Rezensierte Publikation:
Andrei Corbea-Hoişie; Steffen Höhne; Oxana Matiychuk; Markus Winkler (Hg.): Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Stuttgart: J. B. Metzler, 2023. ISBN: 978-3-476-05973-4
In ihrem Beitrag zum „Mythos Czernowitz / Bukowina“, der fast am Ende des Handbuchs der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina (593–600) zu finden ist, setzt sich Amy-Diana Colin mit den vielfältigen Mythen-Konzeptionen auseinander, die das intensive Interesse vor allem an der deutschsprachigen Kultur der Bukowina, bzw. seiner Metropole Czernowitz bestimmen. Die „Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“ (Paul Celan) wurden zum Objekt eines umfassenden Mythisierungsprozesses, der von Dichter:innen und Schriftsteller:innen ausging und an dessen (De)Konstruktion sich in den letzten Jahrzehnten auch zahlreiche Wissenschaftler:innen beteiligten. Sie alle waren und sind fasziniert von diesem Mythos, der (und so liest Colin die wenigen und „epigonalen“ (V) Rückblicke Celans auf seine Herkunft) als eine eigene Art von sinnstiftender Erzählung auch die „Sehnsucht der Menschen nach Frieden“ (599) im gewaltvollen 20. Jahrhundert zum Ausdruck brachte.
Dass die Beschäftigung mit dieser friedlichen und zugleich „einzigartigen zentraleuropäischen Kultur“, der „nicht nur Russifizierung, sondern die Vernichtung“ durch „längst überwunden geglaubte imperial-genozidale Verfahren“ (IX) droht, notwendiger denn je ist, machen die Herausgeber:innen in einem Postskriptum zu ihrem Vorwort deutlich. Geplant in einer Zeit vor den großen Krisen der letzten Jahre, lag dem Interesse an der Bukowina und an Czernowitz als kulturellen Räumen zunächst sicherlich auch die Begeisterung für eine multilinguale und multiethnische Kulturlandschaft zugrunde. Ziel des Projektes war von Beginn an eine transkulturelle Neuvermessung dieser Kultur aus einer pluralen Perspektive, um das Nebeneinander der verschiedenen „deutschen, jiddischen, polnischen, rumänischen und ukrainischen Literaturen“ und ihrer rivalisierenden Erinnerungsdiskurse in ihrem komplexen Spannungsfeld zu betrachten. Dabei geht es dem Handbuch dezidiert nicht darum, die mythisierenden Empathieangebote an diese Kulturregion fortzuführen. Vielmehr sollen miteinander verbundene „Text-Reihen von Literatur vor dem Hintergrund interkultureller Verflechtung und transkultureller Vielfalt“ neu gelesen und die Bukowina und Czernowitz als eigenständiger „Mikrokosmos“ verstanden werden, „in dem sich ethnische, sprachliche, konfessionelle und kulturelle Differenzen, aber auch Gemeinsamkeiten konstituieren.“ (4) Ausgehend von dieser Prämisse wird das Handbuch heute – während die kolonisierenden und genozidalen Übergriffe der faschistoiden Nachbarstaaten auf das Gebiet der Ukraine und damit auch der Bukowina unvermindert fortgehen – zu einem Plädoyer für die Offenheit und Verbundenheit einer pluralen Welt, die durch „unifizierende Gewalt von außen bedroht erscheint.“ (IX)
Der Neuvermessung dieser Kulturlandschaft widmet sich das Handbuch mit einer Gründlichkeit, die ihresgleichen suchen kann. Erstmals wird dabei ein recht komplexes Miteinander verschiedener kultureller Dimensionen zusammengebracht und die umfangreiche, jedoch recht verstreut publizierte und sehr heterogene Forschungsliteratur zur Bukowina und zu Czernowitz umfassend gesichtet. Die deutschsprachigen und jüdischen Zeugnisse dieser Welt sind umfangreich erforscht, dagegen steht die Auseinandersetzung mit den rumänischen und ukrainischen Kulturträgern weit zurück. Die Auseinandersetzung mit weiteren Kultursprachen dieses Kulturraums wie dem Armenischen, dem Huzulischen und dem Romani stecken noch in den Anfängen. Ebenso liegen für die Zeit nach der sowjetischen Okkupation ab 1944 so gut wie keine Studien vor und auch die Gegenwartsliteratur nach 1990 wird nur selten im Kontext des Kulturraums Bukowina gelesen. Hier zeigen sich Forschungsdesiderate, die gerade durch die damit entstehenden Leerstellen des Handbuchs markiert werden.
Das vorliegende Handbuch geht dieses Problem systematisch an und widmet besonders den großen und prägenden Kultursprachen Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Rumänisch und Ukrainisch umfangreiche Artikel zu verschiedenen Aspekten. In sechs größeren Teilen werden je spezifische Fragestellungen durch verschiedene Einzelbeiträge ausgewiesener Spezialist:innen erarbeitet. Alle Artikel sind fundiert recherchiert und setzen sich auch aus einer literatur- bzw. kulturhistorischen Perspektive mit der Diskursgeschichte ihres jeweiligen Gegenstandes umfassend auseinander. Sie präsentieren alle eine Vielzahl von Quellen, die eine zukünftige Erforschung ausgesprochen hilfreich unterstützen werden. Hinzu kommen meist sehr umfangreiche und fundierte Bibliografien, die am Ende jedes Kapitels einen leichten Zugang auf die weiterführende Literatur ermöglichen.
Im Zentrum von Teil I stehen literatur- wie wissenschaftsgeschichtliche Grundlagen. Die Einleitung (Kap. 1)[1] stellt den methodischen Zugang des Gesamtprojektes vor, wobei die theoretischen Dimensionen später in Teil II (Kap. 7–9) mit Blick auf Fragen zur Interkulturalität, des Raumes und den Erscheinungsformen der Bukowina als Region nochmals vertieft werden. Zuvor werden in Kap. I, 2 einige zentrale ›Begriffe[] und Kategorisierungen‹ vorgestellt, die den Diskurs über die Bukowina fortlaufend prägen, dabei aber im stetigen Wandel sind. Neben dem zentralen Artikel zu ›Bukowina‹ weisen Lemmata zu ›Bukowina-Deutsche‹ und ›Bukowina Deutsch‹ auf die große Relevanz des Deutschen und der deutschen Sprache für die Bukowina hin. Im Lemma ›Zentrum / Peripherie‹ wird das komplexe Verhältnis der „ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie“ (Celan) und seines städtischen Zentrums in seinen wechselseitigen Veränderungsprozessen vorgestellt. ›Zuordnungen‹ schließlich widmet sich Stereotypen und Bildern, die an die Bukowina und Czernowitz herangetragen werden, und an der „Trennlinie zwischen einer realen und imaginierten Region“ (15) stehen. In den Kapiteln I, 1 und I, 2 sind damit die theoretischen Prämissen entwickelt, unter denen nachfolgende Artikel ihren jeweiligen Blick auf die die Kultur des ›Buchenlandes‹ werfen. Das Handbuch ist dezidiert als eine Kultur- und weniger als eine Sozialgeschichte angelegt, was auch die fundierte Darstellung zur komplexen Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung der multilingualen Bukowina (I, 3) und zur Entwicklung der literarischen Bildung am Beispiel der Czernowitzer Universität im Kontext der verschiedenen Machstrukturen von 1875 bis in die Gegenwart zeigen. (I, 4–6)
Teil III präsentiert allgemeine Kontexte der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Bukowina. Beginnend mit einem Überblick über die Regionalgeschichte (III, 10) folgen Fragen zur Situation der jüdischen Kultur vor 1918 (III, 11), zur Mehrsprachigkeit (III, 12) sowie zum kulturellen Leben u. a. in Vereinen (III, 16) und Verlagswesen und Buchhandel (III, 15) zwischen 1868 und 1938. Gerade das Kapitel zu Verlagswesen und Buchhandel zeigt mustergültig, wie eine verschränkte Geschichtsschreibung des kulturellen Feldes des Kulturraums Bukowina und Czernowitz im Sinne einer histoire croisée geschrieben werden kann. Ein weiterer Schwerpunkt des dritten Teils liegt im Bereich des multilingualen Zeitungswesens, das zum einen den Blick auf das Zeitungswesen der verschiedenen Sprachwelten lenkt, zum anderen auch einige Zeitschriftenprojekte zwischen 1890 und 1938 beispielhaft vorstellt. Teil IV (Kap. 26–34) widmet sich der Literaturgeschichte der verschiedenen kulturellen und sprachlichen Felder innerhalb des Mikrokosmos Bukowina vor und nach 1918. Da eine dezidierte Literaturgeschichte der Bukowina, in der die Vielzahl der Kulturen vergleichend miteinander betrachtet werden, bislang fehlt, ist auch dieser Teil eine wichtige Pionierleistung.
In Teil V (Kap. 35–66) folgen exemplarische Porträts von Schriftsteller:innen, beginnend bei dem rumänischen schreibenden Aaron Pumnul (Kap. 35) über den ukrainischsprachigen Dichter Osyp-Jurij Fed’kovyč (Kap. 36) und deutschsprachigen Karl Emil Franzos (Kap. 37) weiter zu Ol’ha Kobyljans’ka (Kap. 39), Elieser Steinbarg (Kap. 42) und Itzik Manger (Kap. 47). Natürlich fehlen auch die bekannten Autoren der sogenannten „bukowiner Dichterschule“ nicht: Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Kettner, Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Paul Celan und – wenn man sie dazu zählen möchte – auch die jung ermordete Selma Meerbaum-Eisinger sind jeweils eigene Kapitel gewidmet (Kap. 48, 49, 51, 54, 55, 56, 58). Darauf folgen Artikel zu Manfred Winkler, Ilana Shmueli, Edgar Hilsenrath, Dan Pagis, Aharon Appelfeld und Norman Manea (Kap. 57, 59, 60, 62, 63, 65): Sie alle schreiben nicht mehr in bzw. aus Czernowitz, sondern in der Diaspora. Den Abschluss bildet die in der bukowinischen Ukraine geborene Autorin Maria Matios, die mit ihrem Schreiben über „Macht, Krieg, Liebe, Tod [...] ein historisches Trauma“ (501) aus einer heutigen Perspektive thematisiert. Der abschließende Teil VI ist Themen und Motiven gewidmet, die für die verschiedenen bukowiner Literaturen prägend sind. Neben der kulturellen Stereotypen und thematologischen Fragen (Kap. 67–71), steht hier auch die Wahrnehmung der Kulturlandschaft Bukowina und Czernowitz als Gegenstand von Narrationen und wissenschaftlichen Diskursen (Kap. 73–78) zur Diskussion.
Der vorliegende Band, das wurde schon oben angedeutet, ist in jeder Hinsicht eine hervorragende Pionierleistung. Er bündelt die umfangreichen Forschungsergebnisse zum Thema Bukowina und Czernowitz in einem schillernden Panorama verschiedener Perspektiven. Wie es sich für ein (sehr) gutes Handbuch gehört, ist der Einstieg an jeder Stelle dieses Buches möglich, die verschiedenen Themen werden in jedem Artikel fundiert und kompetent vorgestellt. Zugleich geben zahlreiche Querverweise sowie teilweise parallele Kapitelstrukturen mit ähnlichen Themen die Möglichkeit, bestimmte Phänomene in vergleichender Perspektive kennenzulernen. Der Kulturraum Bukowina wird dadurch als ein auf vielen verschiedenen Ebenen verflochtenes Miteinander erfahrbar. Dabei wissen die Herausgeber:innen wie auch die vielen Autor:innen der einzelnen Kapitel, dass die hier so kompetent wie umfassend vorgenommene Zustandsbeschreibung nur ein erster konsistenter Blick auf das jeweilige Thema ist. Von ihm kann aber ein Impuls für eine weiterführende Beschäftigung und Erforschung dieses spannenden Themenfeldes ausgehen.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
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- Teil 1: Forschungsbeiträge / Research Papers
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- „In eigener Sache“ sprechen – Übersetzen als poetologisches Konzept bei Paul Celan
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- A Multilingual Perspective of the Passover Haggadah by Carlos Moisés Grünberg (1946): Between Calque Translation and the Creation of Neologisms
- Goethe’s Translation of the Song of Songs: New Perspectives on the Omitted Final Lines
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- Quaint and Curious Volume of Forgotten Lore – Steinberg’s Book of Satires as a Decadent Critique of HaTehiya Poetry
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- Andrei Corbea-Hoişie; Steffen Höhne; Oxana Matiychuk; Markus Winkler (Hg.): Handbuch der Literaturen aus Czernowitz und der Bukowina. Stuttgart: J. B. Metzler, 2023. ISBN: 978-3-476-05973-4
- Jana-Katharina Mende (ed.): Hidden Multilingualism in 19th-Century European Literature: Traditions, Texts, Theories. Boston/Berlin: DeGruyter, 2023. ISBN: 9783110778656.
- Sidra DeKoven Ezrahi: Figuring Jerusalem: Politics and Poetics in the Sacred Center. Chicago: University of Chicago Press, 2022. ISBN: 9780226787466
- Andree Michaelis-König: Das Versprechen der Freundschaft. Politik und ästhetische Praxis jüdisch-nichtjüdischer Freundschaften in der deutschsprachigen Literaturgeschichte seit der Aufklärung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2023. ISBN: 978-3-8253-9502-5.
- Birgit M. Körner: Israelische Satiren für ein westdeutsches Publikum – Ephraim Kishon, Friedrich Torberg und die Konstruktionen „jüdischen Humors“ nach der Shoah. Berlin: Neofelis Verlag 2024.
- Authors
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