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Erneut, warum eigentlich nicht? Replik zum Vorschlag, das Modell der Frame-Selektion zu axiomatisieren

  • Patrick Linnebach

    Patrick Linnebach, geb. 1979 in Lebach. Studium der Soziologie in Trier. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.

    Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie und Methodologie, soziologische Nachhaltigkeitsforschung, Wirtschaftssoziologie.

    Wichtigste Publikationen: Lost in Expectation? Sozialtheoretische Überlegungen zur Körperlichkeit sozialer Ordnung. S. 103–127 in: F. Böhle & M. Weihrich (Hrsg.), Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen. Bielefeld: Transcript 2010; Ameisen und Klimaschutz. Überlegungen zum Akteursbegriff der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung. S. 13–22 in: H.-J. Wagner & M. Verhoog (Hrsg.), Wettbewerb „Energieeffiziente Stadt“. Band 6: Akteure und Netzwerke. Münster: Lit 2015.

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Veröffentlicht/Copyright: 13. April 2016
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Zusammenfassung:

Der Beitrag kommentiert den in dieser Zeitschrift erschienenen Artikel von Tutić (2015), in dem der „Mehrwert“ einer axiomatischen Handlungstheorie – am Beispiel des Modells der Frame-Selektion als einer Theorie, die keine axiomatische Fundierung besitzt – in zwei methodologischen Vorzügen gesehen wird: der Identifikation kontradiktorischer Beobachtungen und der Messbarkeit theoretischer Konstrukte. Der Beitrag zeigt, dass die in konstitutiver Bezugnahme auf das von Samuelson (1938) begründete Transitivitätsaxiom postulierten Vorzüge auf einem Axiomatisierungsverständnis basieren, das mit der Erwartungsnutzentheorie, so wie sie von Samuelson u. a. kongenial mit Savage (1954) axiomatisiert wurde, nicht kompatibel ist. Das hat zur Konsequenz, dass sich das Modell der Frame-Selektion in der vorgeschlagenen Weise nicht axiomatisieren lässt, führt aber zu einem kritischeren Verständnis experimentalökonomischer Arbeiten, die für die Soziologie zentrale Fragestellungen thematisieren.

Abstract:

This article is a reply to Tutić (2015), published in this journal, who made the case that an axiomatic theory of action has a two-fold “added value”, in as much as it allows researchers both to identify contradictory observations and to measure theoretical constructs. This was illustrated in the case of the model of frame selection as a non-axiomatic sociological theory of action and in constitutive reference to Samuelson’s (1938) transitivity axiom. The article shows that the purported advantages postulated by Tutić are not compatible with the expected utility theory as developed by Samuelson, Savage (1954), and others. In consequence, the model of frame selection cannot be axiomatized in the way proposed. Nevertheless, exploring issues of axiomatization in more depth contributes to a more critical understanding of experimental economic research which explores key sociological issues.

1 Warum eigentlich nicht?

Andreas Tutić (2015) hat in dieser Zeitschrift am Beispiel des Modells der Frame-Selektion (MFS) von Hartmut Esser und insbesondere der Weiterentwicklung, die es durch Clemens Kroneberg erfahren hat, argumentiert, dass die neuere soziologische Handlungstheorie[1] – aufgrund formaler Defizite – einer axiomatischen Fundierung bedürfe. Als zentrales formales Defizit des MFS nennt er das „Fehlen einer axiomatischen Fundierung und damit einhergehend das Problem, dass keine überzeugende Messtheorie für die Vielzahl der exogenen Variablen des Modells der Frame-Selektion vorliegt.“ (Tutić 2015: 84)[2] Beispielhaft führt er die Variablen Match, Nutzen und Reflektionskosten an, „für die in keiner Weise spezifiziert wird, wie man sie auf der Grundlage beobachtbaren Verhaltens messen könnte.“ (91)

In seinem lesenswerten, für die soziologische Theorie und Methodologie – insbesondere hinsichtlich der Instrumentalismus-Realismus-Kontroverse (vgl. Braun 2008: 389 ff.) und der Diskussion um kontrafaktische Kausalität (vgl. Barringer et al. 2013) – aufschlussreichen Beitrag geht es daher um „die Vorteile einer axiomatischen Entscheidungstheorie gegenüber einer Entscheidungstheorie, die keine axiomatische Fundierung besitzt.“ (88) Den „Mehrwert“ einer axiomatischen Entscheidungstheorie visualisiert er in Abbildung 1 auf Seite 88, in Abschnitt 2.4 (87 ff.) unterscheidet er im Detail zwei Arten von Vorzügen: methodologische und pragmatische. Wie sich die Vorzüge zueinander verhalten, wird jedoch nicht deutlich. Da der unten, in Abschnitt 4, zu diskutierende zweite methodologische Vorzug auf das zentrale, messtheoretische Defizit des MFS Bezug nimmt, liegt jedenfalls die Vermutung nahe, dass die methodologischen Vorzüge zentral und die pragmatischen von ihnen abhängig sind. Die folgenden Überlegungen setzen sich deshalb ausführlicher mit den beiden methodologischen Vorzügen auseinander: der „Identifikation kontradiktorischer Beobachtungen“ und der „Messbarkeit theoretischer Konstrukte“ (89).

Tutić selbst weckt – nicht zuletzt durch die titelgebende Fragestellung: „Warum denn eigentlich nicht?“ – die Erwartung, in seinem Beitrag eine grundlegende Diskussion der „Argumente für und wider die Notwendigkeit einer axiomatischen Fundierung sozialwissenschaftlicher Handlungstheorie“ (84) zu geben. Dieser Erwartung wird aber nicht entsprochen; stattdessen geht es nur um die Vorzüge einer axiomatisierten Handlungstheorie. Die vorliegende Replik stellt die titelgebende Frage daher erneut: Als ergänzender Beitrag zu einer grundlagenorientierten Diskussion der Vor- und Nachteile einer axiomatischen Fundierung des MFS widmet sie sich der Frage, welche Einwände sich gegen Tutićs Ansinnen sinnvoll vortragen lassen. In Beantwortung dieser Frage wird gezeigt, dass die, in konstitutiver Bezugnahme auf Paul Samuelsons (1938) Transitivitätsaxiom, postulierten Vorzüge auf einem Axiomatisierungsverständnis basieren, das mit der Erwartungsnutzentheorie, wie sie von Samuelson gemeinsam mit v. Neumann & Morgenstern (1944), Savage (1954) und anderen formalisiert und axiomatisiert wurde, nicht kompatibel ist. Das hat zur Konsequenz, dass sich das MFS – aufgrund eines weiteren, nicht genannten formalen Defizits – in der vorgeschlagenen Weise nicht axiomatisieren lässt.

Die Argumentation gliedert sich wie folgt: Zunächst wird das dem hier kommentierten Artikel zugrunde liegende Verständnis der axiomatischen Standardtheorie thematisiert; zwar beabsichtigt Tutić, das formale Defizit des MFS mit den Techniken der axiomatischen Theorien begrenzter Rationalität zu beheben (87), analog zu seiner eigenen Argumentation wird das Grundverständnis einer axiomatischen Theorie aber an der neoklassischen Standardtheorie dargelegt (Abschnitt 2). Im Anschluss werden die beiden postulierten methodologischen Vorzüge einer axiomatischen Entscheidungstheorie diskutiert (Abschnitt 3 und 4). Der vorliegende Beitrag schließt mit Überlegungen zu einem nicht-intendierten Vorzug der, im Untertitel von Tutićs Beitrag, intendierten „Axiomatisierung soziologischer Handlungstheorie“ (Abschnitt 5).

2 Standardtheorie

Laut Tutić „arbeitet die Standardtheorie mit der Vorstellung von Präferenzrelationen (mentales Konstrukt), deren Maximierung das Verhalten generiert“ (88), wobei das generierte Verhalten direkt beobachtbar sei, die zu maximierende Präferenzrelation hingegen nicht. Das Beispiel, das von ihm zur Veranschaulichung gewählt wird, ist das eines Restaurantbesuchers, der in jedem Restaurant, in dem die beiden Gerichte A und B auf der Speisekarte stehen, dann, „wenn er seine Präferenzrelation maximiert“, eines der beiden Gerichte stets dem anderen vorziehen wird. Das beobachtbare Verhalten[3] ist also die Auswahl eines der beiden Gerichte A oder B von der Speisekarte.

Was aber ist das, was sich nicht direkt beobachten lässt, sich gleichwohl maximieren lässt und nicht weiter spezifiziert als „Präferenzrelation“ bzw. „mentales Konstrukt“ bezeichnet wird? Offensichtlich sind es nicht, um nur ein Beispiel zu nennen, gesundheitliche Erwägungen, wodurch diejenigen Alternativen ausgeschlossen werden, „die unleidliche oder unverträgliche Substanzen beinhalten“ (86) – da, wie an gleicher Stelle weiter ausgeführt wird, eine ganze Reihe von Erkenntnissen nahe lege, „dass die Maximierung einer Zielfunktion nur bei einer vergleichsweise geringen Zahl an realen Entscheidungsproblemen die innere Aktivität der Akteure widerspiegelt.“ (86) Die Ausführungen in den beiden folgenden Unterabschnitten befassen sich daher etwas eingehender mit der Frage, was genau da eigentlich maximiert wird.

2.1 Konsistenz

Die Standardtheorie könne, heißt es an anderer Stelle, nur solches Verhalten erklären, das ausreichend konsistent im Sinne des sogenannten schwachen Axioms der offenbarten Präferenzen (SAOP) sei (85). Für die von Samuelson begründete Revealed Preference Theory (RPT) ist gemäß des SAOP (im Original WARP für Weak Axiom of Revealed Preference) die Annahme zentral, dass sich Präferenzen in Form von Entscheidungen offenbaren: „If a collection of goods y could have been bought by a certain individual within his budget when he in fact was observed to buy another collection x, it is to be presumed that he has revealed a preference for x over y. The outside observer notices that this person chose x when y was also available and infers that he preferred x to y.“ (Sen 1973: 241)

Das SAOP postuliert aber auch – und das ist für Tutić dessen zentraler Inhalt – konsistentes Entscheidungsverhalten, wonach aus der Entscheidung des Restaurantbesuchers für Gericht A (und gegen Gericht B) folgt, dass er in einer anderen Situation dann nicht Gericht B wählen wird, wenn Gericht A ebenfalls auf der Speisekarte steht. Wenn diese Konsistenzbedingung erfüllt ist, lässt sich die Präferenzrelation des Restaurantbesuchers, wie Amartya Sen (1973: 244 f.) bewiesen hat, auch als transitiv charakterisieren. Das Transitivitätsaxiom, das neben dem Unabhängigkeitsaxiom für die moderne Entscheidungstheorie von zentraler Bedeutung ist (vgl. Sugden 1991: 761 ff.), besagt am Beispiel des Restaurantbesuchers Folgendes: Dann, wenn er Gericht A Gericht B und Gericht B Gericht C vorzieht, wird er Gericht A auch Gericht C vorziehen. Empirisch ist dieses Axiom wiederholt widerlegt worden (vgl. Tversky 1969), und das ist laut Tutić auch das zentrale Problem der Standardtheorie: dass sie „in einem deskriptiven Sinne unbefriedigend ist“ (86).

Irreführend ist in dem Zusammenhang, dass das SAOP und die Figur des Homo oeconomicus in eins gesetzt werden bzw. nicht weitergehend zwischen ihnen differenziert wird, wenn er schreibt, dass man „mithilfe des Homo oeconomicus genau dasjenige Verhalten erklären [kann], welches der Eigenschaft SAOP genügt.“ (88 f.) Was genau mit der Figur des Homo oeconomicus bezeichnet wird, bleibt vage; wenige Zeilen zuvor ist aber zu lesen, dass man in der neoklassischen Standardtheorie „häufig mit Präferenzen und Nutzenfunktionen gearbeitet hat, die materiellen Egoismus zum Ausdruck bringen.“ (88) John Broome (1991: 4) hat das, was die Rede vom Homo oeconomicus hier zu intendieren scheint, einmal wie folgt zusammengefasst: „We may call a person who always prefers what is better for herself ‚self-interested‘.“

Samuelson geht es mit seiner „Pure Theory of Consumers‘ Behavior“ (so die Formulierung im Titel seines Artikels) aber gerade darum, „[to] start anew in direct attack upon the problem, dropping off the last vestiges of the utility analysis.” (Samuelson 1938: 62) Das Adjektiv „pure“ meint dann: „modern, axiomatic utility theory makes no assumption that people are self-interested. All it assumes is that people’s preferences conform to a number of axioms: roughly, they simply need to be consistent. They can conform to the axioms without being self-interested.“ (Broome 1991: 4)

Warum eine Person, die konsistent entscheidet – Samuelson (1938: 62) spricht statt vom Homo oeconomicus lieber von „an idealised individual“ –, die eine oder andere Alternative wählt (aus Gerechtigkeitserwägungen, Eigennutz oder warum auch immer), ist dabei nicht von Relevanz; was aber nicht bedeutet, dass der Entscheidung keine Gründe zugrunde liegen würden![4] Samuelson entsubstanzialisiert bzw. formalisiert mit anderen Worten das klassische Nutzenkonzept. Welche Implikationen damit hinsichtlich des Maximierungsbegriffs der neoklassischen Standardtheorie einhergehen, lässt sich gut am sogenannten St. Petersburg Paradox veranschaulichen (vgl. Bernoulli 1738).

In Erweiterung zu Tutićs vorstehendem, in zentralen Punkten auf Samuelsons RPT rekurrierendem Standardtheorie-Verständnis wird mit den entscheidungstheoretischen Überlegungen von Bernoulli zusätzlich das Moment der Unsicherheit[5] für die Theoriebildung relevant – was im vorliegenden Fall insbesondere aus zwei Gründen instruktiv erscheint: Erstens sind alle state of the art-Entscheidungstheorien Erwartungsnutzentheorien, d. h. das Moment der Unsicherheit ist für sie konstitutiv (salopp formuliert: ohne Unsicherheit keine Erwartung); und zweitens wird auch im MFS explizit auf die Erwartungsnutzentheorie Bezug genommen (vgl. Kroneberg 2011: 45 f. et passim).

Das St. Petersburg Paradox zeigt sich an einem Münzwurf-Spiel, bei dem die Münze so lange geworfen wird, bis das erste Mal „Kopf“ fällt; fällt „Zahl“, wird sie erneut geworfen (vgl. auch Esser 1999: 341 ff.). Fällt – mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent – bereits beim ersten Wurf „Kopf“, erhält die Person einen Euro; fällt – mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent – erst beim zweiten Wurf „Kopf“, erhält sie zwei Euro; mit einer Wahrscheinlichkeit von 12,5 Prozent erst beim dritten Wurf, vier Euro; und so weiter. Summiert man die einzelnen Produkte aus Wahrscheinlichkeit und jeweiligem Gewinn (der beim i-ten Wurf 2i-1 beträgt) auf, folgt daraus ein erwarteter Gewinn, der gegen unendlich tendiert. Die Frage ist nun, wieviel man bereit ist, bei diesem Spiel an Einsatz zu leisten.

Das Rätselhafte bzw. Paradoxe daran ist, dass, obwohl der erwartete Gewinn gegen unendlich tendiert, tatsächlich nur vergleichsweise geringe Spieleinsätze geleistet werden. Bernoullis Lösung des Rätsels basiert daher auf dem Gedanken, dass die Spieler sich in der Bestimmung ihrer Spieleinsätze nicht an der Höhe des erwarteten Gewinns, sondern am erwarteten Nutzen orientieren: „Until now scientists have usually rested their hypothesis on the assumption that all gains must be evaluated exclusively in terms of themselves, i. e., on the basis of their intrinsic qualities, and that these gains will always produce a utility directly proportionate to the gain.“ (Bernoulli 1738: 27) Um die Einsätze der Spieler besser zu verstehen, brauche es hingegen eine Nutzenfunktion, die den erwarteten Gewinn in Nutzeneinheiten transformiere, und diese Funktion habe den Verlauf einer Logarithmusfunktion: Mit steigendem Gewinn nehme der Nutzen zwar noch zu, der Grenznutzen aber ab.

Am logarithmischen Verlauf der von Bernoulli vorgeschlagenen Nutzenfunktion – sozusagen am „Logarithmus“ der Logarithmusfunktion – ist seither wiederholt und nachvollziehbar Kritik geübt worden (vgl. z. B. Savage 1954: 92 ff.); nicht aber an der „Funktion“ der Logarithmusfunktion und der für sie zentralen Unterscheidung von Erwartungsnutzen (expected utility) und Erwartungswert (expected value), um hier bereits die Terminologie der Erwartungsnutzentheorie zu verwenden. Die von Bernoulli vorgeschlagene Lösung des St. Petersburg Paradoxes geht demnach davon aus, „that the individual possesses what is now termed a von Neumann-Morgenstern utility function U(·), and rather than using expected value […], will evaluate gambles on the basis of expected utility.“ (Machina 1987: 122)

Die Unterscheidung von Erwartungswert und Erwartungsnutzen ist verbunden mit dem Werk „Theory of Games and Economic Behavior“ (v. Neumann & Morgenstern 1947), in dem die moderne, axiomatisierte Erwartungsnutzentheorie (200 Jahre nach Bernoullis Lösung des St. Petersburg Paradoxes) begründet wurde. Sie ist der theoretische Kern der Erwartungsnutzentheorie, und das für diese zentrale Repräsentationstheorem lässt sich ohne sie überhaupt nicht adäquat erfassen.

2.2 Repräsentationstheorem

Das Repräsentationstheorem lässt sich veranschaulichen an einer Situation, in der eine Entscheidung zu treffen ist, allerdings vor dem Hintergrund, dass ungewiss bleiben muss, zu welchen Konsequenzen das Verhalten führen wird. Das folgende Beispiel (siehe Tab. 1) stammt von Leonard Savage (1954: 13 f.): Der Restaurantbesucher möchte sich zur Abwechslung zu Hause ein Omelett aus insgesamt sechs Eiern zubereiten, fünf der sechs Eier befinden sich bereits in einer Schüssel, beim sechsten ist er sich aber nicht sicher, ob es noch gut ist. Er hat drei Handlungsalternativen: Er kann das Ei einfach in die Schüssel geben, auch auf die Möglichkeit hin, dass es nicht mehr gut ist (A), er kann es in ein extra Schälchen geben, hat dann aber mehr zu spülen (B), oder er wirft es einfach in den Müll (C).

Es gibt in diesem Beispiel zwei sogenannte „states of nature“ (mit unbekannten Wahrscheinlichkeiten!): Das Ei ist gut, oder es ist eben nicht gut. Daraus ergeben sich für die zu treffende Entscheidung insgesamt sechs mögliche Konsequenzen, und zwischen den drei Handlungsmöglichkeiten A, B und C besteht eine Präferenzrelation: Unser Restaurantbesucher kann z. B. zwischen den drei Optionen indifferent sein, oder er könnte, wenn er sehr hungrig ist und auch grundsätzlich gerne spült, B vor C bevorzugen und C vor A.

Tab. 1: Savages (1954: 14) Omelett-Beispiel

ActState
GoodRotten
break into bowlsix-egg omeletno omelet, and five good eggs destroyed
break into saucersix-egg omelet, and a saucer to washfive-egg omelet, and a saucer to wash
throw awayfive-egg omelet, and one good egg destroyedfive-egg omelet

Das für die moderne Entscheidungstheorie zentrale Repräsentationstheorem besagt nun Folgendes: „[It] asserts that if a given relational structure satisfies certain axioms, then a homomorphism into a certain numerical relational structure can be constructed.“ (Krantz et al. 1971: 9) Wenn eine Präferenzrelation bestimmte Konsistenzbedingungen erfüllt, dann – aber auch nur dann – lässt sie sich in Form einer Nutzenfunktion repräsentieren, und zwar dergestalt, dass jeder der drei Handlungsmöglichkeiten im Omelett-Beispiel ein numerischer Wert – der sogenannte Nutzen[6] – zugewiesen wird. Die von allen Handlungsmöglichkeiten präferierte erhält dann den höchsten Nutzenwert, und die Entscheidung des Restaurantbesuchers lässt sich erwartungsnutzentheoretisch so beschreiben, dass er seinen Nutzen maximiert.

Im eigentlichen Sinn findet aber überhaupt keine Maximierung statt: Weder die „Präferenzrelation“ des Restaurantbesuchers noch irgendein anderes „mentales Konstrukt“, um hier noch einmal die beiden von Tutić verwendeten Termini aufzugreifen, werden maximiert. Es wird einfach nur die Handlungsalternative gewählt, die präferiert wird; die Entscheidung wird methodologisch – um genau zu sein: fiktionalistisch (vgl. Fine 1993) – also so betrachtet, als ob der Restaurantbesucher seinen Erwartungsnutzen maximiert hätte. Das Als-Ob ist das Entscheidende, und der Sinn des Ganzen ist, etwas Qualitatives zu quantifizieren und insofern kommensurabel[7] zu machen.

Wenn Tutić (88), wie oben erwähnt, davon ausgeht, dass gemäß der neoklassischen Standardtheorie die „Maximierung von Präferenzrelationen“ ein Verhalten generiert, legen vorstehende Ausführungen nicht einen formalen, sondern einen substanziellen Nutzenbegriff nahe – in der Weise also, dass das „mentale Konstrukt“, das der Restaurantbesucher mit seinem Verhalten maximiert, beispielsweise Wohlbefinden (well-being) oder Genuss (pleasure) sein könnte.

Samuelson ging es aber um das genaue Gegenteil: den Nutzenbegriff der klassischen Entscheidungstheorie zu entsubstanzialisieren, und das heißt: zu formalisieren. Rationalität hat dann nichts mehr mit materiellem Egoismus oder self-interest, nichts mit der Maximierung von Wohlbefinden oder Genuss zu tun, sondern nur noch mit konsistentem Entscheidungsverhalten. Ein Verhalten ist gemäß der modernen, neoklassischen Entscheidungstheorie genau dann rational, wenn es (im Sinne der die Theorie charakterisierenden Axiome) konsistent ist: „a major difference between classical and neoclassical economists is that only the former argue that economic agents actually maximize the utility functions attributed to them. In saying that a consistent agent behaves as if maximizing a utility function, neoclassical economists adopt an entirely neutral attitude to what goes on inside a person’s head.“ (Binmore 2010: 149)

Das ist freilich auch ein anderes Maximierungsverständnis als das, das Kroneberg der Erwartungsnutzentheorie attestiert. In dessen Lesart geht die neoklassische Entscheidungstheorie – in der Version von Savage – „davon aus, dass Akteure die bewerteten Folgen der zur Wahl stehenden Alternativen mit den Erwartungen ihres Eintreffens gewichten und schließlich diejenige Alternative wählen, deren erwarteter Wert maximal ist.“ (Kroneberg 2005: 347, Anm. 3) Der Unterschied ist fundamental: In der soziologischen Lesart von Esser und Kroneberg wird eine Alternative gewählt – Savages Theorie wird von ihnen dann fälschlicherweise auch als eine Variante der Wert-Erwartungstheorie (WET) qualifiziert –, weil sie den höchsten Erwartungswert (bzw., da diesbezüglich nicht differenziert wird, den höchsten Erwartungsnutzen[8] ) aufweist; in der Standardlesart der Erwartungsnutzentheorie hat die gewählte Alternative hingegen den höchsten Erwartungsnutzen, weil sie vom Akteur präferiert wird (vgl. auch Rechenauer 2009).

Abb. 1:  „Mehrwert“ einer axiomatischen Fundierung (Tutić 2015: 88)
Abb. 1:

„Mehrwert“ einer axiomatischen Fundierung (Tutić 2015: 88)

Erst vor dem Hintergrund vorstehender Ausführungen macht es nun Sinn, sich in den beiden folgenden Abschnitten ausführlicher der unteren Hälfte von Tutićs Abbildung auf Seite 88 seines Beitrags zuzuwenden (vgl. Abb. 1). Der dort grafisch dargestellte „Mehrwert“ einer axiomatischen Entscheidungstheorie bildet die beiden von ihm postulierten methodologischen Vorzüge ab.

3 Erster Vorzug: Empirische Widerlegbarkeit

Den ersten methodologischen Vorzug sieht er, wie bereits erwähnt, in der Identifikation kontradiktorischer Beobachtungen – und insoweit in der empirischen Widerlegbarkeit von Theorien (vgl. den mit „Entscheidungsprozedur“ bezeichneten Pfeil in der unteren Hälfte von Abb. 1). Axiome beschreiben demnach „exakt, welche Art von Verhalten durch die Theorie erklärt werden kann, und welche Beobachtungen der Theorie widersprechen.“ (88) Wie in den folgenden Unterabschnitten gezeigt wird, lässt sich gegen diesen Vorzug einwenden, dass die axiomatische Standardtheorie überhaupt nicht den Anspruch verfolgt, kontradiktorische Beobachtungen zu identifizieren.

3.1 Erwartungsnutzenhypothese

Dieser Einwand lässt sich plausibilisieren, wenn man in einem ersten Schritt zwischen einer normativen und einer deskriptiven Lesart von Axiomen unterscheidet: Sie können deskriptiv betrachtet werden „as a prediction about the behavior of people, or animals, in decision situations“, oder sie lassen sich normativ betrachten als „a logic-like criterion of consistency in decision situations“ (Savage 1954: 19).

Interpretiert man die Axiome in diesem Sinne als normativ, wird die Rationalität einer Entscheidung zum anzustrebenden Ziel, und zum Zwecke einer besseren Überprüfbarkeit – etwa im Fall von social choices – werden entsprechende Rationalitätskriterien definiert. Die Frage lautet dann, wie genau man die Rationalität einer Entscheidung axiomatisch definiert; die Diskussion, ob das – erstmals in Form des Allais-Paradoxes – empirisch widerlegte Unabhängigkeitsaxiom (bei Savage: sure-thing principle) als Rationalitätskriterium beibehalten werden soll, ist z. B. vor diesem Hintergrund zu sehen (vgl. etwa Lübbe 2015: 191 ff.).

Interpretiert man die Axiome hingegen deskriptiv, wird die Rationalitätsannahme zum methodischen Mittel. Es geht dann darum, Entscheidungssituationen mithilfe einer funktional repräsentierten Präferenzordnung mathematisch exakt zu beschreiben, und das meint: das Entscheidungsverhalten in diesen Situationen hypothetisch vorherzusagen. Die „formale Hypothese” der Erwartungsnutzentheorie, die sich explizit an den von v. Neumann & Morgenstern postulierten Axiomen orientiert, besagt nämlich Folgendes: Es wird davon ausgegangen, dass z. B. unser Restaurantbesucher sich so verhält, als ob seine Präferenzordnung konsistent sei, sie sich daher funktional repräsentieren lasse und sein Entscheidungsverhalten sich folglich – theoretisch – derart beschreiben lasse, dass er seinen Nutzen maximiert (vgl. Friedman & Savage 1948: 287 f.).

Empirisch betrachtet, macht das freilich wenig (bzw. nur in den seltensten Fällen) Sinn; der methodische Sinn der Erwartungsnutzenhypothese ist aber auch ein anderer: „The hypothesis does not assert that individuals explicitly or consciously calculate and compare expected utilities. Indeed, it is not at all clear what such an assertion would mean or how it could be tested. The hypothesis asserts rather that, in making a particular class of decisions, individuals behave as if they calculated and compared expected utility and as if they know the odds. The validity of this assertion does not depend on whether individuals know the precise odds, much less on whether they say that they calculate and compare expected utilities or think that they do, or whether it appears to others that they do […], but solely on whether it yields sufficiently accurate predictions about the class of decisions with which the hypothesis deals. Stated differently, the test by results is the only possible method of determining whether the as if statement is or is not a sufficiently good approximation to reality for the purpose at hand.“ (Friedman & Savage 1948: 298) Der methodische Sinn der Erwartungsnutzenhypothese ist also im Wesentlichen darin zu sehen, rationales Verhalten idealtypisch vorherzusagen, an dem sich das tatsächliche Verhalten dann „messen“ lässt.

Die Parallelität zu Max Webers Methode idealtypischer Begriffsbildung ist frappant: „Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt […] die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht“, heißt es im Objektivitätsaufsatz (Weber 1904: 193). Das Verhalten, das gemäß der Erwartungsnutzenhypothese vorhergesagt wird, gilt es in der Terminologie Max Webers nicht vorherzusagen, sondern deutend zu verstehen – gemeint ist, methodologisch betrachtet,[9] aber dasselbe: „‚Verstehen‘ heißt […] deutende Erfassung […] des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (‚idealtypischen‘) Sinnes oder Sinnzusammenhangs. Solche idealtypische Konstruktionen sind z. B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und ‚Gesetze‘. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre.“ (Weber 1921: 547 f.)

Der Methode, sich zur Erklärung sozialer Phänomene idealtypischer Konstruktionen zu bedienen, liegt bekanntlich die Idee des Vergleichs zugrunde: Dass die Wirklichkeit am Idealtypus „zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen […] wird.“ (Weber 1904: 194) Kontrafaktischer, idealtypischer Verlauf und Wirklichkeit werden miteinander verglichen, um auf diesem Wege – im Sinne der ursprünglich von Johannes v. Kries begründeten Theorie adäquater Verursachung (vgl. Massimilla 2012: 40 ff.) – eine Erklärung darüber zu gewinnen, was die Abweichung vom idealtypischen Verlauf ursächlich bewirkt haben könnte.

So wie in der Methodenlehre Max Webers zwischen deutendem Verstehen und ursächlichem Erklären zu unterscheiden ist (vgl. z. B. Drysdale 1996), erklären auch die Axiome der Erwartungsnutzentheorie noch nichts; sie lassen sich aber ebenfalls, wie im Folgenden gezeigt wird, als „Werkzeuge“ betrachten, soziale Phänomene ursächlich zu erklären. Insofern sind deskriptiv interpretierte Axiome zunächst, in einem Zwischenschritt, auch in Zusammenhang mit dem zu lesen, was Max Weber als „soziologische Regeln“ bezeichnet.[10]

3.2 Soziologische Regeln

Eine soziologische Regel, die in den „Grundbegriffen“ genannt wird, ist das sogenannte Greshamsche Gesetz: Es basiert auf „der idealtypischen Voraussetzung rein zweckrationalen Handelns“ (Weber 1921: 549) und besagt hypothetisch, dass das „schlechte“ Geld mit der Zeit das „gute“ Geld verdrängt. „Inwieweit tatsächlich ihm entsprechend gehandelt wird, kann nur die (letztlich im Prinzip irgendwie ‚statistisch‘ auszudrückende) Erfahrung über das tatsächliche Verschwinden der jeweils in der Geldverfassung zu niedrig bewerteten Münzsorten aus dem Verkehr lehren.“ (Weber 1921: 549)

Nur über den Vergleich von soziologischer Regel (Greshamsches Gesetz) und statistischer Regelmäßigkeit lässt sich eine ursächliche Erklärung gewinnen: Lässt sich statistisch nämlich „tatsächlich seine sehr weitgehende Gültigkeit“ nachweisen, sind wir, in der Formulierung Webers (1921: 549), in der Lage, „unser kausales Bedürfnis“, warum bestimmte Münzsorten aus dem Verkehr verschwinden, zu „befriedigen“. Dadurch aber, dass im vorliegenden Fall das Gesetz „sehr weitgehend gültig“ ist (idealtypische Konstruktion und Wirklichkeit also weitgehend übereinstimmen), wird die oben angesprochene, für die Methodologie Webers konstitutive Differenz zwischen (deutendem) Verstehen und (ursächlichem) Erklären gleichsam verdeckt; an einem bekannten Anwendungsfall des Greshamschen Gesetz lässt sich die Differenz besser veranschaulichen: an George Akerlofs „Markets for ‚Lemons‘“.

Indem Akerlof das Greshamsche Gesetz – in heuristischer Absicht; die Analogie sei zwar „instructive, but not complete“ (Akerlof 1970: 490) – auf Gebrauchtwagenmärkte übertragt, geht er hypothetisch davon aus, dass „[t]he ‚bad‘ cars tend to drive out the good (in much the same way that bad money drives out the good).“ (Akerlof 1970: 489 f.) Die Informationsasymmetrie, wonach der Verkäufer über den Gebrauchtwagen etwas wissen könnte, was der Käufer zum Kaufzeitpunkt (noch) nicht weiß, führe nämlich dazu, dass das aus ihr resultierende Täuschungsrisiko bereits eingepreist werde – was wiederum zur Folge habe, dass gute Gebrauchtwagen, die als solche auf Anhieb eben nicht zu erkennen seien, grundsätzlich nur unter dem Preis gehandelt würden, den sie tatsächlich wert seien, und zwar zu vergleichbaren Preisen wie schlechte Gebrauchtwagen: „rational buyers will […] offer a price below the average (because they know that the chances of getting a high-quality good are very low). This only strengthens the incentives to keep high-quality goods out of the market until only the lowest-quality goods remain.“ (Reiss 2013: 233)

Die guten, nur unter Wert anzubietenden Gebrauchtwagen sollten demnach aus dem Markt verdrängt werden – die Folge wäre ein Marktversagen: „For it is quite possible to have the bad driving out the not-so-bad driving out the medium driving out the not-so-good driving out the good in such a sequence of events that no market exists at all.“ (Akerlof 1970: 490)[11]

Die Erfahrung zeigt aber: Es kommt nicht zum Marktversagen, da sich laut Akerlof (1970: 499 f.) Institutionen herausbilden, die alternativ zum Preis ebenfalls über die Qualität des Gebrauchtwagens informieren. Ein Händler, der einen guten Gebrauchtwagen verkaufen möchte, gewährt dem Käufer beispielsweise eine Garantieleistung für den Fall, dass sich der Wagen doch noch als „lemon“ herausstellen sollte. Der Vergleich der (durch Anwendung des Greshamschen Gesetzes gewonnenen) hypothetischen, kontrafaktischen Prognose mit der empirischen Erfahrung gibt in diesem Fall also Aufschluss darüber, warum es auf Gebrauchtwagenmärkten – trotz struktureller Qualitätsunsicherheit – nicht zu Marktversagen kommt.

3.3 Friedmans Methodologie des Als-Ob

Die klassische, auch von Tutić gewählte Referenz für eine im vorstehenden Sinne „positive“ Lesart ökonomischer Theorie ist Milton Friedmans (1953) Aufsatz „The methodology of positive economics“.[12] Gemäß Friedmans „As-if“-Methodologie, so liest man bei Tutić (86 f.), könne eine Entscheidungstheorie durchaus auf „falschen Annahmen“ beruhen, da „ihr deskriptiver Gehalt eher nachrangig“ zu beurteilen und vielmehr „[e]ntscheidend sei, dass sich die Theorie bei der Ableitung von Hypothesen als fruchtbar erweise und sich diese Hypothesen in empirischen Studien überwiegend bestätigten.“ Insbesondere Friedmans unrealistic assumptions, also sein Standpunkt, wonach „[t]ruly important and significant hypotheses will be found to have ‚assumptions‘ that are widely inaccurate descriptive representations of reality, and, in general, the more significant the theory, the more unrealistic the assumptions (in this sense)“ (Friedman 1953: 14), werden seither kritisiert; auch Tutić (87) kritisiert Friedman aufgrund des geringen deskriptiven Gehalts seiner unrealistischen Annahmen, da dies dazu führe, dass sich die Standardtheorie bei der „Erklärung individuellen Handelns“ als „dürftig“ erweise.

Man könnte meinen, Friedman habe die vorstehende Lesart seiner Methodologie antizipiert, wenn er in kritischer Auseinandersetzung mit Alfred Marshall schreibt, dass die bei diesem zu beobachtende „confusion between descriptive accuracy and analytical relevance“ einem „misunderstanding of economic theory“ (Friedman 1953: 34) gleichkomme. Denn die unrealistischen Annahmen, von denen die ökonomische Theorie ausgehe – Friedman bezeichnet sie auch explizit als „ideal types“[13] –, seien selbstverständlich „not intended to be descriptive; they are designed to isolate the features that are crucial for a particular problem.“ (Friedman 1953: 36)

Um welches Problem es sich dabei auch jeweils konkret handeln mag, der Ökonom Friedman sei stets, wie Dan Hausman (2001: 313) gezeigt hat, „interested in controlling economic events, not just passively watching them“; seine Zielsetzung sei daher „prediction in order to guide policies. He wants economic theories to provide predictions that are useful for practical purposes.“ Dabei gehe eine Vorhersage, so Hausman (2001: 313) weiter, stets mit einer (ursächlichen) Erklärung einher: „Friedman […] wants economic theory to determine the causes of phenomena.“ Folgt man dieser instrumentalistischen Lesart, erweist sich der explanative Gehalt der Standardtheorie also keineswegs als dürftig.

Ein anschauliches Beispiel hierfür, das auch Hausman referiert, liefert Friedmans Diskussion des Modells „vollkommener Konkurrenz“, wonach Unternehmen – idealtypisch – so betrachtet werden, „as if they were producing an identical product and were in perfect competition.“ (Friedman 1953: 37) Gehe es zum Beispiel darum, „to determine the effect on retail prices of cigarettes of an increase, expected to be permanent, in the federal cigarette tax“, prognostiziere das Modell „broadly correct results“ (Friedman 1953: 36 f.) – und zwar basierend auf folgender Hypothese: Wenn sich Kostensteigerungen (also etwa durch eine Erhöhung der Tabaksteuer) nicht in Form von Preissteigerungen an die Konsumenten weitergeben lassen, dann: „perfect competitors would have reduced the quantity offered for sale at the previously existing price.“ (Friedman 1953: 37)

Anders verhalte es sich aber im Fall von Preiskontrollen im Zweiten Weltkrieg, wo sich die Reaktion der Zigarettenfirmen mit dem Modell vollkommener Konkurrenz nicht korrekt habe vorhersagen lassen; das Modell sei in diesem Fall „a false guide“, und die Zigarettenfirmen könnten daher nicht so betrachtet werden, „as if they were perfect competitors.“ (Friedman 1953: 37) Die Reaktion der Zigarettenfirmen lässt sich aber, wie sich leicht zeigen lässt, erklären.

Ausgangspunkt hierfür ist folgende Feststellung: Obwohl Preissteigerungen nicht möglich waren – „there was reasonably good adherence to maximum cigarette prices“ –, „the quantities produced increased substantially.“ (Friedman 1953: 37) Die Schlussfolgerung mit Blick auf mögliche Faktoren, die die empirische Abweichung von oben genannter Hypothese erklären könnten, lautet daher: „The common force of increased costs presumably operated less strongly than the disruptive force of the desire by each firm to keep its share of the market, to maintain the value and prestige of its brand name.“ (Friedman 1953: 37) Diesen für seine Methodologie des Als-Ob zentralen Punkt formuliert Friedman an anderer Stelle wie folgt (und die Formulierung erinnert sehr an die gemeinsam mit Savage vorgetragene, oben ausführlich zitierte Passage zur Erwartungsnutzenhypothese): „Viewed as a body of substantive hypotheses, theory is to be judged by its predictive power for the class of phenomena which it is intended to ‚explain.‘ Only factual evidence can show whether it is ‚right‘ or ‚wrong‘ or, better, tentatively ‚accepted‘ as valid or ‚rejected.‘ […] the only relevant test of the validity of a hypothesis is comparison of its predictions with experience.“ (Friedman 1953: 8 f.)

Das ist, wenn zur Erklärung eines Phänomens (intended to „explain“) der Vergleich zwischen Theorie (Vorhersage) und Wirklichkeit (Erfahrung) bemüht wird, ganz im Geiste Max Webers geschrieben. In vorstehendem Beispiel gibt es eine Reihe von Faktoren, die ursächlich wirken, adäquat verursacht wurde die Entwicklung steigender Produktionsmengen aber vermutlich (im Sinne einer neuen Hypothese) durch die Bestrebungen der Zigarettenproduzenten, Marktanteile zu behaupten und Markenwerte zu erhalten.

Liest man, wie Tutić, Friedmans Methodenlehre des Als-Ob jedoch nicht idealtypisch (und insoweit nicht instrumentalistisch, sondern realistisch[14] ), lässt sich auch die von ihm vertretene, bereits zitierte Position besser nachvollziehen, „dass, sofern es um die Erklärung individuellen Handelns geht, der explanative Gehalt der Standardtheorie gerade deshalb dürftig ist, weil ihr deskriptiver Gehalt gering ausfällt“ (87); und diese Position gilt dann notwendigerweise auch für die axiomatische Standardtheorie, also die Erwartungsnutzentheorie:[15] Wer die Erwartungsnutzentheorie realistisch liest, wird deren Axiome nicht deskriptiv (im Sinne Savages), sondern explanativ interpretieren.

Diese dritte, sich von einer normativen und einer deskriptiven Interpretation unterscheidende Lesart lässt sich gut am „Forschungsprogramm zu den axiomatischen Theorien begrenzter Rationalität“ (87) studieren.

3.4 Begrenzte Rationalität

Es würde hier zu weit führen, die Entwicklung von der Erwartungsnutzentheorie hin zu den Theorien begrenzter Rationalität im Detail nachzuzeichnen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es ausreichend, festzuhalten, dass diese Theorieentwicklung ihren Ausgangspunkt in der empirischen Widerlegung des für die Erwartungsnutzentheorie zentralen Unabhängigkeitsaxioms in Form des Allais-Paradoxes einerseits und des Ellsberg-Paradoxes andererseits genommen hat (vgl. Slovic & Tversky 1974). Ausgehend davon, dass sich Entscheidungen – empirisch – nicht als rational beschreiben lassen, wurden die die Theorie definierenden Axiome in der Folge in einer Weise angepasst, dass sich das empirische Material theoretisch wieder abbilden lässt. Auch die – für das MFS als Referenz bedeutsame (vgl. Kroneberg 2011: 81 ff.) – Prospect Theory (PT) ist vor diesem Hintergrund zu lesen: Entscheidungen, die von den Vorhersagen der axiomatischen Standardtheorie abweichen und den Axiomen der PT genügen, lassen sich dann anhand einer Reihe von Faktoren – etwa der sogenannten Verlustaversion – erklären (vgl. Kahneman & Tversky 1979).

Die axiomatische Standardtheorie verfolgt hingegen, wie gesehen, nur dann eine explanative Zielsetzung, wenn man sie bzw. deren Axiome instrumentalistisch interpretiert – keinesfalls verfolgt sie jedoch das Ziel, kontradiktorische Beobachtungen zu identifizieren. Im Gegenteil: Standardtheoretisch definieren Axiome idealtypische Bedingungen, die dann, wenn sie von der der Entscheidung zugrunde liegenden Präferenzrelation erfüllt werden, dazu führen, dass sich die getroffene Wahl im Sinne von konsistent als rational beschreiben und in Form einer Nutzenfunktion repräsentieren lässt. Das ist die Grundidee einer idealtypisch zu interpretierenden Rational Choice-Theorie, und der besondere Sinn – der „Mehrwert“ – der Axiomatisierung (und insofern auch der Unterschied zwischen nicht-axiomatischer und axiomatischer Standardtheorie) ist dann darin zu sehen, dass Qualitäten (d. h. Entscheidungsalternativen mit unsicheren Konsequenzen) quantifiziert werden.

Folgt man demgegenüber den Ausführungen Tutićs, wäre der „Mehrwert“ der Axiomatisierung kein quantitativer, sondern – im Sinne der sogenannten Nicht-Erwartungsnutzentheorien (vgl. Machina 1987), zu denen auch die Theorien begrenzter Rationalität zählen – ein qualitativer, oder genauer noch: ein explanativer, nämlich anhand von Axiomen eine Erklärung darüber zu erhalten, wie eine Person, ausgehend von ihrer Präferenzrelation (bzw. ihren mentalen Konstrukten und deren Zusammenwirken), zu einer Entscheidung gelangt. Das damit verbundene Ziel ist dann kein methodologisches, sondern ein theoretisches: also mehr über die Entscheidungsprozedur selbst, mehr darüber zu erfahren, wie Tutić (83) in der dem Beitrag vorangestellten Summary schreibt, „what actually happens inside the minds of decision makers.“ Anhand einer solchen axiomatischen Erklärung über das Zusammenwirken der in eine Entscheidungsfindung involvierten mentalen Konstrukte (wie z. B. der erwähnten Verlustaversion) lassen sich – im Sinne des ersten postulierten methodologischen Vorzugs – empirisch dann freilich auch Verhaltensweisen identifizieren, die der Erklärung widersprechen bzw. die sich mit der theoretischen Beschreibung in Form von Axiomen nicht erklären lassen.

4 Zweiter Vorzug: Nutzenmessung

Den zweiten methodologischen Vorzug einer axiomatischen Entscheidungstheorie sieht Tutić (89) in der Messbarkeit der „in der entsprechenden Entscheidungsprozedur verwendeten mentalen Konstrukte“ (vgl. auch den zweiten, mit „Messtheorie“ bezeichneten Pfeil in der unteren Hälfte von Abb. 1). Dieser zweite Vorzug ist im Sinne einer notwendigen Bedingung von vorstehendem ersten Vorzug abhängig, denn mit dem explanativen Anspruch, den Axiomen widersprechende Beobachtungen zu identifizieren, besteht natürlich auch Bedarf an empirischen Daten (oder umgekehrt formuliert: ohne Daten keine Kontradiktion!).

Das mentale Konstrukt, das Tutić in Abschnitt 4.2 seines Beitrags (92 ff.) exemplarisch axiomatisiert – in einem Modell, das „sich ausdrücklich nicht als Alternative zum MFS, sondern als vereinfachte Variante“ (92) versteht –, ist der sogenannte Match (vgl. dazu auch Kroneberg 2011: 144 ff.). In Abhängigkeit vom jeweiligen Match, der im Fall der Frame-Selektion den „Grad der unmittelbar erfahrenen Passung eines Frames zu einer aktuell vorliegenden Situation“ (Kroneberg 2011: 129) bezeichnet, vollzieht sich die Frame-Selektion entweder im reflexiv-kalkulierenden (rc) Modus oder im automatisch-spontanen (as) Modus; die beiden im MFS sich anschließenden Selektionen – die Skript- und die Handlungsselektion – vollziehen sich in Analogie dazu. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Selektion im as-Modus kommt, umso größer, je größer der Match ist. Konkret agiert die Person dann im as-Modus, wenn der Wert des Matches mf ≥ 1 – C/(pU) ist, wobei C die Reflexionskosten, p die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass eine Reflexion erfolgreich durchgeführt werden kann, und U den Nutzen bezeichnet (vgl. Kroneberg 2011: 149; auch S. 91 in Tutićs Beitrag).

Wenn Tutić in seiner vereinfachten Fassung des MFS „lediglich auf die Bedeutung des Matches für die Selektion des Modus ab[zielt]“ (94), ist das Modell allerdings in einer Weise vereinfacht, dass sich, wie er an vorstehender Stelle weiter ausführt, der „Einfluss der drei instrumentellen Variablen c, p und u“ (94) damit überhaupt nicht abbilden lässt. Folglich ergibt sich für ihn „die Notwendigkeit eines Forschungsprogramms, das sich mit der Formulierung und Axiomatisierung weiterer am MFS orientierter Entscheidungsprozeduren beschäftigt.“ (94) Am Beispiel des mentalen Konstrukts Nutzen, das in einer weniger vereinfachten Fassung zu berücksichtigen wäre, lässt sich im Folgenden zeigen, dass bereits dessen Messung Probleme aufwirft, die die Notwendigkeit des intendierten Forschungsprogramms grundsätzlich in Frage stellen.

Tutić begründet den zweiten methodologischen Vorzug – die Messbarkeit theoretischer Konstrukte – in Bezugnahme auf die klassischen Vertreter der Standardtheorie, da in diesen Arbeiten Konzepte wie Nutzen und subjektive Wahrscheinlichkeiten „eine präzise Definition nebst Messbarkeitsvorschriften erfahren“ (92). Wie gezeigt wurde, ist es jedoch keineswegs so, dass die Erwartungsnutzentheorie (etwa in der Variante Savages) Messbarkeitsvorschriften für das Nutzenkonzept – und auch nicht für subjektive Wahrscheinlichkeiten – beinhaltet. Die Idee der neoklassischen Standardtheorie ist nicht das Messen der exogenen Parameter (im Plural!) eines entscheidungstheoretischen Modells; der einzige Parameter, der gemessen wird, ist der Nutzen der zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen. Nutzenmessung bedeutet dann: Die Präferenzrelation zwischen den zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen wird in einer Weise repräsentiert, dass in dem besonderen Fall, dass alle Konsistenz-Axiome erfüllt sind, der gewählten Handlungsalternative ein höherer Nutzenwert zugewiesen wird als den anderen zur Auswahl stehenden.

Tutić argumentiert hingegen nicht im Sinne einer repräsentationalen, sondern, wie sich vielleicht in Anlehnung an Boumans (2005) sagen lässt, „empirischen“ Messtheorie, wenn er in seiner formalen Kritik am MFS für die eben – empirische – Nutzenmessung plädiert, da andernfalls, zumindest im Fall der spieltheoretischen Modellierung von Interaktionssystemen, das Problem bestünde, „Konstrukte wie etwa den Erwartungsnutzen von Entscheidungsalternativen zu berechnen.“ (92) Dass aber die empirische Nutzenmessung mit einer Reihe von Komplikationen verbunden ist, lässt sich gut an den Versuchen studieren, die der PT zugrunde liegenden Konzepte des Nutzens und der Verlustaversion zu messen (vgl. Abdellaoui et al. 2008).

Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Das Nutzenkonzept der PT ist ein formales – „the overall utility of a prospect […] is the expected utility of its outcomes“ (Kahneman & Tversky 1979: 264) –, das Nutzenkonzept des MFS hingegen ein substanzielles, was sich exemplarisch an seiner Reformulierung als „die Opportunitätskosten einer falschen Selektion“ (91) zeigt. Es ist in der Tat genau so, wie Tutić schreibt: Ein „wesentliche[r] Unterschied zwischen den axiomatischen Theorien begrenzter Rationalität und der Verhaltensökonomik besteht darin, dass sich Erstere durch die formale Rigidität der Standardtheorie auszeichnet, während die Verhaltensökonomik, ähnlich wie die neuere soziologische Handlungstheorie, eher anwendungsorientiert ist.“ (88)

Die fehlende formale Rigidität von MFS und Verhaltensökonomik liegt – vom hier vertretenen Standpunkt aus – in ihrer fehlenden Trennung von (formellem) Nutzen und (substanziellen) Konsequenzen; ein Punkt, auf den zwar nicht Tutić in seiner Erörterung der formalen Defizite des MFS hinweist, auf den sich aber ein Großteil der Kritik an der Verhaltensökonomik richtet: „Behavioral economists differ from neoclassical economists […] in having seemingly reverted to the classical view that people really do have utility generators in their heads. Neoclassical economists do not deny this possibility, but they follow Paul Samuelson in thinking it a virtue not to be committed to any particular psychological view of how human minds work.“ (Binmore & Shaked 2010: 88)

Auf der Nähe von Verhaltensökonomik und MFS in diesem einen Punkt basiert die der vorliegenden Replik zugrunde liegende These, dass sich das MFS in der von Tutić vorgeschlagenen Weise nicht axiomatisieren lässt.

5 Sociology and Economics

Das ist freilich noch kein Argument gegen die generelle Axiomatisierbarkeit soziologischer Handlungstheorie(n); ist der Aussage Tutićs doch grundsätzlich zuzustimmen, dass „mit Blick auf die interdisziplinäre Akzeptanz“ soziologischer Erkenntnisse wichtig sei, „sie in einer Form zu präsentieren, die dem ‚state of the art‘ in der Entscheidungstheorie entspricht.“ (96) Und der state of the art ist gewiss in axiomatischen Theorien begrenzter Rationalität zu sehen, die das Ziel einer „deskriptiv gehaltvollen Entscheidungstheorie“ (83) verfolgen (vgl. z. B. Drechsler et al. 2014).

Eine an diese Theorien angelehnte Axiomatisierung soziologischer Handlungstheorie hätte aber vermutlich ebenfalls dem von Thomas Kron (2004: 201 f.) vorgetragenen, an die Adresse des MFS gerichteten Vorwurf der „Psychologisierung der Soziologie“ zu begegnen. Kroneberg erwidert diesen Vorwurf mit den Worten, dass sich nur dann beurteilen lasse, ob „ein Modell des Handelns für die soziologische Forschung von Nutzen sein kann oder aber eine unnötige ‚Psychologisierung‘ darstellt“, wenn man zunächst eine generelle Zielbestimmung vornehme – und dieses Ziel sei im Fall des MFS eben nicht darin zu sehen, „das Handeln eines bestimmten Individuums“, sondern „typisches Handeln zu erklären“ (Kroneberg 2005: 360).

So formuliert, ist die Zielsetzung des MFS identisch mit der Zielsetzung von Max Weber, wenn dieser in den „Grundbegriffen“ schreibt: „Die Soziologie bildet […] Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger, Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt. […] Sie bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann.“ (Weber 1921: 559 f.) Soziologische Begriffe und Regeln sind dabei, wie gesehen, idealtypische Konstruktionen, die als Mittel fungieren, soziales Handeln in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich zu erklären.[16]

In Anbetracht der von Tutić (96) anvisierten „entscheidungstheoretische[n] Fundierung der soziologischen Handlungstheorie und ihre[r] Fortentwicklung zu einer Art soziologischen Spieltheorie“ stellt sich vor diesem Hintergrund dann die Frage, was eine genuin soziologische Spieltheorie – etwa im Unterschied zur „psychological game theory“ (Rabin 1993) oder dem von John Nash entwickelten spieltheoretischen Gleichgewichtskonzept – auszeichnen könnte. In Tutićs Beitrag liest man dazu, dass sich mit ihr auch Aussagen über Märkte oder Interaktionssysteme treffen lassen sollten (96) – aber: Aussagen welcher Art?

Womöglich könnte das Besondere der soziologischen Spieltheorie darin zu sehen sein, soziologische Regeln im Sinne Max Webers zu ermitteln.[17] Dabei orientiert sich dieser Vorschlag auch an der bekannten Formulierung von Pitirim Sorokin (1928: 186), wonach die Soziologie, wenn sie sich als „nomographische Wissenschaft“ versteht und (hypothetische) Regeln aufstellen möchte, experimentell vorgehen müsse.

Eine in diesem Sinne nomographische Spieltheorie würde – im erst noch zu etablierenden Arbeitsbereich „Sociology and Economics“ – dann auch jene Ergebnisse der Verhaltensökonomik rezipieren, in deren Mittelpunkt „Themen wie Normen und Sanktionen, Reziprozität, Altruismus und Moral und das seit Thomas Hobbes in der Sozialtheorie zentrale Problem sozialer Ordnung“ (Diekmann 2008: 529) stehen; und im Vergleich zu bereits vorliegenden soziologischen Arbeiten, die in diesem Sinne verfahren (vgl. etwa Ockenfels & Raub 2010), würde sie deutlicher noch die für axiomatische Theorien konstitutive Differenz von Nutzen und Konsequenzen, von Erwartungsnutzen und Erwartungswert, berücksichtigen.

Vielleicht ist das der eigentliche, gleichwohl nicht-intendierte „Mehrwert“ der von Tutić intendierten Axiomatisierung soziologischer Handlungstheorie: Dass eine axiomatisch „aufgeklärte“ Soziologie experimentalökonomische Ergebnisse kritischer einzuordnen vermöchte.

Über den Autor / die Autorin

Patrick Linnebach

Patrick Linnebach, geb. 1979 in Lebach. Studium der Soziologie in Trier. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.

Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie und Methodologie, soziologische Nachhaltigkeitsforschung, Wirtschaftssoziologie.

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Danksagung:

Für Kommentare und Anregungen danke ich den beiden anonymen Gutachter/innen, Martin Endreß, Friedrich Jaeger und Weyma Lübbe.

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Online erschienen: 2016-4-13
Erschienen im Druck: 2016-4-1

© 2016 by De Gruyter

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