Rezensierte Publikationen:
Adolf Rudnicki. Sommer 1938. Aus dem Polnischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Breysach. Berlin und Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2021
Adolf Rudnicki. Sommer 1938. Aus dem Polnischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Breysach. Berlin und Leipzig: De Gruyter, 2021.
Als Adolf Rudnickis Lato 1938 im renommierten Warschauer Verlag Rój erschien, reagierten die zeitgenössischen Rezensenten gespalten. Insbesondere die formale Offenheit des Werkes, die eine Gattungszuordnung erschwerte und als schriftstellerischer Mangel gewertet wurde, stieß auf Kritik. Der zwischen autobiografischem Reisebericht, sozialkritischer Reportage und fiktionalisierten Anekdoten oszillierende Essay liegt nun – mehr als 80 Jahre nach Erscheinen des polnischsprachigen Originals – erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Die kleine Provinzstadt Kazimierz Dolny (Niederes Kazimierz), in der sich alljährlich in den Sommermonaten eine illustre Schar Besucherinnen und Besucher einfindet, bildet den Hauptschauplatz von Sommer 1938. Dass die Kleinstadt an der Weichsel – auf Jiddisch ›Kuzmir‹ oder ›Kazm(i)erz‘ – im Text nicht namentlich genannt wird, verschleiert weniger den Ort des Geschehens, vielmehr wird dadurch dessen einzigartiger und archetypischer Charakter unterstrichen. Rudnickis zeitgenössische Leserinnen und Leser wussten auch ohne einen namentlichen Hinweis, wo sich die Episoden des Textes abspielen. Kazimierz Dolny war legendär und ist Handlungsschauplatz zahlreicher Texte der polnischen und jiddischen Literatur. Die im 16. Jahrhundert aufgrund des Getreidehandels auf der Weichsel zu Wohlstand gekommene Stadt besaß seit dem 13. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner jüdisch, was keine Seltenheit in den Städtchen oder ›shtetlekh‹ der Region rund um die Provinzhauptstadt Lublin darstellte. Kazimierz Dolny wurde aufgrund seiner pittoresken Lage und besonderen Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein populäres Reiseziel der Warschauer Bohème und während der Zwischenkriegszeit zum Drehort einiger der bekanntesten jiddischen Spielfilme, wie Yidl mitn fidl [1936] oder Der Dybbuk [1937].
Zu den Sommerfrischler*innen in Rudnickis Text gehören Maler und Bildhauer aus der polnischen Hauptstadt, vom Alltag gelangweilte Ehefrauen, Politikfunktionäre, Lehrer*innen auf Bildungsreise sowie sonnenhungrige Badegäste. Das berichtende Ich – selbst ein Erholung suchender jüdisch-polnischer Intellektueller aus Warschau – erzählt in kurzen Episoden seine Beobachtungen vom Zusammentreffen der Urlauber*innen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Kleinstadt. Bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, dass der Essay mehr als ein launiger Reisekommentar ist, denn der Erzähler entpuppt sich als gewitzter, kritisch analysierender und Anteil am Schicksal seiner Protagonist*innen nehmender Augenzeuge. Der Text kommentiert das Machtgefälle zwischen Reisenden und Ansässigen; zwischen den Authentizität und Armut suchenden Warschauer Künstlern (zu denen nicht zuletzt der Autor selbst gehört) und ihren Modellen: »Das Zusammenleben der Angereisten mit den Einheimischen hatte etwas von einer Art Psycho-Spiel. Etwas von der Beziehung zu Kindern, Hunden, Tieren verbarg sich in der Haltung der Besucher zu den Einheimischen [...].« (24)
Der Aufenthalt in der Provinzstadt entspricht jedoch nicht dem idyllischen Bild, dass sich die Hauptstädter von ihrem Reise- und Zufluchtsort erhofften. Der Sommer 1938 ist geprägt von einem sich verschärfenden Existenzkampf, Generationenkonflikten und einer zunehmenden Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden: »Ringsumher tobte, wie man sagte, die Hölle des Antisemitismus.« (117) Euphorie und Entzücken, die der Erzähler von vorherigen Urlauben erinnert, stellen sich im Sommer 1938 nicht mehr ein: »Jedoch in diesem Jahr entdeckte ich es nicht mehr in mir, ich war nicht mehr imstande, den alten Enthusiasmus aufzubringen, obwohl, objektiv gesehen, die Schönheit des Städtchens und der Umgebung doch keine Veränderung erfahren hatte.« (161–162)
Der Text ist durchzogen von einer unterschwelligen, bitteren Sehnsucht nach vergangenen Sommern und einfacheren Zeiten, in denen »die heranwachsende Generation [...] die Vorlieben ihrer Väter [teilte]« (10). Exemplarisch greifen einzelne Episoden die unterschiedlichen Lebensentwürfe junger polnischer Jüdinnen und Juden in der Zwischenkriegszeit auf, die zwischen völliger Assimilation, steigender Religiosität und Hinwendung zum Kommunismus changieren. Empathisch beschreibt der Erzähler die Verzweiflung jüdischer Väter über ihre entfremdeten Söhne: »Auf welch schmerzliche Weise wurden die väterlichen Herzen verletzt, wenn ihr Glaube eine plötzliche Erschütterung, einen Widerspruch erfuhr durch die Abkehr, das Weggehen des Sohnes.« (154–155)
Es fällt schwer, diese Szenen nicht autobiografisch zu lesen, wurde Adolf Rudnicki doch als Aron Hirschhorn (weitere Schreibweisen: Hirszhorn, Hirschorn) 1909 im galizischen Żabno bei Tarnów in eine chassidische Familie geboren, die er als junger Mann für ein assimiliertes Schriftstellerleben in Warschau verließ. Unter dem Pseudonym Adolf Rudnicki veröffentlichte er bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs allein fünf Romane sowie mehrere Erzählungen und avancierte zu einem der produktivsten Prosaisten der Zwischenkriegszeit. Die polnisch-jüdische Literaturlandschaft der Zweiten Polnischen Republik umfasste eine Reihe von Sprachen, zu denen neben Jiddisch und Polnisch auch Hebräisch und Deutsch zählten. Die Entscheidung für eine Sprache hatte immer auch eine politische Dimension und war Ausdruck gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Rudnicki gehörte nicht zu den Autor*innen, die in mehreren Sprachen publizierten, er schrieb allein auf Polnisch. In Sommer 1938 porträtiert er die Spannungen innerhalb des künstlerischen Milieus und beschreibt die Kluft zwischen »den sogenannten Jargonkünstlern« (121) und den Autor*innen jüdischer Herkunft, die auf Polnisch veröffentlichten.
Rudnickis Œuvre vor der Shoah kreist – wie seine Biographie – um die Auseinandersetzung mit der jüdischen Assimilation in der Moderne und deren Gegenbewegungen. In Sommer 1938 zeichnet er ein Portrait jüdischen Lebens in der Zwischenkriegszeit, sowohl der assimilierten Milieus als auch der chassidischen Kreise. Gleichzeitig entwirft der Autor – wie Barbara Breysach in ihrem informativen Nachwort zur deutschen Erstausgabe betont – »ein Spiegelbild der konflikthaften polnisch-jüdischen Beziehungen und der teils radikal antisemitischen Ressentiments in den verschiedensten Teilen der polnischen Gesellschaft« (179). Während eines Ausflugs des Erzählers nach Góra Kalwaria, chassidischer Pilgerort und Kontrastschauplatz zum liberalen Kazimierz Dolny, werden diese verschiedenen Motive des Textes besonders deutlich: Góra Kalwaria, im Jiddischen ›Ger‹, besaß im beginnenden 19. Jahrhundert eine mehrheitlich jüdische Bevölkerung. Das Städtchen wurde zu einem Zentrum des Chassidismus und der Gerer Rebbe galt als bedeutender und einflussreicher geistiger Führer. In Rudnickis Essay besucht der Erzähler am Versöhnungstag Jom Kippur den Hof des Gerer Zaddik. Bei seiner Ankunft brodelt es in der Stadt vor Besucherinnen und Besuchern. Ausführlich werden die Kleidung sowie Form der Bärte und Pejes von Angereisten und Ansässigen verglichen sowie detailliert der Weg zum Haus des Rebben beschrieben. Dort angelangt, beginnt das Warten in der Masse der Besucher, bis der Einzelne zum Rebbe vortreten kann. Auch der Erzähler hält kurz die greisenhafte Hand des Zaddik und sein Bericht, bis dahin von beobachtender Distanz durchdrungen, gewinnt an Unmittelbarkeit und Nähe: »Das Leben hat für einen Augenblick seinen Höhepunkt erreicht.« (140)
Deutschen Leser*innen ist der Gerer Rebbe möglicherweise aus einem anderen Reisebericht bekannt: 1924 hielt sich Alfred Döblin zwei Monate in Polen auf und besuchte ebenfalls im Vorfeld des Versöhnungstages Góra Kalwaria und den Hof des Zaddik. In seiner 1925 erschienenen »Reise nach Polen« widmet er dieser Begegnung ein Kapitel. Vergleicht man die Beschreibungen Döblins mit denen Rudnickis, wird deutlich, wie eingeweiht in die chassidischen Rituale Adolf Rudnicki im Unterschied zu seinem deutschen Kollegen war.
Die Distanz, die der assimilierte Erzähler in Sommer 1938 bei den Beschreibungen der gläubigen chassidischen Massen trotz aller vertrauter Details bewahrt, wird in einer Szene in Góra Kalwaria gänzlich überwunden: Während des abendlichen Spaziergangs in die Synagoge treffen die jüdischen Menschenmassen, unter ihnen der Erzähler, auf eine katholische Prozession. Beim Anblick des hölzernen Kreuzes erfasst »die jüdische Straße und alles, was sich auf ihr befand« (146) ein vor Grauen anschwellendes Zittern und eine existenzielle Panik. Der christliche Umzug entpuppt sich allerdings als Leichenzug, von dem keine Gefahr ausgeht. Die eindrückliche Beschreibung der verzweifelten Angst vor einem möglichen Pogrom, die alle jüdischen Anwesenden – unabhängig von Gläubigkeit und gesellschaftlichem Status – gleichermaßen ergreift, überschattet die folgenden spirituellen Rituale des höchsten jüdischen Feiertags.
Der Essay Sommer 1938 von Adolf Rudnicki ist ein herausragendes literarisches Zeitdokument, da es die durch die Shoah unwiderruflich vernichteten jüdischen Lebenswelten schildert, ohne von der Nachgeschichte nach 1945 geprägt zu sein. Breysach betont in diesem Sinne: »[Rudnickis] Text erzählt einen der letzten Sommer des polnischen Judentums gerade nicht als eine heile Welt, sondern als ein lebendiges und spannungsgeladenes Milieu unterschiedlicher Charaktere [...], unbeeinflusst vom Wissen über die spätere Vernichtung.« (179) Mit der Übersetzung aus dem Polnischen für den Verlag Hentrich & Hentrich hat Barbara Breysach dem deutschen Publikum einen nicht nur motivisch, sondern auch literarisch interessanten Text der polnisch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit zugänglich gemacht.
© 2022 Franziska Koch, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- Jakob Hessing. Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte. München: C. H. Beck, 2020. ISBN: 978-3-4067-5473-9
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