Andree Michaelis-König: Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2023. ISBN: 978-3-8253-9502-5.
Rezensierte Publikation:
Andree Michaelis-König: Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2023. ISBN: 978-3-8253-9502–5.
In seiner als Habilitationsschrift eingereichten Monografie Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung zeichnet der Autor Andree Michaelis-König anhand von sieben konkreten Freundschaften (M. Mendelssohn und G. E. Lessing; R. Levin Varnhagen und C. Brentano; F. Lewald und T. v. Bacheracht; B. Auerbach und G. Freytag; W. Benjamin und F. Heinle; K. Wolfskehl und S. George; H. Arendt und K. Jaspers) detailreich Aspekte der ambivalenten jüdisch-nichtjüdischen Beziehungsgeschichte seit der Aufklärung nach. Begründet durch den theoretischen Hintergrund in den Friendship Studies besteht der Anspruch des Autors darin, anhand dieser Beispiele gerade kein großes Narrativ dieser Beziehungsgeschichte zu erzählen oder eines der bestehenden Narrative – das einer grundsätzlich scheiternden jüdisch-nichtjüdischen Beziehung oder das einer ‚deutsch-jüdischen Symbiose‘ – zu bestätigen. Ganz im Gegenteil stellt er beide Narrative infrage und möchte durch „die analytische Perspektive auf Freundschaftspraktiken [...] ein Differenzierungspotenzial [...] erschließen.“ (540, Hervorhebung i. Orig.) Die von Michaelis-König bearbeitete Fragestellung steht dabei im Kontext eines noch eher jungen Forschungsfeldes der Freundschaft, das erst in den letzten Jahren einige Arbeiten, auch zu Poetiken von Freundschaft, hervorgebracht hat.
Gerahmt wird die ausführliche Studie von Ausführungen zur Praxis der jüdisch-jüdischen Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem, welche einen Ausgangspunkt für theoretische Überlegungen zu Freundschaftspraktiken und -konzeptionen bieten sowie als eine Art Korrekturfolie am Ende der Monografie dienen: Auch jüdisch-jüdische Freundschaften sind, wie jede Freundschaft, durch die Aushandlung von Differenzen, erst recht im Lichte einer schriftstellerischen und/oder politischen Öffentlichkeit, auf die Probe gestellt. Langfristiges Glücken und Misslingen von Freundschaften, so möchte der Autor zeigen, sind für seine Untersuchung nicht ausschlaggebend: Die Zeit der Freundschaft selbst und die Faktoren eines langfristigen Gelingens oder eines Abbruchs der Freundschaft spielen für seine Analyse die größere Rolle.
Um diese Analyse durchzuführen, eröffnet Michaelis-König am Ende des ersten Kapitels eine methodische Perspektive, die er auch über die eigene Arbeit hinaus fruchtbar machen möchte. Er beschreibt eine Lücke in der „systematischen Analyse von literarischer Freundschaftsarbeit.“ (57) Ziel seiner Methodik ist es, über die Korrespondenzen hinaus, welche schon allein ihrem Genre entsprechend von der jeweiligen Freundschaft zeugen, die Auswirkungen der Freundschaft auf die Werkzusammenhänge in den Fokus zu stellen. Dabei nimmt er die Korrespondenzen und ihre Inhalte aber selbstverständlich als wichtigen Anhaltspunkt für seine Analyse der Gesamtwerke wahr. Die eigentliche Frage ist jedoch, wie sich die Freund*innen bzw. ihre Freundschaft und Freundschaftskonzeptionen gegenseitig in die jeweiligen Werke einschreiben. Jüdische Identität innerhalb von Freundschaften spielt hierbei aufgrund der Ausrichtung des Buches eine große Rolle, wobei zahlreiche weitere Aspekte, wie beispielsweise derjenige der Emanzipation im Falle der Freundschaft zwischen Fanny Lewald und Therese von Bacheracht, keinesfalls unbeachtet bleiben.
Die von Michaelis-König vorgestellte Methodik wird dabei nur in Teilen explizit realisiert und im Schlusskapitel nicht reflektierend wiederaufgenommen – für einen über die eigene Arbeit hinausweisenden methodischen Entwurf wäre Ersteres in vollständigerer Ausprägung wünschenswert und Letzteres sicher gewinnbringend gewesen. Dies tut jedoch den Untersuchungen der einzelnen Freundschaften kaum einen Abbruch. Sie folgen auf die breit angelegte Basis einer Erarbeitung des Freundschaftsdiskurses (Kap. 2) und einer Vertiefung dieser Darstellung im Kontext von Aufklärung und jüdischer Emanzipation (Kap. 3). Die Betrachtungen zu den jeweiligen Freundschaften (Kap. 4) glänzen durch Breite und Tiefe – einerseits verfolgt Michaelis-König die Reflexion von Freundschaften und Freundschaftskonzeptionen sowie die Spuren der Freundschaft durch die jeweiligen, weitreichenden Werkzusammenhänge hindurch, andererseits legt er diese Spuren in kleinteiligen und präzisen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen frei. Dabei gelingt es ihm, dass kaum Längen entstehen und die Lektüre sich spannend gestaltet, wozu auch sein Schreibstil beiträgt.
Obwohl es in Michaelis-Königs Band um Freundschaft(en) geht, zeichnet er keineswegs ein verklärtes Bild von (christlich-jüdischer) freundschaftlicher Begegnung. Stets werden die analysierten Persönlichkeiten und Freundschaften auch in ihrem Scheitern und im Lichte ihrer vielfältigen Problemfelder geschildert, wobei hier aufgrund der Thematik des Buches und der jüdisch-nichtjüdischen Freundschaftskonstellationen natürlich ein besonderer Fokus auf Antijudaismus und Antisemitismus liegt. Dass mehrere der Freundschaften mindestens politisch folgenlos blieben für den bzw. die nichtjüdische Freund*in – oder sich, wie im Falle von Wolfskehl und George, gar als Illusion bezüglich der Lebenspraxis und als nur in der Dichtung fortbestehende Freundschaft herausstellten –, illustriert tragisch, was selbst ohne den Rückgriff auf eines der großen Narrative deutsch-jüdischer Geschichte immer wieder deutlich wird: Jüdische Partner*innen in einer jüdisch-nichtjüdischen Freundschaft fühlten sich dieser Freundschaft regelmäßig stärker verpflichtet. Ihre gesellschaftliche Minderheitenposition in Zusammenspiel mit jenem der Aufklärung entsprungenen, nicht eingelösten Versprechen der Freundschaft, einen Austausch auf Augenhöhe und in einem Modus der Anerkennung der gegenseitigen Differenz zu schaffen, brachte die jüdischen Freund*innen wiederholt in eine prekäre Lage, wie der Autor eindrücklich darstellt.
Der Band spricht in der Fülle der in ihm vereinten Themen viele Einladungen aus: Er lädt dazu ein, jüdisch-deutsche Geschichte aus einem neuen Blickwinkel zu reflektieren und sie differenziert zu betrachten. Er macht das Angebot, den literaturwissenschaftlichen Ansatz des Autors für das Schreiben von Mikrogeschichte gewinnbringend zu adaptieren. Und er regt dazu an, auch ganz persönlich über die eigenen Freundschaften und Freundschaftskonzeptionen neu nachzudenken.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- A Multilingual Perspective of the Passover Haggadah by Carlos Moisés Grünberg (1946): Between Calque Translation and the Creation of Neologisms
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- “In what language am I, suis-je, bin ich?”: The Natural State of the Multilingual I in French-Jewish Literature
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- Andrei Corbea-Hoişie; Steffen Höhne; Oxana Matiychuk; Markus Winkler (Hg.): Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Stuttgart: J. B. Metzler, 2023. ISBN: 978-3-476-05973-4
- Jana-Katharina Mende (ed.): Hidden Multilingualism in 19th-Century European Literature: Traditions, Texts, Theories. Boston/Berlin: DeGruyter, 2023. ISBN: 9783110778656.
- Sidra DeKoven Ezrahi: Figuring Jerusalem: Politics and Poetics in the Sacred Center. Chicago: University of Chicago Press, 2022. ISBN: 9780226787466
- Andree Michaelis-König: Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2023. ISBN: 978-3-8253-9502-5.
- Birgit M. Körner: Israelische Satiren für ein westdeutsches Publikum – Ephraim Kishon, Friedrich Torberg und die Konstruktionen „jüdischen Humors“ nach der Shoah. Berlin: Neofelis Verlag 2024.
- Authors
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