeitsabläufe sind nicht immer ganz klar zu rekonstruieren und Gallé scheint wenig Interesse daran gehabt zu haben, diese offenzulegen: Obgleich sich neben den Ateliers zur Kaltbearbeitung des Glases auch ein Entwurfsatelier in Nancy befand, wurden einige Objekte für Gallé sogar in Meisenthal entworfen, wie Brigitte Klesse aufzeigen konnte.[51] Gallé schloss 1885 eigens einen Geheimvertrag, der die Auftragserteilung an die Glashütte regelte und der neben absoluter Diskretion auch festlegte, dass Meisenthal nicht für andere Kund:innen nach den in Nancy entstandenen Entwürfen Gläser herstellen lassen durfte.[52] In welchem Umfang Gallé in Meisenthal produzieren ließ, kann nicht genau beziffert werden. Ein zufällig erhaltenes Blatt aus einem Abrechnungsbuch belegt allerdings, dass die Mitarbeiter:innen der Meisenthaler Hütte schon 1881 an etwa 20 Tagen pro Monat für Gallé tätig waren, also vermutlich zwei Drittel ihrer gesamten monatlichen Arbeitszeit der Herstellung von Gallé-Erzeugnissen widmeten.[53] Ein Auszug aus dem Verzeichnis ausländischer Gäste, das in Meisenthal geführt wurde, macht zudem deutlich, dass Gallé hier als »Großhändler« betitelt wurde, was der Art und Weise der Zusammenarbeit zwischen Meisenthal und Gallé eine interessante Nuance verleiht, wird Gallé doch, zumindest aus Meisenthaler Perspektive, nicht etwa als Ideen- und Auftraggeber adressiert, sondern als jemand, der primär mit der Distribution der Produkte befasst ist.[54]

7 Mitarbeiter:innen der Glashütte Meisenthal, um 1890–1892, Fotografie
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Mitarbeiter:innen der Glashütte Meisenthal, um 1890–1892, Fotografie

Auf einem Gruppenfoto der Hütten-Mitarbeiter:innen aus Meisenthal (Abb. 7), das zwischen 1890 bis 1892 entstand, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Gallés Salonauftritten, halten gleich mehrere der Arbeiter:innen nicht ohne Stolz, so scheint es, Gallé-Vasen in den Händen – und zwar besonders große, stattliche Exemplare. Betrachtet man dabei die Form der Vase in der Hand des zweiten Mannes von rechts in der mittleren Reihe genauer, fällt auf, dass sie in ihrer prägnanten hohen, sich in der Mitte verjüngenden Form der blauen Vase mit Orchideendekor in Prouvés Gemälde bzw. dem entsprechenden Exponat im Salon von 1893 stark ähnelt, obwohl sich die beiden Vasen in ihrer Tonalität etwas zu unterscheiden scheinen, soweit das anhand der Schwarzweißfotografie auszumachen ist.[55] Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass Gallé die aufwendigen Schaustücke in seinen Werkstätten in Nancy dekorieren und damit ›vollenden‹ ließ, weist die Ähnlichkeit der beiden Vasen mindestens auf die ausgesprochen enge Kooperation der beiden Produktionsstätten sowie auf eine auch räumlich stark verteilte Mitautorschaft am Produktionsprozess hin.[56] Anders als vermutlich die besagte blaue Orchideenvase wurde die gesamte serielle Produktion von einfachem Gebrauchsgut bis zu kostbaren Kunstgläsern unterschiedlichster Größe vollständig in Meisenthal gefertigt.[57] Diese Glaserzeugnisse gelangen also zu keinem Zeitpunkt auch nur in die Nähe des bekannten Glaskünstlers: Gallé dürfte sie, bevor sie verkauft wurden, nicht einmal zu Gesicht bekommen haben.[58] Auch für diese große Gruppe der ganz in Meisenthal hergestellten Objekte gilt allerdings, dass sie – passend zum abgeschlossenen Geheimvertrag – allesamt die Signatur »E. Gallé Nancy« tragen.[59] Auch sie suggerieren also, von der Hand Gallés zu stammen und vor allem auch in Nancy gefertigt worden zu sein, was nicht nur den Nachvollzug, welche Objekte an welchem Ort entstanden sind, denkbar schwierig gestaltet, sondern auf eine gezielte Verunklärung der Produktionsumstände schließen lässt.[60]

8 Das Fabrikgebäude an der Avenue de la Garenne 27 in Nancy, um 1897, Fotografie
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Das Fabrikgebäude an der Avenue de la Garenne 27 in Nancy, um 1897, Fotografie

9 Gruppen von Glas-Rohlingen, um 1900, Fotografie
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Gruppen von Glas-Rohlingen, um 1900, Fotografie

Wie eingangs erwähnt, ließ Gallé 1894 einen Hüttenneubau in Nancy errichten, so dass von diesem Moment an tatsächlich sämtliche GalléObjekte, auch die großen Serien, von der Ofenarbeit bis zur finalen Dekoration unter einem Dach entstanden.[61] Eine historische Aufnahme (Abb. 8) von etwa 1897 zeigt das schon ältere, 1885 errichtete Fabrikgebäude Gallés in der Avenue de la Garenne in Nancy, das auch seine Holz- und Keramikwerkstätten beherbergte. Angeschnitten im rechten Vordergrund ist allerdings der Anbau von 1894 für die Glasproduktion zu erkennen.[62] Im ersten und zweiten Stock dieses Gebäude-Trakts waren nun auch die beiden schon mehrfach angesprochenen Ätz-Säle (Abb. 2, 3) untergebracht, während im Erdgeschoss Glasschliff und Retusche praktiziert wurden. Die eigentliche neu errichtete Glashütte wiederum war in einem gegenüber liegenden Gebäude situiert.[63] Die Neustrukturierung der Fertigung führte mindestens zu einer Verdoppelung der Anzahl der Mitarbeiter:innen im Laufe der 1890er Jahre und zu einer gewaltigen Steigerung der Produktion, wie ein Blick auf die zahlreichen Glas-Rohlinge, die in der Fotografie (Abb. 9) ihrer Weiterverarbeitung harren, anschaulich machen kann. Genaue Zahlen sind schwer abzuschätzen, da es keinen jährlich publizierten Katalog gab; man geht aber inzwischen für dem Zeitraum von 1894 bis 1920 von durchschnittlich beinahe 18.000 gefertigten Glasobjekten pro Jahr aus.[64]

Was mich an dieser doch eher komplizierten Bau- und Neubaugeschichte der Manufaktur Gallé sowie an der Auflösung der Zusammenarbeit mit der Glashütte Meisenthal interessiert, ist vor allem die zeitliche Koinzidenz mit Gallés Salonauftritten: Ich meine nämlich, dass es kein Zufall ist, wenn die Produktionssteigerung Gallés und der Ausbau der seriellen Produktion genau zusammenfallen mit seiner zusehenden Profilierung im Salon als Künstler, die sich ja ebenfalls in der ersten Hälfte der 1890er Jahre vollzieht, wie gezeigt wurde. Beides, die Logik des Einzelstücks und das Prinzip der Serie, sind im Fall von Gallés Produktion auf das Engste miteinander verzahnt.

10 Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, 1892, Klarglas mit violettem Überfang und metallischen Einschlüssen, H 11,2 cm, Dm (Mündung) 7,9 cm. Paris, Musée d’Orsay
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Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, 1892, Klarglas mit violettem Überfang und metallischen Einschlüssen, H 11,2 cm, Dm (Mündung) 7,9 cm. Paris, Musée d’Orsay

Zunächst fällt auf, dass Gallé mit wesentlich feineren Binnendifferenzierungen zwischen Einzelproduktion und serieller Herstellung arbeitete als es die Begrifflichkeit von Einzelstück und Serie nahelegt. So können insgesamt fünf Objektgruppen unterschieden werden, die sich im Aufwand der Bearbeitung, aber auch in der Auflagenhöhe unterscheiden. Ein sogenanntes Einzelstück etwa, »pièce unique« genannt, wurde dennoch in drei- bis siebenfacher Ausfertigung hergestellt, wobei es gängiger Praxis entsprach, das schönste Exemplar auszuwählen und die anderen unter Hinzufügung kleiner, oberflächlicher Variationen zu »études« zu erklären. Die ebenfalls aufwendig gestalteten Arbeiten im sogenannten »Grand Genre« existieren in der Regel schon in bis zu dreißigfacher Ausfertigung, wohingegen die Kategorie darunter (die sogenannten »demi-riche«) bereits in Stückzahlen bis 250 Exemplaren hergestellt wurden. Für die eigentliche Massenware gibt es bezeichnenderweise keine solche Zahlen bzw. wohl auch keine Begrenzung der Auflage.[65] Unabhängig von der Höhe der Auflage jedoch durchliefen alle Objekte mehrere Ateliers. Wenn sich auch die Art ihrer Bearbeitung im Zeitaufwand stark unterschied (etwa durch den Einsatz chemischer Ätzung oder des viel arbeitsintensiveren Glasschliffs), ähnelte sich ihre Produktionsweise doch stark. Durch den eingangs beschriebenen arbeitsteiligen Prozess war diese in jedem Fall seriell. Hinzu kommt, dass Einzelstück und Serie in wirtschaftlicher und oft auch in gestalterischer Hinsicht eng aufeinander bezogen waren. Es ist nämlich die Massenproduktion, die die extrem aufwendigen Einzelstücke gegenfinanzierte, wie Bernd Hakenjos aufzeigen konnte.[66] Während die zahllosen, sich leicht verkaufenden kleinen Objekte das finanzielle Rückgrat von Gallés Unternehmen bildeten, fungierten die öffentlich ausgestellten Einzelstücke als ihr künstlerisches Aushängeschild. Für dieses Ineinandergreifen sei nun ein letztes Beispiel angeführt.

11 Formprofil La soldanelle, Aufriss zweier Vasen in Form von Fruchtkapseln des Alpenglöckchens, 1892, Tusche auf Papier, 20,0 × 10,5 cm. Corning, Corning Museum of Glass, Collection of the Rakow Research Library
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Formprofil La soldanelle, Aufriss zweier Vasen in Form von Fruchtkapseln des Alpenglöckchens, 1892, Tusche auf Papier, 20,0 × 10,5 cm. Corning, Corning Museum of Glass, Collection of the Rakow Research Library

Im selben Salon, in dem er auch die Veilleuses d’automne (Abb. 5) ausstellte, hatte Gallé eine aufwendig gestaltete, kleine Vase namens La soldanelle des Alpes (Abb. 10) gezeigt, deren Gefäßform die Form der Fruchtkapsel des Alpenglöckchens aufgreift. Beide Vasen wurden unmittelbar nach ihrer öffentlichen Präsentation vom französischen Staat erworben und befinden sich deshalb heute im Musée d’Orsay. Anders als für die Veilleuses d’automne hat sich für La soldanelle des Alpes ein Brief Gallés vom Januar 1892 erhalten, der genaue Instruktionen enthält, wie die für den Salon bestimmte Vase in Meisenthal gestaltet werden sollte.[67] Begleitet wurde das Schreiben von einer Aufrisszeichnung (Abb. 11), die jedoch, und das ist hier nun von besonderem Interesse, gleich zwei Vasenformen entwirft: neben dem größeren Modell für den Salon noch ein etwas kleineres Exemplar mit stärker gedrungener Profillinie. Von vornherein scheint Gallé also den Auftritt der Vase im Salon ab Mai desselben Jahres vorbereitet und parallel ein weiteres, möglicherweise weniger luxuriöses Exemplar geplant zu haben, so dass davon auszugehen ist, dass er den Werbeeffekt, den das im Salon gezeigte Exponat für die serielle Produktion zeitigen wird, von Anbeginn einkalkulierte. Tatsächlich existiert eine weitere Variante der violetten Alpenglöckchen-Vase (Abb. 12) aus derselben Zeit, die zwar nicht, wie in der Aufrisszeichnung ursprünglich vorgesehen, kleiner ist als die Version aus dem Musée d’Orsay, dafür aber in der Oberflächengestaltung weit weniger aufwendig gehalten ist als das Pariser Exemplar.[68] Darüber hinaus haben sich zwei weitere, tatsächlich etwas kleinere Variationen von etwa 1889 erhalten (Abb. 13, 14), die zwar eine gänzlich andere Farb- und Oberflächenbehandlung, doch bereits die umgeschlagene Mündung mit ihren charakteristischen Zackenformen der im Salon gezeigten Vase aufweisen.[69] Wie die Reihe der vier Alpenveilchen-Vasen deutlich macht, dachte Gallé folglich auch ein vermeintliches Unikat wie das im Salon gezeigte (Abb. 10) nicht wirklich als Einzelstück: Vielmehr wurde dessen Form allmählich aus verwandten Formen entwickelt und sogleich auch in kostengünstigere Varianten ›übersetzt‹.[70]

12 Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, um 1892, Klarglas mit violettem Überfang, H 11,0 cm. Boston, Isabella Stewart Gardner Museum
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Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, um 1892, Klarglas mit violettem Überfang, H 11,0 cm. Boston, Isabella Stewart Gardner Museum

Gallés Glasobjekte sind somit allesamt eingebunden in ein kompliziertes, kaum aufzulösendes Spiel der Verunklärung des Verhältnisses von Original und Reproduktion. Zunächst einmal geben sie alle vor, es handele sich um Unikate. Dies betrifft auch die Ausführung der einzelnen Objekte, die stets einen handgefertigten bzw. von Hand bearbeiteten Charakter aufweisen sollen: Im Fall der Soldanelle des Alpes etwa wurde zwar das chemische Verfahren der Ätzung eingesetzt.[71] Gallé betonte dennoch in seinen Anweisungen an Meisenthal, die hart gravierten Ränder seien behutsam zu verschleifen, »damit sie weniger nach Säure aussehen und nicht die Wirkung von Pressglas haben.«[72] Damit ist auch eine klare Abgrenzung gegenüber der in Lothringen florierenden Pressglasproduktion impliziert, die seit den 1870 er Jahren Gefäße, Büsten und Kleinplastiken in großer Zahl hervorbrachte.[73] Diese Maxime ist selbst für die unterste Kategorie der Fabrikwaren aus dem Hause Gallé gültig, bei der sorgfältig darauf geachtet wurde, Form und Dekor so häufig zu variieren, dass jeder Eindruck von Serialität vermieden wird.[74] Aus einem Brief von 1893 geht außerdem hervor, dass Gallé bemüht war, jedes Jahr komplett neue Serien zu schaffen und die alten nicht fortzuführen (oder dies zumindest öffentlich so behauptet).[75] Gallés Glasobjekte sind zudem alle signiert, und das wohlbemerkt nicht auf eine klar dechiffrierbare Weise, aus der sich ableiten ließe, zu welcher der fünf oben angeführten Objektgruppen ein Exemplar zählt.[76] Und sie alle verbindet dank der beschriebenen Motivwanderungen durch die verschiedenen Objektklassen ein künstlerischer Anspruch: Im Fall des Alpenveilchens etwa können auch die Käufer:innen der schlichter gehaltenen bzw. etwas kleineren Vasen für sich reklamieren, die Gallé-Vase aus dem diesjährigen Salon erworben zu haben – oder zumindest beinahe.

13 Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, 1889, Klarglas mit Überfang, H 9,5 cm, Dm (Bauch) 7,5 cm. Nancy, Musée de l’École de Nancy
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Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, 1889, Klarglas mit Überfang, H 9,5 cm, Dm (Bauch) 7,5 cm. Nancy, Musée de l’École de Nancy

14 Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, um 1889, Klarglas mit Überfang, H 9,2 cm, Dm (Bauch) 8 cm. Nancy, Musée de l’École de Nancy
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Émile Gallé, La soldanelle des Alpes, um 1889, Klarglas mit Überfang, H 9,2 cm, Dm (Bauch) 8 cm. Nancy, Musée de l’École de Nancy

Durch diese vielgestaltige Strategie einer Multiplikation des Originals reproduzieren sie alle vor allem eines, und zwar den Namen Gallé. An dieser Stelle nun lässt sich auch genauer fassen, warum das im Salon eingeführte Bild Gallés als Künstler so erfolgreich war: Sobald man selbst eine Gallé-Vase sein Eigen nennen durfte (und mochte diese auch noch so klein sein), fragte wohl niemand mehr so genau nach den Umständen ihrer Entstehung – Hauptsache, man war in Besitz eines ›echten Gallé‹. War der Name erst einmal etabliert, trug auch er zur Aufwertung der Objekte bei und verschleierte ihren seriellen Charakter. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Gallés Ehefrau Henriette in einem Brief darauf hinweist, dass gerade bei der seriellen Produktion der Name Gallé entscheidend sei: Kund:innen aus der Provinz griffen mit Vorliebe auf »einen Gallé« als Garant des guten Geschmacks zurück und wollten sich der Autorschaft Gallés auf dem Objekt qua Signatur versichern können, wohingegen echte Kenner:innen nicht auf die Signatur angewiesen seien, um die Gallé-Objekte wertzuschätzen.[77] Nichtsdestotrotz sind alle Glaserzeugnisse mit dem Namen Gallé versehen und fördern so dessen weitere Verbreitung wie dieser umgekehrt den Kunstwerk-Charakter jedes einzelnen so gekennzeichneten Objekts unterstreicht.

Gallés erweiterter Künstlerkörper

Die Tatsache, dass auch hinter dem Einzelstück Gallés in gleich mehrfacher Hinsicht das Prinzip der Serie steht, wurde im Kontext des Salons eher verborgen, wie im ersten Teil dieses Beitrages ausgeführt wurde. Im Zusammenhang mit einer anderen Ausstellung allerdings wählte der Glaskünstler ein gänzlich anderes Vorgehen: Bei der Weltausstellung 1889 nur wenige Jahre vorher entschied sich Gallé nämlich in der Abteilung für Kristall und Glas ganze 300 Objekte auszustellen, darunter neben seinen Spitzenwerken auch Beispiele aus seiner seriellen Produktion, wie hier nur noch angedeutet werden kann.[78] Vollmundig formulierte er in einer zugehörigen Broschüre:

[…] ich wollte die Kunst zugänglich machen, auf eine Weise, dass eine weniger eingeschränkte Gruppe von geistreichen Personen anspruchsvollere Werke genießen kann […]. Ich trete vor Sie als ein Popularisierer von Kunst.[79]

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Gallé dieses öffentliche Bekenntnis zur Serialität seiner Produktion im Kontext der Weltausstellung vornimmt, die sich selbst als Leistungsschau in erster Linie der industriellen Fertigung begreift. In diesem Zusammenhang firmiert auch der Produktionsort in Nancy prominent im Katalog aufgeführt, wobei nahegelegt wird, dass sämtliche Glasobjekte in Gänze in Nancy in der, wie es dort heißt, »Fabrik« in der Avenue de la Garenne entstünden und nicht im lothringischen Meisenthal.[80] Und doch erscheint Gallés Auftritt dort geradezu komplementär zu den ausgesuchten, dezidiert künstlerischen Präsentationen im Salon. Der besagte artiste industriel, als der sich Gallé hier verstanden wissen wollte, hatte tatsächlich zwei Gesichter – die des Künstlers und des Fabrikanten.

Gerade die vermeintliche Versöhnung von Kunst und Industrie in der Figur Gallés ist es, die auch sein Freund Roger Marx zum Signum seiner Kunst erhob.[81] In einem postumen, Gallés Lebenswerk würdigenden Artikel von 1913 kommt dies besonders gut zur Geltung. Der Artikel, der einen Gesamtüberblick über Gallés Schaffen verspricht, beginnt einmal mehr mit einer Abbildung von Prouvés ikonischem Gemälde (Abb. 15). Anders jedoch als im Gemälde selbst bleiben im Text von Roger Marx die vielen Hände, die Gallés Arbeiten ausführen, nicht ausgespart. So ist im Artikel eine ganze Passage dem Verhältnis Gallés zu seinen Mitarbeiter:innen gewidmet. Den aus der Zusammenwirkung von Gallé und seinen Arbeiter:innen resultierenden Schaffensprozess der Glasobjekte entwirft der Text wie folgt:

Er übermittelt ihnen seine Inspiration, er haucht ihnen seinen Gedanken ein; […] und eine Einheit entsteht zwischen der ausführenden Hand und dem Gehirn des Chefs, der entwirft und Befehle erteilt.[82]

Das von Roger Marx evozierte Bild zur Beschreibung der Produktionsvorgänge im Hause Gallé ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Der Autor imaginiert hier eine Art auf die gesamte Manufaktur ausgedehnten Künstlerkörper, dessen Hände von den zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeitern gebildet werden. Damit greift er die von Karl Marx etablierte Vorstellung der Manufaktur als Körper mit den in ihr tätigen Arbeiter:innen als Körperteilen auf, die im Kapital beschrieben werden als »ein Produktionsmechanismus, dessen Organe Menschen sind«, welche wiederum gemeinsam einen »kombinierte[n] Gesamtarbeiter« formen.[83] Gallé selbst ist in der von Roger Marx formulierten künstlerischen Fassung dieses Bildes nur der Kopf des gigantischen namensgleichen Künstlerkörpers; seine Aufgabe ist es, zu entwerfen und seinen Arbeiter:innen seine »Ideen einzuhauchen« – auffallend ist auch die religiöse Grundierung der gewählten Wendung. Gallé wird damit zum Inbegriff eines an traditionellen idea- bzw. disegno-Vorstellungen ausgerichteten Künstlertypus, indem nämlich seine Ideen den entscheidenden Anteil des Werkes ausmachen und nicht etwa dessen Ausführung. Umgekehrt aber bedarf es in dieser Vorstellung eben genau der Ausführung durch die vielen helfenden Hände der Fabrik, um ein solches künstlerisches Projekt, das Inspiration und Entwurf über die Ausführung stellt, überhaupt realisieren zu können. Daraus ergibt sich eine Pointe, die letztlich zu einer genuin modernen Neuformulierung jenes Künstlertypus führt: Erst die Umsetzung einer modernen, arbeitsteiligen Produktion nämlich macht Gallé zu einem Künstler in einem starken Sinne, der selbst nur Konzept ist und sich die Hände nicht schmutzig machen muss.

Damit verschiebt sich allerdings die Kausalität auf signifikante Weise: Gallé wird in der Perspektive Roger Marx’ gerade deswegen zum Inbegriff eines Künstlers, weil er industriell fertigen lässt. So gesehen wird der artiste industriel hier also paradoxerweise zum Modell für den Künstler schlechthin. So ist es nur konsequent, dass Marx dies an anderer Stelle noch expliziter fasst, wenn er beschreibt, dass das spezifisch »moderne Genie« von Gallé (und einiger seiner Zeitgenossen) gerade darin liege, dass sie die moderne Arbeitsteilung akzeptiert hätten.[84] In dieser Denkfigur liegt, so meine ich, auch der Schlüssel für den großen Erfolg, der Gallé bis zuletzt bei seinen Zeitgenoss:innen beschieden war. Auch in ihren Augen wurde er schließlich zur Verkörperung eines zeitgemäßen Künstlers: Durch den Einsatz serieller Produktion stellte die Figur Gallé in Aussicht, der Kunst die vermeintliche Bürde zu nehmen, anachronistisch zu sein, also im sogenannten Zeitalter der Maschinen noch immer an der individuellen, händischen Ausführung festzuhalten. Ein Künstler, der nicht mehr die eigenen Hände braucht, sondern Werke durch andere herstellen lässt, erscheint in dieser Perspektive als Einlösung des Anspruchs auf Modernität per se.

Von Gallé selbst wurde diese Rolle über die Jahre hinweg immer stärker bedient. Während er, wie ich hier versucht habe aufzuzeigen, in den 1880er und 1890er Jahren sich jeweils unterschiedlicher Register je nach Kontext bediente und entweder als Industrieller oder als Künstler in Erscheinung trat, entdeckte er am Ende seiner Schaffenszeit mehr und mehr die Vorteile, beide Bereiche zusammenzuführen. Schon in den 1880er Jahren zitierte Gallé einen anderen Autor wohlwollend mit den Worten, es gelte, »die ökonomische Frage und die künstlerische Frage miteinander zu versöhnen, diese beiden Fragen, die einander bedingen«.[85] An der Realisierung des damit formulierten Vorsatzes arbeitete er Zeit seines Lebens.[86] Auffallend ist, wie verhältnismäßig spät er dies, dann jedoch immer expliziter, öffentlich verhandelte: Anlässlich der Weltausstellung im Jahr 1900 etwa wurden auch Mitarbeiter:innen Gallés ausgezeichnet.[87] Und im folgenden Jahr plante er selbst sogar eine Serie mit Porträts der Spitzenkräfte seiner Manufaktur in einer Zeitschrift zu publizieren, um diese der Öffentlichkeit vorzustellen.[88] Zu diesem Zeitpunkt konnte Gallé die Arbeit seiner Mitarbeiter:innen vermutlich deswegen sichtbar machen, weil sie hinreichend fest integrierte Elemente des großen imaginären Künstlerkörpers namens Gallé waren, um noch einmal mit Roger Marx zu sprechen.

Diese bei Roger Marx besonders gut greifbare, aber auch, wie wir gesehen haben, von Gallé selbst betriebene Ineinssetzung von genialem Künstler und genialem Industriellen kann mit Andreas Reckwitz beschrieben werden als eine Subjektform, die sowohl künstlerisch als auch unternehmerisch tätig imaginiert wird, deren Kreativität also beide Bereiche miteinander verkoppelt.[89] Die von Reckwitz in erster Linie für unsere Gegenwart formulierte These, dass seit den 1980er Jahren Kreativität hegemonial geworden sei und die Figur des Künstlers als Rollenmodell für ganze Wirtschaftszweige diene, hat jedoch eine Vorgeschichte, die zurückreicht bis zu Figuren wie Gallé, wie in diesem Beitrag deutlich geworden sein sollte. Reckwitz selbst führt die Arts and Crafts-Bewegung als einen die ästhetische Ökonomie vorbereitenden »kulturellen Experimentalraum« an, da sich hier eine Ästhetisierung des Arbeitsprozesses wie auch der Güter und ihrer Nutzer:innen andeute. Zugleich weist er auf den antiindustriellen, antikapitalistischen und antiästhetizistischen Charakter der britischen Bewegung hin,[90] weshalb Gallé und sein Umfeld möglicherweise den geeigneteren historischen Referenzpunkt darstellen.

Wenn ich hier wiederholt die Vorgänge in der Manufaktur Gallés gegen die öffentliche Inszenierung seiner künstlerischen Arbeit gestellt habe, so ist dies nicht mit dem Ansinnen verbunden, Gallé zu demaskieren und zu zeigen, wie es ›eigentlich‹ gewesen sei. Vielmehr ist es mein Versuch, die transluzide Qualität der Gallé-Objekte auch im übertragenen Sinn ernst zu nehmen. Was in ihrem Fall nämlich von vornherein durchscheint, sind nicht nur die seriellen Fertigungsvorgänge im Hause Gallé, das Ineinsfallen von Original und Wiederholung, sondern auch das Ringen um die Rolle von Kunst in einer modernen, kapitalistischen Gesellschaft sowie, drittens, eine frühe Form der Realisierung jenes kreativen Imperativs, der Kreativität und Ökonomie so eng aneinander bindet in unserer Gegenwart. Aus heutiger Perspektive betrachtet, mutet die von Gallé betriebene Praxis des Produzierenlassens mit Blick auf die Arbeitspraktiken von Künstlern wie Andy Warhol oder Olafur Eliasson, um nur zwei unter vielen anderen zu nennen, denkbar vertraut an, und lässt den Glaskünstler in gewisser Hinsicht bereits als unseren Zeitgenossen erscheinen.[91]

About the author

Léa Kuhn

Léa Kuhn ist stellvertretende Direktorin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Zuvor war sie akademische Rätin a. Z. an der LMU München und vertrat zudem von 2021 bis 2023 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der GoetheUniversität Frankfurt. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit den sich wandelnden Vorstellungen künstlerischer Arbeit in der Moderne und den Interdependenzen von künstlerischer Praxis und Kunstgeschichtsschreibung. 2020 ist ihre Dissertation Gemalte Kunstgeschichte: Bildgenealogien in der Malerei um 1800 bei Wilhelm Fink erschienen.

  1. Abbildungsnachweis: 1 © Musée de l’École de Nancy, photo: Jean-Yves Lacôte. — 2, 3 aus: Georges Lanorville, Les cristaux d’art d’Émile Gallé, in: La nature, 1. März 1913, Nr. 2075, 210. — 4, 8, 10, 11 aus: Bernd Hakenjos, Émile Gallé: Keramik, Glas und Möbel des Art Nouveau, hg. von Sigrid Barten und Hans Harder, 2 Bde., München 2012, Bd. 1, 89, 95, Bd. 2, 78, 183. — 5 bpk /RMN–Grand Palais /Jean Schormans. — 6 © Bibliothèque nationale de France, Paris, URL: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2135903/f230.item (letzter Zugriff 10. Mai 2022). — 7 aus: Brigitte Klesse, Meisenthal oder Nancy? Addenda zu Émile Gallé, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 42, 1981, 197. — 9 aus: Alastair Duncan und Georges de Bartha, Glass by Gallé, New York 1984, 139. — 12 Isabella Stewart Gardner Museum, Boston, URL: https://www.gardnermuseum.org/experience/collection/12302# (CC BY-NC-ND 4.0; letzter Zugriff am 10. Mai 2022). — 13, 14 aus: Valérie Thomas und Helen Bieri Thomson (Hg.), Verreries d’Émile Gallé: De l’oeuvre unique à la série (Ausst.-Kat. Nancy, Musée de l’École de Nancy), Paris 2004, 45.

Published Online: 2023-06-10
Published in Print: 2023-06-27

© 2023 Léa Kuhn, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 6.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2023-2005/html
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