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Veröffentlicht/Copyright: 7. April 2017
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Abstract

While the particle ja (yes) has been analyzed extensively in both spoken and written German, its counterpart nein (no) has not received much attention. This has to do with the fact that ja is a multifunctional word that can be used as a positive responsive particle, a modal particle, a discourse marker or a tag question. In contrast, nein is usually only ascribed a narrow range of functions centering around negative responsivity particle. The aim of this article is to ask whether nein is indeed only used as a negative responsive or whether it, too, is multifunctional – and if so, what its functions are. On the basis of an empirical analysis of spoken German formal and discourse-functional properties of nein are described.

1 Nein

Erst spät hat die Sprachwissenschaft damit begonnen, die Partikeln des Deutschen systematisch zu untersuchen: Die erste Untersuchung zu Gradpartikeln erfolgte beispielsweise von van Os im Jahr 1989 (vgl. Breindl 2009: 403f.), die Kategorie der Fokuspartikeln wurde erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts etabliert (Altmann 2009: 363), und auch für die heute recht umfassend beschriebenen Modalpartikeln gilt, dass sie erst mit dem „Einsetzen einer intensiven Partikelforschung“ (Diewald 2009: 120) ab den siebziger Jahren erforscht wurden. Gleiches gilt auch für die Antwortpartikeln bzw. die Responsive: So weist Ehlich (2009: 437) darauf hin, dass der „Terminus ‚Responsiv‘ eine relativ rezente terminologische Bildung“ sei, die „aus der Notwendigkeit erwächst, die Ausdrücke der Bejahung und Verneinung, soweit sie Wortcharakter haben, als eine eigene Klasse zusammenzufassen.“ Dass bei den Responsiven in der Tat noch Forschungsbedarf besteht, wird schon an der knappen Darstellung im Handbuch der deutschen Wortarten (Hoffmann 2009) deutlich: Lediglich eineinhalb Seiten werden dafür bereitgestellt. Noch auffallender ist allerdings, dass davon fast eine Seite für das affirmierende Responsiv ja bereitgestellt wird, während sein Pendant nein gerade einmal in einem einzigen Satz beiläufig erwähnt wird: „Anders als für die Affirmation zeigt sich bei den Wörtern zum Zweck der Negation eine breite Palette von Ausdrücken, die von dem eigentlichen Negationsresponsiv (deutsch nein) über Indefinitpronomina (nichts, kein), Adverbien (niemals) bis zu Präpositionen reichen.“ (Ehlich 2009: 438) Der Grund für diese Ungleichbehandlung ist leicht auszumachen: Für das Wort ja liegen zumindest einige detaillierte Beschreibungen vor (Ágel/Kehrein 2002; Hoffmann 2008; Imo 2013), während dagegen nein zwar in einigen Referenzgrammatiken (Duden 2006; Weinrich 2005; Zifonun et al. 1997) beschrieben wird, aber bislang nicht umfassend in seiner Formen- und Funktionsvielfalt erforscht wurde. Fiehler (2015: 30) stellt dabei fest: „Noch unbefriedigender ist die Lage bei nein und den Varianten ne(e), ne, nö, nicht(t), nn etc. Es gibt keine systematischen, auf Vollständigkeit angelegten, korpusbasierten Untersuchungen zu den Varianten der Verneinung in der gesprochenen Sprache.“ Diesem Mangel soll mit dem vorliegenden Beitrag Abhilfe geschaffen werden: Auf der Basis eines Korpus gesprochener Sprache wird gefragt, welche formalen und funktionalen Varianten des negierenden Responsivs im Alltag vorkommen.

2 Responsive und Gesprächspartikeln

Dezidierte linguistische Untersuchungen zu nein liegen bislang noch nicht vor (vor allem für nein kann Hoffmanns (2008: 195) Befund zugestimmt werden, dass die Responsive „in der Forschung meist als klar außer Betracht“ bleiben), und auch in einschlägigen Grammatiken wird nein meist nur sehr oberflächlich behandelt: Bei Eisenberg (2004: 219) findet sich die lapidare Erwähnung von nein als „Satzwort“, und an anderer Stelle (Eisenberg 2004: 231) werden kurz die möglichen Bezeichnungen Antwortpartikel, Geltungs-Adverb und Responsivpartikel gegenübergestellt. Ausführlicher geht die Duden-Grammatik (2006) auf nein ein, das dort als Antwortpartikel klassifiziert wird, die Ablehnung ausdrückt. Auch hier findet sich der Eintrag, dass Antwortpartikeln „im Gegensatz zu den meisten anderen Partikelarten (außer den Interjektionen und Onomatopoetica) satzwertig“ seien und somit „eine vollständige Äußerung“ bildeten (Duden 2006: 603). Zudem seien sie „immer betont“. Innerhalb der Antwortpartikeln unterscheidet die Duden-Grammatik zwei Hauptgruppen, die Antworten auf Entscheidungsfragen (ja, nein, doch) und die Reaktionen auf einen Aussagesatz im Sinne einer „Bestätigung, Verstärkung, Einschränkung“. Als Beispiel für eine Verwendung von nein in der zweiten Gruppe wird der Minimaldialog „Du hast mir das fest versprochen. – Nein. (Ablehnung).“ angegeben (Duden 2006: 603). In eine ähnliche Richtung geht auch die in dem gesonderten Kapitel zur gesprochenen Sprache erneut aufgegriffene Darstellung von nein, das als Antwortpartikel der Großgruppe der Gesprächspartikeln untergeordnet wird.

Weinrich (2005: 865) schlägt mit der Einordnung von nein als Negations-Morphem, das „zu dem Affirmations-Morphem ja in binärer Opposition steht“, einen terminologisch eher ungewöhnlichen Weg ein. Ein großer Vorteil der Darstellung von Weinrich ist, dass dort konsequent authentische schriftliche und mündliche Belege herangezogen werden. Das führt dazu, dass Weinrich verstärkt auch auf Phänomene wie die Partikelkombination eingeht – er stellt beispielsweise fest, dass es eine Reihe von typischen verstärkenden Partikeln vor nein gibt (oh nein!, ach nein!, aber nein! Weinrich 2005: 8659) – und er geht vor allem auch auf interaktionale Prozesse ein, indem er die Rolle von nein im Kontext von Selbstreparaturprozessen der Art Ich bin gestern – ach nein, vorgestern, bei meiner Oma zu Besuch gewesen. beschreibt. Er stellt fest, dass dieses nein dazu dienen kann, „eine Korrektur des Sprechers anzuzeigen und gleichzeitig die Erwartung des Hörers in Bezug auf die Geltung einer Feststellung zu korrigieren. In diesem Fall steht nein nach einem Äußerungsabbruch und vor einem Neuansatz; in der nachfolgenden Äußerung wird dann das zutreffende Sprachzeichen eingesetzt.“ (Weinrich 2005: 866) Ein weiteres interaktionales Phänomen ist die Erwartungskorrektur. Hier wird nein „vor einem Ausruf“ verwendet und zeigt so an, dass ein Sprecher „seine bisherige Erwartung korrigiert“: Als Beispiel für einen Fall, in dem die Korrektur „in einem Überbieten der Sprechererwartung“ besteht, wird die Äußerung „nein, das ist ja unerhört, nein, das hätte ich von Ihnen nicht gedacht!“ angeführt (Weinrich 2005: 866).

Am ausführlichsten – vor allem auch unter Berücksichtigung prosodischer Aspekte – geht die IDS-Grammatik auf nein ein. Dort werden auch die wichtigsten lautlichen Varianten aufgelistet:

[naɪn] Standardsprache
[ne:] Umgangssprache (häufig)
[nœ, nø:] Umgangssprache (norddeutsch)
[nɛ:] Umgangssprache (rheinisch/westfälisch)
[na:] Umgangssprache (bairisch)
[nɔɪ] Umgangssprache (schwäbisch) (Zifonun et al. 1997: 379)

Auch wenn die Zuordnung bestenfalls idealtypisch ist (die lautlichen Formen , nø: und nɛ: sind m. E. nicht auf regionale Umgangssprache beschränkt, sondern korrelieren mit bestimmten Funktionen, was allerdings empirisch noch zu zeigen wäre), ist dies zumindest ein erster Schritt der Systematisierung.

In Bezug auf die Platzierung im Kontext von Äußerungen und Sequenzen wird zwischen einer turninternen und einer turnexternen Verwendung unterschieden. Gemeint ist damit, dass nein sowohl als eigenständige kommunikative Minimaleinheit in Reaktion auf eine Äußerung eines Gesprächspartners als auch innerhalb eines Redebeitrags, beispielsweise zur Einleitung einer Reparatur, verwendet werden kann. Es wird darauf verwiesen, dass nein seltener gebraucht werde als ja und dass es „spezialisiert auf die Opposition zum affirmativen JA“ sei (Zifonun et al. 1997: 379). Entsprechend geringer fällt der Funktionsumfang von nein aus. Es werden zwei Funktionsgruppen genannt, einmal die Aufgabe, „Divergenz auszudrücken oder Unangemessenheit bezogen auf eingeführte Sachverhalte, Handlungs­realisierungen oder Erwartungen“ und einmal die Aufgabe, „Konvergenz hinsichtlich negativer Sachverhalte“ anzuzeigen (Zifonun et al. 1997: 379).

Im turnexternen Gebrauch steht die Negierung im Vordergrund: „Der Sprecher verwendet einen Ausdruck der Formklasse NEIN, um einen vorgegebenen Sachverhalt als nicht-bestehend, ausgedrückte Erwartungen als nicht-zutreffend oder einen negierten Sachverhalt als bestehend zu assertieren. Ferner kann er versuchen, damit eine Handlungsrealisierung zu verhindern.“ (Zifonun et al. 1997: 380). Im Detail umfasst das beispielsweise die „Korrektur einer Partneräußerung“, die „negative Antwort auf eine Entscheidungsfrage“ oder die „Nicht-Bestätigung nach einer Bestätigungsfrage“ und die Aufgabe, „eine vorausgegangene oder andauernde Handlung eines Anwesenden“ abzulehnen oder zu beenden. Nicht zuletzt komme nein – mit einem fallend-steigenden Tonhöhenverlauf – auch in „Fragebatterien“ vor (Zifonun et al. 1997: 381). Phonologische Varianten, z. B. die Realisierung mit einem fallend-steigenden, steigend-fallenden oder stark fallenden Tonhöhenverlauf, werden als jeweils intensivierende Varianten zur Grundform angesehen, gleiches gilt für Doppelungen (neinnein).

Im turninternen Gebrauch, gemeint ist damit, dass mit nein kein eigenes Rederecht beansprucht wird, kann zwischen drei Funktionen unterschieden werden. Einmal kann ein Sprecher nein „zur direkten Rückgabe des Rederechts“ einsetzen, wobei er vom Hörer eine „Explikation, Begründung oder Reparatur“ erwartet, „die es ihm erlaubt, den vorhergehenden (negierten) Redebeitrag zu akzeptieren“ (Zifonun et al. 1997: 382). Eine zweite Verwendungsweise ist die, „den Übergang zu einer Reparatur (Selbst-Korrektur)“ anzuzeigen und damit sein Rederecht zu sichern. Die dritte Verwendungsweise dient dem „Ausdruck von Konvergenz/Divergenz“, wobei nein ähnlich wie mhm meist begleitend zu den Äußerungen eines Gesprächspartners produziert wird (Zifonun et al. 1997: 382–383). In allen drei Fällen hat entweder der Sprecher, der nein produziert, bereits das Rederecht oder, wie im Fall der Hörersignale, zeigt er an, dass er kein eigenes Rederecht übernehmen will und dass der Gesprächspartner fortfahren soll.

Zuletzt kann noch auf die meines Wissens einzige sich ausschließlich mit einer Variante eines negativen Responsivs beschäftigende Arbeit verwiesen werden, eine Untersuchung zu jein von Bücker (2013). Bücker zeigt, dass jein, anders als beispielsweise bei Zifonun et al. (1997: 383) beschrieben, „weder in der Mündlichkeit noch in der Schriftlichkeit charakteristisch für ein ‚scherzhaftes‘ Register“ ist. Vielmehr hat es gesprächsstrukturierende Funktionen (Bücker 2013: 206–207) und kann u. a. dafür eingesetzt werden, komplexe Themen ‚aufzufalten‘ und differenziert zu thematisieren. In schriftlichen Texten ist jein darüber hinaus ein „Mittel der rhetorisch-stilistisch innovativen Erzeugung ‚virtueller Dialogizität‘ im Sinne Bachtins“ (Bücker 2013: 207).

Im Folgenden soll nun versucht werden, auf der bisherigen Forschung zu Responsiven aufbauend anhand eines Datenkorpus gesprochener Sprache zu zeigen, zu welchen (Diskurs)Funktionen nein bzw. nee eingesetzt wird und wie die unterschiedlichen Funktionen mit unterschiedlichen formalen Merkmalen (Prosodie; Position im Kontext von Äußerungen; Position im Kontext von Sequenzen; Doppelungen (neinnein) und Kombination mit anderen Partikeln) einhergehen. Ich beschränke mich dabei auf nein (und Varianten wie nee). Auf Varianten wie mhmh sowie auf multimodale Aspekte des Negierens kann aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

3 Das Datenkorpus

Als Datengrundlage wurden einerseits Interaktionen aus dem Forschungs- und Lehrkorpus FOLK des IDS Mannheim (http://agd.ids-mannheim.de/folk.shtml) und andererseits selbst erhobene Daten (Alltagsgespräche, Radio-Talksendungen) verwendet. Alle Daten, ganz gleich ob institutionell verankert, wie beispielsweise Mitarbeiterbesprechungen in den FOLK-Daten, oder nicht (wie Gespräche zwischen Freunden oder Familienmitgliedern), haben gemeinsam, dass es sich um interaktionale, informelle, d. h. nicht gescriptete Unterhaltungen handelt. In den Daten wurde nach nein sowie den lautlichen Varianten ([naɪn], [ne:], [nœ, nø:], [nɛ:], [na:], [nɔɪ]; vgl. Zifonun et al. 1997: 379) gesucht. Die Daten wurden nach allen Vorkommen von nein (in allen Varianten) durchsucht, wobei keine vollständige Analyse der beiden Korpora vorgenommen wurde – was schlichtweg mit der zu großen Menge des Tokens nein zu tun hat. Vielmehr wurden in beiden Korpora über die Transkripte und die Audiodateien in möglichst vielen unterschiedlichen kommunikativen Konstellationen (Streit- und Schlichtungsgespräche; Besprechungen; Beratungen und Interviews; Skype-Gespräche; Tischgespräche; private Telefongespräche) so viele Fälle analysiert, bis keine neuen Formen mehr hinzukamen. Dieses Vorgehen hat natürlich seine Grenzen darin, dass nicht gesagt werden kann, ob in anderen kommunikativen Konstellationen (und v. a. auch in anderen regionalen, fachspezifischen, jugendsprachlichen etc. Varietäten) noch weitere Formen zu finden sind. Dies ist sogar klar zu erwarten. Eine qualitative Analyse kommt jedoch bei der großen Zahl der Tokens an ihre Grenzen, so dass für manche zu erwartende Formen ein weiteres Forschungsdesiderat bestehen bleibt. Dies gilt vor allem für die lautlichen Varianten von nein: Lediglich die ersten vier Varianten ([naɪn], [ne:], [nœ, nø:], [nɛ:]), nicht aber [na:] und [nɔɪ] waren in den Daten zu finden, den Hauptanteil stellten dabei [naɪn] und [ne:]. Da die mir zur Verfügung stehenden Daten kein repräsentatives Bild des Varietätenspektrums in Deutschland bereitstellen, musste auf eine detaillierte Untersuchung der lautlichen Varianten entsprechend verzichtet werden, es wird hier auf die in ganz Deutschland verbreiteten Varianten nein und nee fokussiert. Eine quantitative Auswertung ist auf Grund der Tatsache, dass die Transkripte die Formenvielfalt nicht akkurat wiedergeben und alle Gespräche angehört werden müssen, auf dem derzeitigen Stand der für das gesprochene Deutsch vorliegenden Gesprächskorpora ohnehin unmöglich. Entsprechend ist die im Folgenden vorgeschlagene Kategorienbildung zwangsläufig vorläufig: Die in den Daten gefundenen Fälle wurden nach funktionalen, interaktionalen und formalen Gesichtspunkten gruppiert. Über anders motivierte Grenzziehungen kann man dabei immer nachdenken, doch verfolgt dieser Beitrag das Ziel, zunächst möglichst kleine Gruppen zu bilden, um das Spektrum von nein klarer zu erfassen.

3.1 Negation von Propositionen und Handlungen anderer durch nein

Als prototypische Eigenschaften des Responsivs nein können sicherlich die folgenden aufgelistet werden:

  • nein wird reaktiv von einem Sprecher/einer Sprecherin geäußert, ist also in eine mindestens zweiteilige interaktionale Sequenz aus Vorgängeräußerung (Sprecher A) und nein-Äußerung (Sprecher B) eingebettet und

  • nein negiert entweder eine Proposition (typisch dabei ist dort wiederum, dass diese Proposition in einem Frageformat produziert wird) oder eine Handlung bzw. ein Handlungsziel (vgl. Blühdorn 2012: 22) des Vorgängersprechers.

Im Folgenden sollen nun einige Beispiele diskutiert werden, bei denen nein als ein solches prototypisches Responsiv eingesetzt wird. Interessant ist dabei der Befund, dass in den von mir untersuchten Daten nur sehr wenige Fälle vorkamen, bei denen ausschließlich nein als Antwort verwendet wurde, ohne dass durch nonverbale Mittel (gleichzeitiges Lachen, Flüstern o. ä.) Kontextualisierungshinweise gegeben wurden, die die negative Antwort abschwächen, oder dass dem nein eine Elaboration, Begründung, qualifizierende Stellungnahme oder zumindest Reformulierung (z. B. nein, überhaupt nicht) folgte (der Bereich der multimodalen Analyse musste vollständig ausgeklammert werden, da eine Analyse der paraverbalen begleitenden und nein ersetzenden Mittel den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde und zudem das Forschungsfeld der Linguistik verlassen würde, wenn man beispielsweise Kopfschütteln oder skeptischen Blick als nein-Äquivalente analysieren wollte).

Ich verwende in der Folge für die an nein angehängten Folgeäußerungen den sich lediglich auf den formalen Aspekt einer Erweiterung einer Äußerung bezogenen Begriff Expansion. Allein stehendes nein ist dispräferiert und kommt lediglich in Streitsituationen sowie beim Abarbeiten von ‚Fragebogenaktivitäten‘ vor – und selbst dann ist die Variante mit einer folgenden Expansion präferiert.

(i) nein als Responsiv:

Das folgende Beispiel stammt aus einer Radio-Talksendung. Eine Anruferin (A) erzählt dem Moderator (M) von ihrer seit zwanzig Jahren andauernden Affäre mit einem verheirateten Mann:

Beispiel 1:Radio-Talk
21MDU bist verheiratet.
22ER ist verheiratet. (.)
23Aja:,
24MWE:R (.) weiß davon.
25(2.0)
26AKEIner.
27MKEI:N mEnsch wEIß dAs?
28A →<<lachend> nein.>
29(1.0)
30Mdas ist ja SPEKtakulÄr.
31A<Ausatmen und Lachen <ja: aber es IS so.>>
32MWOHNT ihr in einer stAdt?
33A →ehm nein (.) also wir wohnen aufm LAND und eh- (.)
34jeweils auch in einem kleinen ORT,
35und die zwei orte sind auch so zwei kilometer auseiNANder.
36u:nd da kennt natürlich auch JEder jEden.

In Z. 33 ist das typische Muster für respondierendes nein gegeben: Der Moderator stellt die Frage, ob die Anruferin und ihr Partner in einer Stadt leben (Z. 31), woraufhin diese zunächst mit einer Zögerungspartikel und dem negativen Res­ponsiv nein antwortet und nach einer Mikropause dann eine durch den Diskursmarker also projizierte erläuternde Elaboration liefert, die in diesem Fall das nein insofern qualifiziert, als die Anruferin feststellt, dass sie beide zwar nicht in einer Stadt leben, aber in zwei kleinen Orten auf dem Land, was im Endeffekt einen ähnlichen Effekt hat (d. h. das Potential erhöht, dass beide von anderen Menschen zusammen gesehen werden könnten). Es zeigte sich, dass allein stehendes nein fast nie vorkommt, sondern stets eine Kombination von nein mit folgender Expansion, z. B. einer Elaboration mit Hintergrundinformationen, einer Begründung für die Negation oder zumindest einer Reformulierung der Negation (z. B. nein, überhaupt nicht). Das Responsiv nein hat offenbar für die Interagierenden zu wenig ‚Gewicht‘, als dass es alleine verwendet werden kann (bzw., umgekehrt formuliert, birgt es das Potential, als eine zu abrupte und zu ‚definitive‘ Antwort wahrgenommen zu werden).

Dies gilt im Übrigen selbst dann, wenn nein die präferierte Antwort ist, d. h. wenn mit nein auf eine negierte Äußerung bestätigend geantwortet wird, wie in Z. 28 deutlich wird: Die Anruferin bestätigt die negierte Frage des Moderators zwar ausschließlich mit einem mit stark fallender Tonhöhe realisierten nein. Danach entsteht eine Pause von einer Sekunde Länge – der Moderator übernimmt also nicht direkt nach dem nein der Anruferin das Rederecht, sondern wartet eine Sekunde, bis er mit seinem Redebeitrag einsetzt. Er scheint auf die Expansion zu warten, die hier ausbleibt. In den Daten zeigt sich, dass ein solches allein stehendes nein, das bestätigend, d. h. nach einer negierten Vorgängeräußerung, eingesetzt wird, fast genauso selten vorkommt wie ein negierendesnein.

Es kann also festgehalten werden, dass ein allein stehendes nein als Responsiv in Alltagsinteraktionen hochgradig markiert ist. Nur in bestimmten Gesprächskonst­ellationen wird ein einfaches nein verwendet, nämlich einmal in institutioneller Kommunikation, in der bestimmte Frageformate abgearbeitet werden, bei denen mit ja oder nein geantwortet werden kann (z. B. Anamnesegespräche o. ä.), und einmal in Streitsituationen, wo die Markiertheit eines allein stehenden nein gerade von Vorteil ist, da ein Gesprächsziel Konfrontation ist. Ob der zweite Teil, d. h. die regelmäßige Verwendung von allein stehendem nein in Streitsituationen, tatsächlich zutrifft, muss hier allerdings Spekulation bleiben: In den (insgesamt allerdings seltenen) Streitsequenzen in dem von mir untersuchten Korpus wird nein in den meisten Fällen ebenfalls nicht alleine stehend realisiert, sondern immer zusammen mit einer unmittelbar folgenden auf nein bezogenen Expansion. Erklärt werden kann dies damit: „Nein leistet – insofern ist es asymmetrisch zu ja – eine Konversion nur des Wissensstatus von p. Der Rezipient weiß aufgrund eines bloßen nein nicht, was er glauben soll, und wird differenzierteres Wissen oder eine Begründung des verbalisierten Wissensstatus einfordern.“ (Hoffmann 2008: 217)[1] Dieses „differenziertere Wissen“ wird im Normalfall, so zeigen die Daten, von dem Produzenten der Negation direkt mitgeliefert und nicht der Einforderung durch das Gegenüber überlassen. Einer der seltenen Fälle, in denen nein alleine steht, stammt aus einem Schlichtungsgespräch im Kontext von Stuttgart 21 aus dem FOLK-Korpus – einer Streitsituation:

Beispiel 2:Schlichtungsgespräch
0104WWtut mir leid (.) das is NICHT der begriff den ich von einer schema °h skiz[ze] habe. ]
0105BP[des is KEIN] zulässiger vergleich; [h° ]
0106WW[doch;]
0107HGalso (.) meine (.) äh SEHR [verehrten damen und herren],
0108WW[der is verEINfachend, (.) ]
und zuläs[sig].
0109HG[ja.]
0110BP→(.) nein. [°hh ]
0111XM4[geSCHWA]fel.
0112HGdarf ich mal k darf ich mal kurz unterBRECHen;

Hier ist allerdings das nein von BP aus Z. 0110 nicht Teil einer nur zweiteiligen Frage-Antwort-Sequenz, sondern das negative Responsiv wird zur kompromisslosen Zurückweisung einer Aussage eingesetzt. Diese Rückweisung erfolgt zunächst in Z. 0104. BP kritisiert einen Vergleich, den WW zuvor auf der Basis eines Bauplans aufgestellt hat und stellt fest, dass dies „KEIN zulässiger vergleich“ sei. WW widerspricht ihm in Z. 0108 („der is verEINfachend (.) und zulässig“), was von HG in Z. 0109 mit einem positiv stützenden Responsiv („ja.“) und von BP in Z. 0110 mit „nein“ zurückgewiesen wird. Das allein stehende nein ist hier aus zwei Gründen möglich: Zum einen handelt es sich um einen ‚zweiten Schritt‘ in der Negationskette, d. h. einen bekräftigenden Widerspruch. Zum anderen befinden sich die SprecherInnen in einer Streitsituation, in der Höflichkeitskonventionen zumindest teilweise außer Kraft gesetzt werden (im Sinne einer „enthemmten Kommunikation“, wie sie von Luhmann (1990) im Kontext von innerfamiliärer Kommunikation beschrieben wurde) und in der man sich durch knappe Responsive wie ja oder nein eindeutig bestimmten Positionen zuordnet. Die beleidigende Bewertung „geSCHWAfel“ durch XM4 in Z. 0111 ist darüber hinaus ein klarer Beleg für die ‚enthemmte‘ Situation des Streitens in diesem Auszug. Für ‚normale‘ Interaktionssituationen ist dieses Muster allerdings ungewöhnlich. Die Daten zeigen, dass eine Expansion von nein geliefert wird, sofern nicht die Knappheit von nein im konkreten Kontext (Streit oder Abarbeiten einer Frage-Antwort-Liste) umgekehrt genau die erwarbare Reaktion ist.

(ii) allein stehendes nein mit Kontextualisierung über Lachen

In der weiteren Diskussion wird noch ausführlicher auf das Muster nein + Expansion eingegangen, doch zunächst muss auf die Alternative zu einer Expansion, nämlich den Einsatz von parallelen Kontextualisierungshinweisen, eingegangen werden. Eine Kontextualisierung über die Prosodie (z. B. Flüstern, behauchtes Sprechen oder starke, Entrüstung, Erschrecken oder Erstaunen markierende prosodische Realisierung) bedeutet im Normalfall allerdings, dass nein nicht als Responsiv eingesetzt wird, sondern als eine routinierte Floskel, mit der interessante, unglaubliche, erschreckende o. ä. Informationen entgegengenommen werden und Empathie angezeigt wird (vgl. die Analyse in Abschnitt 3.9). In den Daten fand sich aber auch ein Fall, in dem durch Lachen zusätzliche Kontextualisierungshinweise geliefert wurden, die interaktional wie eine Erläuterung interpretiert werden können und es erlauben, nein alleine als Responsiv realisieren zu können. Das Beispiel stammt aus einem Skype-Gespräch zwischen Studierenden der Universitäten Essen und Münster, es saßen sich drei Studentinnen aus Essen und vier Studentinnen aus Münster vor dem Computer gegenüber (eine Analyse der paraverbalen Mittel würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen; es ist aber zu erwarten, dass auch über paraverbale Mittel nein so kontextualisiert werden kann, dass es alleine stehen kann). Der Gesprächsbeginn vor Einsatz des Transkripts befasste sich vor allem mit technischen Fragen, d. h. ob man alles gut sehen und hören kann etc. Nachdem die technischen Aspekte geklärt wurden, stellten sich die Studentinnen einander vor und in Z. 175 stellt nun eine Studentin aus Münster die Frage, ob die Studentinnen in Essen bereits im Master studieren:

Beispiel 3:Skype-Gespräch
175M2seid ihr denn alle schon im MASter?
176E2[ja; ]
177E3[ja; ]
178E2[mhm-]
179(1.0)
180ihr AUCH?
181M1→[<<lachend> nein;>]
182M2→[<<lachend> nein;>]
183M3→[<<lachend> nein;>]
184M4→[<<lachend> nein;>]
185E2ne [ah oKAY] ah-
186E1[ah:::- ]
187E2cool das find ich aber COOL dass ihm bachelor sowas schon gemacht wird;

Die Frage der Studentin M2 aus Z. 175 wird von den Studentinnen aus Essen bejaht. Es folgt die Gegenfrage, ob die Studentinnen aus Münster ebenfalls im Master studieren (Z. 180). Dies wird von allen vier Studentinnen mit einem lachenden, mit leicht fallender Tonhöhe realisierten nein beantwortet, ohne dass eine Expansion folgt. Das allein stehende nein ist hier aus zwei Gründen unproblematisch: Zum einen ist lokal eine Art ‚Fragebogen‘-Situation geschaffen worden, in der die Studentinnen jeweils Hintergrundinformationen über ihre Gesprächspartnerinnen sammeln. Dies begünstigt ein Antworten nur mit der Negationspartikel. Darüber hinaus kann aber das Lachen auch interpretiert werden als eine implizite Elaboration im Sinne von „nein, noch lange nicht“ oder „nein, wir sind erst noch im Bachelor, aber danke, dass ihr uns schon für weiter im Studium fortgeschritten haltet“. Diese implizite Elaboration, die mit dem Durchführen von Face-Work verbunden ist, verhindert, dass die Antwort nur mit der Negationspartikel als unhöflich wahrgenommen wird.

(iii) Negation einer Frage oder einer Handlung: der strukturelle Normalfall

Wie bereits mehrfach erwähnt, besteht der Normalfall des Einsatzes des negativen Responsivs – ganz gleich, ob es als zweiter Teil eines Frage-Antwort-Nachbarschaftspaares eingesetzt wird oder ob durch nein ein Vorschlag oder generell eine Handlung eines Gegenübers abgelehnt wird – darin, dass erst das Responsiv realisiert wird und unmittelbar im Anschluss daran eine Expansion. Das gilt selbst in konfrontativen Situationen. Im folgenden Beispiel aus einem Interview mit Rudi Völler wirft dieser den Journalisten eine verzerrte und unfaire Berichterstattung vor und er greift den Journalisten (M) verbal an.

Beispiel 4:Interview mit Rudi Völler
36Vah so einen SCHEISS;
37den kann ich nicht mehr HÖren,
38also da werd ICH-
39das is das is für mich das Allerletzte.
40muss ich EHRlich sagen;
41wechselt den berRUF,
42is BESser.
43Msuchen sie sich nicht den im moMENT den fAlschen-
44V→NEIN ich such mir genau den rIchtigen [aus].
45M[den] falschen
[GEGner aus;]
46V[weil ich sitz HIER]-
47ich sitz jetzt seit drei jahren HIER,
48und hör mUss mir diesen SCHWACHsinn immer anhören;

In einer längeren ‚Schimpftirade‘, von der hier nur der Schluss wiedergegeben ist, bezeichnet Völler die Äußerungen der Journalisten als „SCHEISS“ (Z. 36) und legt ihnen nahe, den Beruf zu wechseln (Z. 41). Der Moderator fragt daraufhin in Z. 43, ob sich Völler mit ihm nicht den falschen Adressaten ausgesucht habe, da Völler zuvor vor allem auch auf seine Darstellung in Zeitungen eingegangen war und der Moderator sich selbst nicht der Beteiligung an einer Kampagne gegen Völler als schuldig betrachtet. Völler beantwortet die Frage des Moderators noch während der Äußerungsproduktion (Z. 44) mit einem stark betonten „NEIN“, das unmittelbar zunächst durch eine Expansion, in dem Fall einer Bekräftigung „ich such mir genau den rIchtigen aus“, und dann durch eine mit dem Diskursmarker weil eingeleitete Begründung auf der Sprechaktebene (Z. 47f.) ausgebaut wird (im Sinne von: Ich habe mir den richtigen Adressaten ausgesucht, weil ich von den Journalisten immer mit schwachsinnigen Fragen gequält wurde).

(iv) Belege für die Routiniertheit von nein + Expansion

Dass es sich bei der Erweiterung des negativen Responsivs nein durch eine Expansion um ein routiniertes Muster handelt, wird in Fällen deutlich, in denen ein ‚gespieltes‘, d. h. zu rhetorischen Zwecken genutztes, allein stehendes nein verwendet wird. Das folgende Beispiel stammt aus einem Interview mit Angela Merkel (M). Die Interviewerin (H) blendet ein Foto von Angela Merkels berühmter Handhaltung („Merkelraute“) ein und fragt nach, ob diese Handhaltung Angela Merkel von deren Schwester empfohlen wurde:

Beispiel 5:Interview mit Angela Merkel
131Hwir haben ja jetzt hier auch ein BILD,
132es ist die beRÜHMte- .h
133heißt sie MERkelrAUte?
134Oder DREIeck?
135Malso ich HAB da-
136für die NAmensgebung nicht gesorgt;
137H<genAU NEIN dafür sind sie nicht eh verAntwortlich, <Gelächter des Publikums>>
138ist es äh tatSÄCHlich etwas;
139des hab ich geLEsen-
140dass (.) ihnen das ihre SCHWESter empfohlen hat,
141[daMIT] es ihnen-
142M→[nein.]
143HNEIN.
144Mdes <könn_ma jetzt hier gleich rI[chtig stellen.] <Gelächter des Publikums>>
145H[KOkolores. ]
146M<es HAT sich, <Gelächter des Publikums>>
147HgrOber UNfug.

Ähnlich wie im vorigen Beispiel reagiert Merkel mit dem negativen Responsiv unmittelbar nach der übergaberelevanten Stelle der Frage, d. h. nach dem finiten Verb „hat“ in Z. 140. Das „nein.“ wird in einem ‚endgültigen‘ und ‚knapp‘ wirkenden Stil mit stark fallender Tonhöhe realisiert und die die Moderatorin liefert sofort im Anschluss alignierend ein ähnlich ‚endgültig‘ wirkendes, allerdings stärker betontes „NEIN.“ (Z. 143). Diese Episode ist in einen längeren humoristischen Austausch eingebettet, der bereits mit der Thematisierung der „MERkelrAUte“ (Z. 133) begann und mehrfach vom Publikum mit Gelächter begleitet wurde. Auch die knappe Antwort von Merkel und die markierte alignierende Reaktion durch die Moderatorin in den Zeilen 142 und 143 werden von dem Publikum als scherzhaft behandelt, wie das Lachen in Z. 144 zeigt. Darüber hinaus liefert Merkel auch hier parallel eine Expansion, indem sie ihr nein in Z. 144 elaboriert. Ein allein stehendes nein kann also gerade durch den Charakter seiner Markiertheit auch zur Erzeugung ‚komischer‘ Effekte durch die Abruptheit eingesetzt werden, allerdings wird in solchen Fällen dann nach einer Pause die Elaboration nachgeliefert (in diesem Fall erfüllt darüber hinaus auch das „NEIN“ der Moderatorin in Z. 143 die Funktion einer Elaborationsaufforderung).[2]

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden:

  • Allein stehendes nein ist dispräferiert, es scheint ein starkes Potential der Gesichtsbedrohung zu haben und weist Konnotationen nicht nur einer negativen Antwort/Reaktion auf, sondern auch der Aufkündigung der Gesprächskooperation; es findet sich daher in Alltagsinteraktionen bestenfalls (und auch da selten) in Streitsituationen; nur in institutionellen Gesprächstypen, in denen Listen, Fragebögen, Anamnesefragen etc. abgearbeitet haben, kann nein unmarkiert auftreten – und dort auch nur, wenn der Fragetyp es zulässt, dass nein als „type-conforming“ (Raymond 2003) gilt, d. h. beispielsweise in einen gerichtlichen Befragung oder wenn in einer Anamnese Vorerkrankungen erfragt werden. Die typische Struktur in den meisten Gesprächsstrukturen ist somit eine zweiteilige mit folgendem Aufbau: nein + Expansion. Die Expansion kann dabei aus einem Wiederaufgriff einer Frage, eines Vorschlags oder einer Handlung, die mit der Negationspartikel nicht oder mit einem Negationspronomen oder Negationsadverb negiert werden, sowie aus einer noch folgenden Rechtfertigung oder Qualifizierung der Ablehnung.

  • Allein stehendes nein kann durch nonverbale Signale ‚entschärft‘ werden, wobei sich zeigen wird, dass diese Signale typischerweise dazu dienen, aus einem allein stehenden nein eine Routinefloskel zur Quittierung unglaublicher/interessanter/erschreckender etc. Informationen und zur Markierung von Emphase zu machen; durch begleitendes Lachen kann nein allerdings als Responsiv ‚entschärft‘ werden: Es wird dadurch angezeigt, dass man zwar die Frage verneint (oder Handlung zurückweist), dies aber nicht gesichtsbedrohend intendiert ist.

3.2 Negation von Propositionen und Handlungen anderer durch [ne:]

Nachdem im vorigen Abschnitt auf nein fokussiert wurde, wird nun die Form [ne:] in den Blick genommen (in Zukunft werde ich der Einfachheit halber die Form durch die Schreibung <nee> wiedergeben). Handelt es sich bei nee nur um eine umgangssprachliche Variante von nein? Oder unterscheiden sich die beiden Negationsresponsive auch funktional oder in ihrem distributionellen Verhalten?

(i) allein stehendes nee als Responsiv

Wie nein kann auch nee als allein stehendes Responsiv als Reaktion auf Fragen eingesetzt werden. Im folgenden Beispiel spielen Kinder mit Playmobil, Mutter (MW) und Tante (FW) kommentieren das Spiel:

Beispiel 6:FOLK
0731FWoh dahinten is die SCHUle [eingestürzt;]
0732MW[da is a WAND] abgfalle.
0733CW[oh nein-]
0734FW[ja das g]eht halt so in der schule x ZU_weisch, (--)
0735MWach fallet in der schule x auch öfters die
wä[nde raus oder] wie, ((lacht))
0736FW[ohm ja °h ja ] °h äh das war
sebastian v[on ges]tern;
0737OW→[nee; ]
0738MW[is- ]
0739SWoJE- (-) )
0740CW((lacht))

Nachdem die Mutter bemerkte, dass in der Playmobilschule die Wand herausgefallen ist, stellt sie die scherzhafte Frage, ob in der Schule der Kinder auch öfter die Wände herausfallen (Z. 0735). Durch den Inhalt und die Form der Frage (u. a. durch das Vergewisserungssignal „oder wie“ und das Lachen) wird eine negative Antwort projiziert und entsprechend antwortet das Kind OW in Z. 0737 mit dem Responsiv „nee“. Der Vorteil von nee ist dabei, dass damit ein negatives Responsiv geliefert werden kann, das aber nicht den Charakter einer „definiten“ (Hundsnurscher 1997) Antwort hat und somit auch alleine stehend nicht so abrupt wirkt wie ein nein. Im Kontext einer Scherzinteraktion ist es also angemessener als nein, das schon eher elaboriert werden müsste, um nicht als „po-faced receipt“ (Drew 1987) wahrgenommen zu werden. Eine Kontextualisierung mit Lachen ist bei nee aus diesen Gründen auch weniger dringend als bei nein. Dazu kommt in diesem Beispiel auch noch, dass die Interaktion der Mutter mit dem Kind eine Nebeninteraktion ist – die Hauptinteraktion besteht im Spielen der Kinder miteinander. Der Aspekt der Nicht-Zugänglichkeit für eine Interaktion ist also in diesem Fall eher beabsichtigt, die Kinder wollen in Ruhe weiterspielen.

Wie oben bei der Diskussion bereits erwähnt, kann das negative Responsiv allein eingesetzt werden, wenn eine Liste abgearbeitet wird, wie im folgenden Beispiel aus den FOLK-Daten (es handelt sich um ein sprachbiographisches Interview, Interviewer (MF) und Interviewter (CHE3) sprechen über dessen Wunsch, Opernsänger zu werden):

Beispiel 7:FOLK
0109MF°hhh ähm hast du PIERcings im mundbereich,
0110CHE3→(.) nee.
0111(0.25)
0112MF[KEIne. ]
0113CHE3[NIRgends.]
0114MF°hhh eine ZAHNspange,
0115CHE3(.) hatte ich AUCH mal,
0116hab ich aber schon seit nem JAHR oder so was nicht mehr.

MF spricht über den Stimmklang von Opernsängern und kommt in diesem Kontext auf mögliche Beeinträchtigungen von CHE3 zu sprechen, die den Resonanzkörper (d. h. den Mund) stören könnten: Auf die Frage „hast du PIERcings im mundbereich“ antwortet CHE3 in Z. 0110 lediglich mit „nee“. Allerdings übernimmt MF danach nicht direkt wieder das Rederecht, weshalb nach einer Pause von einer viertel Sekunde CHE3 die Antwort durch „NIRgends“ elaboriert. Parallel dazu stellt MF die nächste Frage nach der Zahnspange, die dann von CHE3 ausführlicher beantwortet werden kann. Es zeigt sich hier, dass ein einfaches nee zwar durchaus als allein stehendes Responsiv verwendet werden kann, aber dennoch sogar selbst in Fragebogensituationen weiterhin eine Expansionserwartung bestehen bleibt.

Insgesamt hat die Datenauswertung gezeigt, dass sich nein und nee lediglich durch den Formalitätsgrad unterscheiden. Funktional sind keine Unterschiede festzustellen, mit Ausnahme der – allerdings wieder durch den Formalitätsgrad erklärbaren – ‚Negationstreppe‘ mit nee und nein, die im Folgenden vorgestellt wird.

(ii) Negation einer Frage oder einer Handlung durch nee: die ‚Negationstreppe‘

Die Unterschiede zwischen nein und nee sind in keinem Fall eindeutig und trennscharf. Zum einen wird nee zu einem nicht unerheblichen Maß durch die Informalität der Situation begünstigt, d. h. je informeller die Situation, desto höher die Chance, dass die Sprecher nee statt nein verwenden. Zum anderen hat nee darüber hinaus aber auch einen modalisierenden Charakter, es wirkt wie eine etwas höflichere, weniger abrupte Variante von nein. Dazu kommt, dass auch auf nee im Normalfall Erläuterungen, Rechtfertigungen, Schlussfolgerungen oder nachgeschobene stützende Äußerungen bzw. Negationsreformulierungen folgen, wobei sich in den Daten darüber hinaus auch noch eine Art ‚Negationstreppenmuster‘ zeigen lässt, in dem in drei Schritten die Negation immer stärker hervorgehoben wird, indem zunächst nee geäußert wird, dann eine Expansion und schließlich nein. Das folgende Beispiel stammt aus einer Radio-Talksendung, der Anrufer (A) erzählt dem Moderator (M), dass er, obwohl er schon über zwanzig Jahre alt ist, immer noch bei seinen Eltern wohnt:

Beispiel 8:Radio-Talk
35Mund muss du da irgendetwas ABgeben?
36an GELD?
37A →ne:::,
38ein (.) eigentlich NIX;
39[nein].
40M[HAST] du denn Einkünfte,
41A.h n::::EIn,
42diʔ DArum bin ich auch zurzeit am suchen am nEbenjob,
43ich hab WOHL studEntenkredit am laufen aber-
44Mja-

Die Frage das Moderators, ob der Anrufer seinen Eltern Geld geben muss, damit er bei ihnen wohnen kann, wird von dem Anrufer in drei Schritten verneint: Zunächst durch das gedehnte Responsiv „ne:::“, gefolgt von der Expansion „eigentlich NIX“ und schließlich durch das Responsiv „nein“. (Die zweite Frage des Moderators, ­ob der Anrufer Einkünfte hat, beantwortet dieser durch das negative Responsiv „n::::EIn“, gefolgt von einer Explikation; von Interesse ist hier aber nur das erste Muster). Die dreiteilige Struktur von nee plus Expansion plus nein kann dadurch erklärt werden, dass zunächst eine gesichtswahrende, Dispräferenz anzeigende Negation (unterstützt durch die Dehnung) geliefert wird, die in der Expansion qualifiziert wird („eigentlich“) und dann aber ohne Vorbehalte („definitiv“; Hundsnurscher 1997) negativ beantwortet wird („nein“). Das Muster der ‚Negationstreppe‘ erlaubt es, eine dispräferierte Antwort zu geben und dabei einerseits eindeutig zu antworten und andererseits Dispräferenz zu markieren.

3.3 Alignierende / zustimmende Verwendung von nein als Reaktion auf Handlungen, Fragen, Aussagen anderer

Die Negationsresponsive nein und nee können nicht nur reaktiv disaffilierend eingesetzt werden, indem sie z. B. Handlungen, Handlungsvorschläge, Aussagen etc. negieren, sie können auch die gegenteilige Funktion ausüben, nämlich affiliierend auf eine vorgängige Sprecheräußerung zu reagieren. Dies ist regelhaft dann der Fall, wenn die Vorgängeräußerung negiert ist (vgl. Blühdorn 2012: 385). Da es sich bei dieser Verwendung um eine affilierende – und somit nicht gesichtsbedrohende – Handlung handelt, kann man nein und nee sowohl alleine stehend als auch mit einer Expansion finden, wobei der Gebrauch mit Expansion jedoch auch hier der bevorzugte ist. Das erste Beispiel stammt aus einem FOLK-Schlichtungsgesprächen im Kontext des geplanten Bahnhofsbaus in Stuttgart, das zweite aus Skype-Gespräch zwischen Studierenden:

Beispiel 9:FOLK Schlichtungsgespräch
0133HG°hh äh der herr sIErig hat ja (.) nicht behauptet man (.) kAnn die äh tunnel überHAUPT nicht bauen;
0134JS((unverständlich))
0135(0.2)
0136HG[s hat] er NICHT behauptet,
0137WW →[nein.]
0138[°h nich WAHR, ]
0139WW →[nein das STIMMT.]
0140HGsondern °h er SAGT,
0141HGäh (.) es DROhen- °h
0142WWmhm,
0143HGMÄNGel und gefahren;
Beispiel 10:Skype-Gespräch
790MCa_aber wir wollen euch jetzt auch nicht einfach so ABwimmeln_ne,
791((lachen))
792((aber war nett;))
793EMaber war SCHÖN mit euch;
794MJes soll jetzt nicht UNfreundlich rüberkommen-
795((lachen))
796EM →NEIN nein;
797MVbis wann müsst ihr das denn FERtig haben?
798EMä:hm; (--)
799wir hatten nur ich glaube er hat nur gesagt vor PFINGSten sollen wir das gespräch mAchen,

Im ersten Beispiel argumentiert Sprecher HG, dass ein weiterer am Schlichtungsgespräch Beteiligter, Herr Sierig, nicht behauptet habe, dass man einen bestimmten Tunnel nicht bauen könne, sondern dass dies lediglich mit Gefahren verbunden sei. Sprecher WW liefert zu dieser Aussage zunächst das affiliierende Responsiv „nein“ (Z. 0137), das er kurz darauf mit einer Expansion wiederholt („nein das STIMMT“; Z. 0139). Der negierten Aussage von HG wird hier also mit einem negierten Responsiv stützend zugestimmt.

Wie bereits oben erwähnt, findet sich auch in diesen Fällen häufig eine Expansion, obwohl das Negationsresponsiv doch in Bezug auf die Gesichtswahrung positiv ist. Das liegt daran, dass ohne eine Expansion die Gefahr besteht, dass das Responsiv als disaffilierendes Responsiv ausgelegt wird: Im ersten Beispiel könnte z. B. nur durch „nein“ auch der Wahrheitsgehalt der Aussage negiert werden. Wenn der Kontext klar ist, dann sind keine Expansionen notwendig, wie im zweiten Beispiel: Nachdem MC und MJ die Gesprächsbeendigung eingeleitet haben und MC auf das Potential einer Gesichtsbedrohung hingewiesen hat („wir wollen euch jetzt auch nicht einfach so abWIMmeln“; Z. 790), auf die durch EM nicht reagiert wird, greift MJ erneut das Thema der einseitigen Gesprächsbeendigung durch „es soll jetzt nicht unFREUNDlich rüberkommen“ (Z. 790) auf. Hierauf wird durch gemeinsames Lachen und dann durch EM mit „nein nein“ (Z. 796) reagiert. Die Negationspartikel alleine reicht hier aus, da zum einen durch das Lachen bereits kontextualisiert wurde, dass keine Gesichtsbedrohung vorliegt.

3.4 Metasprachliche Verwendung: nein sagen

Erwähnt werden muss auch die Verwendung der Responsive als Teil von festen Verbgefügen, nämlich in der Form nein sagen und ja sagen mit der Bedeutung zustimmen oder ablehnen. In einem Beispiel aus den FOLK-Daten aus einer Mitarbeiterbesprechung in einer sozialen Einrichtung fordern die Mitarbeiter von einem Kind, dass es sich von seiner Schwester nicht alles gefallen lassen sollte („darf NEIN sagen.“; Z. 0812). Der Vorteil der Konstruktion nein sagen ist, dass sie ein wesentlich weiteres Spektrum an Tätigkeiten abdeckt als Verben wie ablehnen, zurückweisen, negieren o. ä. Das hängt damit zusammen, dass eben auch nein als Responsiv dazu eingesetzt werden kann, auf ein weites Spektrum von Aussagen oder Handlungen disaffilierend zu reagieren. Da aus interaktionaler Perspektive diese Verbgefüge wenige Besonderheiten aufweisen, wird hier nur kurz der Vollständigkeit halber darauf eingegangen.

3.5 Nein aber und nein dann

Für das Responsiv nein existiert wie auch für das Responsiv ja eine feste, routinierte Verbindung mit einem folgenden aber. Für letzteres wurde von Hoffmann (2008: 205) festgestellt, dass sich ja häufig mit Ausdrücken wie gut, nun oder aber „zu spezifischen Zwecken“ verbindet, wobei mit der Verbindung mit aber „etwa die verarbeitungsgestützte Umlenkung auf eine damit gewichtete Folgeäußerung (ja aber + Satz) – öfter im argumentativen Rahmen als Bestreiten“ (Hoffmann 2008: 205) vorgenommen wird.

Mit nein zusammen findet sich besonders häufig aber, etwas seltener auch dann. Die Funktion, die Hoffmann für ja aber festgestellt hat, lässt sich auch für nein aber zeigen, wobei sich nein allerdings noch konkreter als ein typisches Muster für die interaktionale Durchführung von Konzessionen (vgl. Kotthoff 1993 und Barth-Weingarten 2003) beschreiben lässt:

Beispiel 11:FOLK Mitarbeiterbesprechung
0462MSaber findest du des is n schlechtes ZEITgefühl, °h (--)
0463MS

äh wenn n kind net genau weiß sin des jetzt EIN oder zwEI jahre

seitdem die großeltern nimmer dA sin;

0464is des net irgendwie au norMAL in dem alter,
0465AW →°hh ne: aber ich finds [n schlech]tes ZEITgefühl,
0466MS[ne:.]
0467AWwenn jemand sagt ich STEH früh auf,
0468ich FRÜHstücke nix,
0469dann geh ich (.) MITtagsessen,
0470mach meine HAUSaufgaben und dazwischen,

Die SprecherInnen streiten über ein Kind und die Frage, ob dieses ein schlechtes Zeitgefühl habe. MS greift das zuvor eingebrachte Argument auf, dass das Kind ein schlechtes Zeitgefühl habe, weil es nicht genau weiß, wann seine Großeltern gestorben sind, und weist dieses Argument zurück. AW nutzt das negative Responsiv, um affiliierend zu reagieren, d. h. der Einschätzung von MS zuzustimmen, führt dann aber direkt im Anschluss, eingeleitet durch aber eine – mit Hoffmann (2008: 205) gesprochen – „verarbeitungsgestützte Umlenkung auf eine damit gewichtete Folgeäußerung“ durch, indem sie als weitaus relevanteren Aspekt die schlechte Zeitplanung des Kindes im Alltag anspricht: Sie konzediert damit zwar den von MS genannten Aspekt, lenkt dann aber auf das in ihrer Sicht relevantere Thema der Hausaufgabenplanung um (nach Barth-Weingarten 2003: 185–194 ist das „topic and discourse management“ eine der Hauptaufgaben von Konzessionen).

3.5 ja nein

Die Kombination ja nein wurde bereits in einem Aufsatz von Mroczynski (2013) ausführlich diskutiert. Mroczynski (2013: 258) kommt auf der Basis der Analyse von ja nein in Frage-Antwort-Nachbarschaftspaaren gesprochenen Alltagsdeutsch zu dem Ergebnis, dass damit von den SprecherInnen je nach sequentieller Umgebung verschiedene Diskursfunktionen durchgeführt werden können, die alle die folgende Grundeigenschaft haben,

retrospektiv bestimmte vorausgesetzte Informationsaspekte zurückzuweisen und prospektiv eine responsive Äußerung einzuleiten. Diese responsiv eingeleitete Äußerung soll die durch die ja nein-Konstruktion ausgelösten Erwartungen einlösen – insbesondere Erwartungen hinsichtlich der Anklage der Defizienz bestimmter vorausgesetzter Informationen.

Je nach Kontext kann dies bedeuten, dass eine Reparatur der Äußerung eines Gesprächspartners eingeleitet oder durchgeführt wird, ein Gegenargument geliefert oder ein Themawechsel initiiert wird. Das folgende Beispiel aus den FOLK-Daten, genauer aus einem der sprachbiographischen Interviews, zeigt, wie ja nein operiert und worin der interaktionale Mehrwert dieser Responsivkombination begründet liegt:

Beispiel 12:FOLK Sprachbiographisches Interview
0462NLkennst du den SIEBS,
0463hast du [(-) ] DAS bei euch daheim mal gesehen-
0464WIE2[nein,]
0465WIE2nein;
0466NLdes (.) der klAssiker bei der AUSsprache;
0467also auch die BÜHnenausspra[che].
0468WIE2[eh-]
0469WIE2 →[ja NEIN ich glaub n n n äh- ]
0470NL[th theodor SIEBS ja ha °hh ja;]
0471WIE2des kann SEIN;
0472wir ham eine GROße bibliothek] zu haus;
0473

und ich hab eigentlich auch noch nicht alles °h DURCH

((Lachansatz)) (.) gefOrstet.

Sprecher NL stellt in Z. 0462 die Frage, ob WIE2 „den SIEBS“ kennt. Dies wird zunächst von WIE2 verneint (Z. 0464), parallel liefert NL eine Information nach, die begründet, warum er vermutet, dass WIE2 den Siebs möglicherweise kennen könnte: Er hat ihn in dessen Bibliothek schon gesehen. Erneut verneint WIE2 die Frage (Z. 0465), woraufhin NL eine zusätzliche Information gibt, mit der er anzeigt, weshalb seine Frage relevant ist: Es handelt sich bei Siebs um einen „klAssiker bei der AUSsprache“ (Z. 0466). Daraufhin reagiert WIE2 nun mit einer längeren Antwort, die durch „ja NEIN“ eingeleitet wird (Z. 0469). Im Anschluss liefert WIE2 eine Rechtfertigung dafür, dass er den Siebs nicht kennt, obwohl er Zugriff darauf hat: „wir ham eine GROße bibliothek zu haus;“ (Z. 0474). Worin besteht nun der ‚Mehrwert‘ dieser Kombination? Anders als Mroczynski (2013) würde ich ja nein nicht als eine Konstruktion auffassen, sondern tatsächlich als ‚freie‘ Kombination des positiven und negativen Responsivs sowie in manchen Fällen auch als Kombination des Sprechersignals (Startsignals) ja und dem Responsiv nein. Diese Sichtweise erscheint mir plausibler als die, ja nein als eine Einheit zu betrachten. Der Grund ist, dass beide jeweils eigenständige Funktionen wahrnehmen: Im vorliegenden Fall dient ja als positives Responsiv, mit dem WIE2 anzeigt, dass er ausreichend Informationen von NL erhalten hat, dass also dessen Ausführungen erfolgreich waren (hier kommt der positive rückmeldende Charakter von ja ins Spiel). Mit dem folgenden, betonten nein dagegen wechselt er von der interaktionalen Ebene auf die propositionale und bekräftigt nochmals die Tatsache, dass er den Siebs nicht kennt (und rechtfertigt seine Unkenntnis durch seine große Bibliothek). Die beiden Responsive haben somit jeweils eigene Bedeutungen – und zwar Bedeutungen, die sie auch alleine stehend haben.

3.6 Emphatisch aufgeladene Negation

Schon bei den zuvor diskutierten Beispielen tauchten immer wieder Aspekte der Emphasemarkierung im Kontext der Verwendung von nein oder nee auf. Während es in vielen Situationen allerdings interaktional präferiert ist, das Negationsresponsiv gerade nicht hervorzuheben, sondern abzuschwächen, um eine nicht-präferierte zweite Handlung weniger gesichtsbedrohend zu gestalten, kann es in anderen Kontexten dagegen angebracht sein, die Negation hervorzuheben.

Wie und in welchen Kontexten das geschieht, soll im Folgenden gezeigt werden.

(i) Eine erste Möglichkeit besteht darin, das Negationsresponsiv zusätzlich durch Partikeln zu kontextualisieren („oh NEI:N“; „nein wirklich“). Durch diese Emphasemarkierung können Ablehnungen verstärkt werden.

(ii) Eine zweite Möglichkeit der Verstärkung der Negation besteht durch prosodische Veränderungen (Akzentuierung, Dehnung, Realisierung in phonetischen Varianten wie [nœ, nø:, nɛ:]). Die prosodische Markierung findet sich allerdings meist in Kombination mit einer weiteren verstärkenden Struktur, wie z. B. ‚Negationsketten‘. Im folgenden Beispiel aus einem Schlichtungsgespräch im Kontext des Bahnhofsbaus in Stuttgart aus den FOLK-Daten kommen gleich sechs Negationsresponsive ‚in Kette‘ vor:

Beispiel 13:FOLK Schlichtungsgespräch
0101VK°h dann is alles was dann anschließends (.) daraus FOLGT;
0102°h öh (--) schlIchweg (.) nich BRAUCHbar. (-)
0103MH[nein. ]
0104VK[das ist] DAS ist die problemAtik;
0105[°h also mein VORschlag] mein vOrschlag is,
0106MH[herr KEfer herr keʔ- ]
0107(--)
0108VKwir (.) wir LASsen des jetz einfach;
0109nach dEm was ich jetzt gr (.) grade AUSgeführt hab.
0110wir lassen_s jetzt einfach mal so STEhen;
0111°h weil ne weitere diskussion können wer nicht FÜHren;
0112[wir brauchen den richt]igen WERT.
0113MH →[NÄ: nÄ nä nä.]
0114NÄ nä.
0115[NOCH mal. ]
0116HG

[also darf ich] mal (.) ähm äh öh öh folgenden VORschlag

machen.

0117°h meine was die leute ohne weiteres verSTEhen,
0118°h ähm (.) äh (.) des sind die beiden letzten PUNKte.
0119°h nich WAHR,

Sprecher VK schlägt vor, dass sich die Teilnehmer an dem Schlichtungsgespräch über einen strittigen Punkt nicht weiter unterhalten sollten, da nicht genügend belastbare Daten vorliegen, auf deren Basis man fundiert Aussagen treffen könnte. Dieser Vorschlag wird von MH in Z. 0113 und 0114 vehement zurückgewiesen, zunächst mit einer Kette von vier Negationsresponsiven mit abnehmender Akzentuierung, gefolgt von einer kürzeren Kette aus zwei Responsiven. Mit Selting (2001; 2003) kann man dabei von einer prosodischen „Treppenkontur“ sprechen. In allen Fällen werden die Responsive in der Form [nɛ:] realisiert, wodurch ein Aspekt von ‚Skepsis‘ und erhöhtem Widerstand gegenüber dem Vorschlag von VK zum Ausdruck gebracht wird (dies ist als Beleg dafür zu werten, dass diese phonologische Form nicht lediglich dialektal oder regiolektal zu beschreiben ist, sondern dass sie auch funktional zur Emphasemarkierung eingesetzt wird).

(iii) Eine dritte Möglichkeit der Emphasemarkierung besteht darin, einer negierenden Äußerung ein finales nein / nee sozusagen bekräftigend ‚nachzuschieben‘. Der folgende Auszug stammt aus einem onkologischen Therapieplanungsgespräch zwischen einem Arzt (A) und einem Patienten (P) und seiner Lebensgefährtin (L). Zum Ende des Gesprächs fragt der Arzt, ob die beiden noch Fragen bezüglich der geplanten Therapie haben:

Beispiel 14:Therapieplanungsgespräch
631Agibts noch FRAgen [ihrer]seits?
632P[ne:;]
633Lim moment NI::CHT;
634P →im moment NICHT nö.
635(--)
636Les wird vielLEICHT;
637(---)
638Pzu HAUse,

Noch während der Frage des Arztes antwortet die Lebensgefährtin mit „ne:“ (Z. 632) und expandiert ihre Antwort danach mit „im moment NI::CHT“ (Z. 633). Diese Antwort bekräftigt der Patient durch „im moment NICHT nö“ (Z. 634). Das finale, abschließende „nö“ dient dabei als ein Marker, mit dem ein ‚definitiver negativer Bescheid‘ (Hundsnurscher 1997) in Bezug auf die momentane Situation angezeigt werden kann. Erst nachdem der Arzt daraufhin nicht reagiert, expandieren die Lebensgefährtin und der Patient – mit langen Pausen – weiter und zeigen damit zusätzlich an, dass von ihrer Seite aus momentan keine Fragen vorliegen.

3.7 Verwendung von nein / nee zur Initiierung des Wechsels der Gesprächsmodalität und zur Einleitung von Reparaturen

Die oben dargestellten Funktionen von nein sind insofern interaktional verankert, als nein in einer mindestens zweiteiligen Sequenz auf eine Vorgängeräußerung eines anderen Gesprächspartners reagiert. Wenn nein dagegen zur Initiierung des Wechsels in der Gesprächsmodalität oder zur Einleitung einer Reparatur verwendet wird (beide Aufgaben werden hier auf Grund des ihnen zu Grunde liegenden Re­paraturcharakters zusammengefasst), kann dies sowohl interaktional erfolgen (man kann durch nein entweder eine Reparatur eines anderen Sprechers initiieren oder diesen zum Wechsel der Gesprächsmodalität auffordern) als auch nicht im engeren Sinne interaktional (vgl. Imo 2013 zu einer Diskussion des Konzepts der Interaktionalität), wenn man durch nein im eigenen laufenden Redezug eine Selbstreparatur initiiert oder den Wechsel der eigenen Gesprächsmodalität projiziert.

3.7.1 Initiierung eines Wechsels in der Gesprächsmodalität

Das folgende Beispiel illustriert, wie durch nein der turninterne Wechsel zwischen zwei Interaktionsmodalitäten angezeigt werden kann. Es stammt aus einer Fernsehtalkrunde im NDR, Moderator Kai Pflaume (K) unterhält sich mit Nora Tschirner (N) über deren Auftritt zusammen mit Christian Ulmen in einem Tatort und über die Bedenken, dass der Tatort dadurch an Ernst verlieren könnte:

Beispiel 15:Interview Tatort
117Kdie (.) die KLASsischen tAtort fAns ä:h-
118ham jetzt glaub ich so n bisschen SORge_ne,
119N[JA; ]
120K[weil] die natürlich denken TSCHÖRner
[Ulmen im <<lachend> tAtort,>]
121N[zuRECHT; zuRECHT;]
122[((Zuschauer lachen))]
123K[nä? ((lacht))]
124WAS kann das gEben.
125Nähm;
126das wird erst mal Alles GANZ anders als [<<lachend> bis jetzt;>]
127[((Zuschauer lachen)) ]
128Ndas wird ne RIEsen-
129(-) GAG shOw. ((lacht))
130NEIN; (-)
131wir SIND natürlich-
132wir MAchen-
133das ist so LUStig;
134weil die LEUte-
135°hh ähm wiʔ CHRIStian uʔ und Ich sind ja zwar auch ähm:-
136schon als humoRISten äh unterwegs gewesen;
137und sInd das auch NOCH,
138aber wir sind ja auch SCHAUspieler;
139und wir sind durchaus in der LAge ((lacht)) eine rOlle zu spielen;
140und auch ERNStere rOllen;

Nachdem der Moderator die „klAssischen tAtort FANS“ (Z. 117) zitiert hat, die er als in Sorge um die Ernsthaftigkeit des Tatort präsentiert, die durch die zwei Comedians Ulmen und Tschirner gefährdet wird, reagiert Nora Tschirner zunächst, indem sie die Sorgen als begründet darstellt („das wird erst mal Alles GANZ anders als bis jetzt“; Z. 126 und „das wird ne RIEsen; (-) GAG shOw.“; Z. 128–129). Diese Äußerungen werden sowohl durch ihr Lachen als nicht ernst gemeint kontextualisiert als auch durch das Zuschauerlachen (Z. 127) als unernst ratifiziert. In Z. 130 wechselt Nora Tschirner nun die Interaktionsmodalität und führt in einer längeren Passage aus, dass, obwohl sie und Ulmen Comedians sind, beide „durchaus in der lAge“ seien, „auch ERNStere rOllen“ zu übernehmen (Z. 138 und 141). Selbstverständlich kann mit nein auch der Wechsel der Interaktionsmodalität anderer initiiert werden (wenn etwa jemand mit „nee sa SAG mal ernst“ zum Wechsel der Interaktionsmodalität aufgefordert wird).

3.7.2 Nein als Initiator einer Selbst- oder Fremdreparatur

Die Verwendung von nein/nee im Verlauf einer Äußerungsproduktion zur Initiierung einer Selbstreparatur ist ein sehr häufiges Phänomen, etwas seltener wird nein/nee zur Initiierung einer Fremdreparatur eingesetzt. Das erste Beispiel zeigt Aspekte der Verwendung von nein/nee zur Selbst-Initiierung von Selbstreparaturen. Es stammt aus einer Radio-Talksendung, in der die Anruferin (A) dem Moderator (M) von ihrem Traum erzählt, einmal im Disney-Land Paris als eine der Figuren zu arbeiten:

Beispiel 16:Radio-Talk
156Aja (.) und natürlich sEhr stark geSCHMINKT [( )];
157M[((lacht))]
158STELL ich mir aber im wInter seʔ-
159äh ne: im SOMmmer-
160im WINter gehts ja;
161im SOMmer sehr (.) unangenehm vor;
162wenn_s so ganz HEIß ist im- .hhh
163Aja: und im wInter dann auch wIEder KALT.
164Mu::n (.) geNAU ja;
165da kannste ja dicke SCHLÜPper drunter ziehn.

Der Moderator wendet in Z. 158 ein, dass die Arbeit in einem der Disney-Figuren-Kostüme im Sommer sehr anstrengend sein wird. Dabei verspricht er sich („STELL ich mir aber im wInter“; Z. 158) zunächst, leitet dann durch die Zögerungspartikel „äh“ und durch „ne:“ die Reparatur ein, die er schließlich mit „im SOMmer“ (Z. 161) durchführt. Danach springt er nochmals zu seinem Fehler zurück und stellt klar, dass es im Winter weniger anstrengend ist: „im WINter gehts ja“ (Z. 160).

Ein Beispiel für eine fremdinitiierte und fremddurchgeführte Reparatur stammt aus den FOLK-Daten, hier aus einem Meeting von Angestellten einer sozialen Einrichtung:

Beispiel 17:FOLK Meeting in einer sozialen Einrichtung
0295AWNUR dass wirs nachher nicht vergessen wieder [Anzuschal]ten;
0296NG[mhm,]
0297MS((hustet))
0298AWDINGSmäßig;
0299SZDINGSmäßig. ((lacht))
0300(3.0)
0301SZ →NE: auf paus,
0302SZ((lacht leise))
0303AW<<spricht in das Mikrofon des Aufnahmegeräts> halLO,>
0304(---)
0305MSmuss ma bei dem DRUCKer jetzt kucken dass der brennt,

Die Gesprächsteilnehmer haben soeben beschlossen, eine Pause zu machen, und wollen das Aufnahmegerät entsprechend ausschalten. Einer der Teilnehmer will das Gerät ausschalten, versucht es aber am falschen Knopf, woraufhin SZ eine Reparatur auf der nonverbalen Handlungsebene durch „nee“ initiiert (Z. 0301) und mit „auf paus“ direkt im Anschluss auch die Reparatur durchführt.

3.8 Nein als inkrementeller Konjunktor

Als „inkrementiver Konjunktor“ wurde bislang lediglich ja untersucht (Zifonun et al. 1997: 2436–2437; Hoffmann 2008: 215). Dabei wird ja als „Universalkonnektor zur Koordination von maximal zwei Morphemen, Wörtern, Phrasen, Verbgruppen, Sätzen oder kommunikativen Minimaleinheiten“ betrachtet, wobei „das mit dem zweiten Konjunkt Gesagte“ eine besondere Hervorhebung erfährt „und dem Gehalt des ersten als ‚Steigerung‘ – bis hin zur (markierten) Übertreibung“ – gegenübergestellt wird. Der rhetorische Mehrwert einer solchen Konstruktion besteht darin, dass eine Art Präzisierung mit gleichzeitiger subjektiver Sprechereinstellung geleistet wird:

Die Struktur ist vergleichbar mit der einer Präzisierung; das im ersten Konjunkt Gesagte bleibt in Geltung, das im zweiten Gesagte kommt der Sache aus der Sicht des Autors näher. Es kommt ein subjektives Moment von Sprecher-Einschätzung hinein, während es bei Präzisierungen ‚objektiver‘ um angemesseneren, expliziteren Sprachegebrauch geht. (Zifonun et al. 1997: 2436)

Interessant ist, dass die aufgeführten Beispiele für den inkrementellen Konjunktor ja entweder auf erfundenen Beispielsätzen beruhen oder literarisch sind (z. B. zwei Belege aus einer Arbeit von Ernst Bloch). Für den inkrementellen Konjunktor nein lässt sich das gleiche sagen. In den von mir untersuchten Daten konnten keine Belege gefunden werden, in der Schriftsprache dagegen schon, wie in dem folgenden Beispiel aus einer Restaurant-Kritik aus dem Manager-Magazin:

Noch weiter zurück in die Vergangenheit führt ein Rundgang, denn die Kultstätte gibt es schon seit 1760, damals noch Fischhandlung mit Ankerplatz der Ewer hinterm Haus, bis 1833 ein Johann Cölln in die Familie einheiratete und der Laden zu Europas größtem Lieferanten für Kaviar mutierte. Den aßen, nein, fraßen alle führenden Königshäuser, und auch der russische Zar Nikolaus II. überzeugte sich bei einem Besuch 1897, wer seine Schatulle daheim füllte. Kaviarexport war Zarensache. (http://www.manager-magazin.de/lifestyle/genuss/a-829391.html)

Während bei dem inkrementellen Konjunktor ja der additive Charakter im Vordergrund steht, d. h. das vor dem Konjunktor Verbalisierte weiter bestehen bleibt und durch das nach dem Konjunktor Verbalisierte erweitert wird, weist der inkrementelle Konjunktor nein enge Bezüge zu dem Selbstreparatur-initiierenden nein auf, ein Ausdruck wird anscheinend zurückgenommen und durch einen passenderen (in diesem Fall einen in Bezug auf die Konnotationen stärkeren, eine Übertreibung signalisierenden) ersetzt (es ist insofern fraglich, ob man überhaupt von einem Konjunktor sprechen sollte). Anders als bei einer ‚normalen‘ selbstinitiierten Selbstreparatur wird der erste Teil jedoch nicht wirklich irrelevant, er bleibt als der unstrittige Ausdruck stehen, während – genau wie bei ja – der zweite Teil als übertreibende, potentiell gesichtsbedrohende, die persönliche Stellungnahme des Produzenten ausdrückende Äußerung einzustufen ist. Die Struktur mit nein kann durch den Bezug zur Reparatur als eine stärkere Präzisierungsvariante als die mit ja aufgefasst werden.

3.9 Entgegennahme und Bewertung von überraschenden Informationen und Handlungen: prosodisch hervorgehobenes nein und nee

Ein routiniertes Muster, das auf der negierenden Qualität des Responsivs aufbaut, diese aber zu anderen Zwecken ‚ausbeutet‘, besteht in der Reaktion auf eine Handlung oder Information eines Gesprächspartners, die durch nein bzw. die Kombination von nein mit bestimmten Partikeln als unglaublich, unerhört, unerwartet, sensationell, empörend o. ä. markiert werden kann. Diese Funktion haben neben nein auch eine Reihe anderer Ausdrücke wie echt?, ehrlich?, wirklich?, mit denen ein „inszeniertes Infragestellen“ von Äußerungsinhalten sowie Sprecherintentionen von Gesprächspartnern durchgeführt werden kann und die als change-of-state-token (Heritage 1984) bzw. Erkenntnisprozessmarker (Imo 2011) oder als Emphasemarker (Imo 2009) den Erhalt von überraschenden Informationen ausdrücken. Das folgende Beispiel aus Imo (2009) stammt aus einer Radio-Anrufsendung. Der Anrufer Florian (F) berichtet dem Moderator (M) von einem Lotteriegewinn. Der Moderator bittet Florian zunächst, nicht zu sagen, wie viel er gewonnen hat, sondern erst zu erzählen, wie er dazu kam, an der Lotterie teilzunehmen. Erst danach bittet er schließlich den Anrufer, die Summe zu nennen, was dieser in Z. 110–112 tut:

Beispiel 18:Lottogewinn
110Fund ich habe geWONnen,
111ACHtung,
112EINS (.) komma drEI milliOnen euro.
113M →<nei::n <flüsternd>>
114FDAS ist der wAhnsinn oder;
115Mdas ja unGLAUBlich.
116FDAS is unglAUblich.
117EINS komma drEI [mill]ionen euro;
118M[EINS] komma drEI milliOnen euro.

Der Anrufer selbst markiert die Summe seines Gewinns durch die prosodische und syntaktische Realisierung (starke Akzentuierung; Verteilung der Information auf mehrere Intonationsphrasen; parenthetisches „ACHtung“ in Z. 111; Nachfeldbesetzung der zentralen Information (Z. 112)) als ‚außerordentlich‘. Der Moderator zeigt seinen Gleichlauf mit der von Florian initiierten Bewertung des Gewinns als überraschend hoch dadurch an, dass er prosodisch durch das Flüstern stark markiert mit „nei::n“ reagiert. Die Negation ist inszeniert, der Moderator zeigt damit nicht an, dass er an der Aussage von Florian zweifelt, sondern der Zweifel betrifft die Situation selbst, die der Anrufer beschreibt: ‚Man kann es kaum glauben‘, so viel Geld zu gewinnen. Der negierende Charakter des Responsivs wird in der konventionalisierten, durch die Prosodie zusätzlich kontextualisierten Struktur eines „Erkenntnisprozessmarkers“ (Imo 2009; 2011) verwendet, um eine „un-glaubliche“ Begebenheit anzuzeigen.

4 Fazit

Die Datenanalyse hat gezeigt, dass nein im Vergleich zu ja keinesfalls an Komplexität und Variantenvielfalt zurücksteht. Manche Punkte konnten in dem vorliegenden Beitrag aus Platzgründen nicht oder nur knapp erwähnt werden. Die folgenden Ergebnisse sind darüber hinaus auch insofern noch als vorläufig zu betrachten, als eine qualitative Untersuchung wenig über Frequenzeffekte und über die Verteilung in unterschiedlichen Kommunikationssituationen sagen kann:

  1. Allein stehendes nein ist dispräferiert, allein stehendes nee kommt schon etwas häufiger vor, ist aber ebenfalls dispräferiert. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass das allein stehende Responsiv als Beendigung der Interaktion gedeutet werden kann oder als schroffe Zurückweisung. Die Analyse hat gezeigt, dass sich nein und nee lediglich im Formalitätsgrad unterscheiden, funktional sind keine Unterschiede festzustellen.

  2. Als Strategien zur Abmilderung der disaffiliierenden Wirkung des Negationsresponsivs können nonverbale Strategien wie Lachen oder, als Standardfall, eine folgende Expansion, in der Gründe für die Ablehnung, Alternativen, Erläuterungen etc. geliefert werden, genannt werden (auf eine Analyse paraverbaler Strategien musste hier aus Platzgründen verzichtet werden).

  3. Durch die unterschiedliche ‚Stärke‘ der Negation können „Negationstreppen“ gebildet werden mit der Struktur nee + Expansion + nein.

  4. Bei negierten Äußerungen eines Gesprächspartners kann nein oder nee (allein stehend oder mit Expansionen) als affiliierendes Hörersignal oder als Reaktion eingesetzt werden.

  5. Als Teil eines festen Verbgefüges kann nein auch in der Form nein sagen vorkommen (da es sich um keine genuin interaktionale Verwendung handelt, wurde dieser Punkt nur der Vollständigkeit halber erwähnt).

  6. Es gibt eine Reihe von Verbindungen, die interaktional die Funktion haben, argumentative und thematische ‚Umlenkungen‘ durchzuführen. Darunter fallen z. B. nein dann, ja nein und nein aber. Für letzteres könnte man die Arbeitshypothese aufstellen, dass es sich dabei um eine eigene Konstruktion handelt. Dies müsste anhand eines großen Korpus, in dem Frequenzaspekte berücksichtigt werden können, überprüft werden.

  7. Es gibt eine Reihe von Strategien zur emphatischen Hervorhebung des Responsivs, u. a. durch phonologische und prosodische Verfahren, durch die Kombination mit bestimmten Partikeln, durch die Bildung von Negationsketten und durch ein äußerungsfinales, bekräftigendes nein.

  8. Nein/nee kann zur Markierung oder Initiierung des Wechsels der Interaktionsmodalität (von scherzhaft zu ernsthaft) verwendet werden, dabei entweder innerhalb eines Turns auf die eigene Sprecheräußerung bezogen oder interaktional auf die Interaktionsmodalität einer anderen am Gespräch beteiligten Person.

  9. Gleiches gilt für nein / nee, das sowohl als Selbst- als auch als Fremdreparaturinitiator eingesetzt werden kann.

  10. In schriftlichen Texten kommt nein auch als inkrementeller Konnektor vor.

  11. Schließlich ist prosodisch hervorgehobenes (behauchtes, akzentuiertes) nein oder nee Teil einer Gruppe von Emphasemarkern, mit denen unerwartete, überraschende, unglaubliche etc. Informationen quittiert werden können.

Die Sichtung des kleinen Datenkorpus hat bereits eine unglaubliche Menge von unterschiedlichen Verwendungsweisen von nein/nee in der Interaktion ergeben. Was noch aussteht, ist nun zu überprüfen, (i) inwieweit sich weitere Formen in anderen kommunikativen Situationen finden lassen (Streitgespräche, Jugendsprache, institutionelle Gespräche wie Interviews, Arzt-Patienten-Interaktion, Gespräche am Arbeitsplatz etc.) und welche Funktionen diese Formen dort haben, (ii) wie die Verteilung der Formen in unterschiedlichen Dialekten aussieht und ob es dort funktionale Differenzierungen beispielsweise zwischen den in ganz Deutschland verbreiteten Formen nein und nee und den dialektalen oder regionalen wie z. B. dem bairischen [na:] oder dem schwäbischen [nɔɪ] vorliegen, und schließlich, (iii) welche Varianten sich in interaktionalen schriftlichen Daten wie der E-Mail, SMS-, Foren-, Chat- oder Messengerkommunikation finden lassen. Eine oberflächliche Suche in einer von mir aufgebauten Datenbank zur mobilen Kurznachrichtenkommunikation (Mobile Communication Database MoCoDa) ergab beispielsweise die dem englischen entlehnte Form nope, mit der durch die Informalität gesichtswahrend negativ respondiert werden kann. Zudem ist zu fragen, welche der in dem vorliegenden Beitrag beschriebenen gesprochensprachlichen Formen auch in der Schriftlichkeit auftauchen, welche nicht, und worin sich die Formen möglicherweise unterscheiden. (iv) Schließlich wäre auch noch zu fragen, wie nein multimodal umgesetzt wird, d. h. inwieweit Kopfschütteln, Lächeln, Körperhaltung etc. dazu eingesetzt werden können, das Negationsresponsiv beispielsweise emphatisch aufzuladen oder seine disaffiliierende Wirkung abzuschwächen etc.

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Online erschienen: 2017-4-7
Erschienen im Druck: 2017-4-1

© 2017 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston

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