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Neugestaltung des sozialen Dialogs im Tourismus für das 21. Jahrhundert

  • Joseph Mellors

    Joseph Mellors hat kürzlich seine Promotion an der Newcastle Business School der Northumbria University abgeschlossen. In seiner Dissertation untersuchte er Intersektionalität, Identitätsarbeit und Authentizität auf Homestay-Plattformen. Darüber hinaus forschte er zu Themen der Bildungsgerechtigkeit im Hochschulzugang und ist derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Horizon-Europe-Projekt FUTOURWORK tätig, das sich mit der Verbesserung des sozialen Dialogs und der Arbeitsbedingungen im Tourismus- und Gastgewerbesektor befasst.

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    and FUTOURWORK

    FUTOURWORK ist ein im Rahmen von Horizon Europe gefördertes Forschungsprojekt, an dem Partner aus sechs europäischen Ländern beteiligt sind. Es fokussiert sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie des sozialen Dialogs im Tourismus- und Gastgewerbesektor. Das FUTOURWORK-Konsortium wird als Autor genannt, um die kollektiven intellektuellen Beiträge, die Finanzierung, die Projektleitung sowie die gemeinsame Verantwortung für diese Arbeit anzuerkennen.

Published/Copyright: August 2, 2025

Zusammenfassung

Dieser Beitrag plädiert für eine grundlegende Neugestaltung des sozialen Dialogs im Tourismussektor, um den Realitäten der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert gerecht zu werden. Angesichts der wachsenden Bedeutung plattformbasierter Arbeit und algorithmischer Steuerung geraten traditionelle Strukturen der Kollektivverhandlungen zunehmend an ihre Grenzen und schließen vor allem prekär Beschäftigte systematisch aus. Aufbauend auf interdisziplinären und vergleichenden Perspektiven fordert der Text inklusivere und anpassungsfähigere Modelle des sozialen Dialogs, die digitale Steuerungsmechanismen, intersektionale Ungleichheiten und fragmentierte Beschäftigungsformen einbeziehen. Die Tourismusforschung wird als zentral für diesen Wandel positioniert und zur aktiven Mitgestaltung neuer Formen von Mitbestimmung, Repräsentation und Regulierung aufgefordert.

Abstract

This article argues for the urgent reimagining of social dialogue in tourism to meet the realities of 21st-century work. As platform labour and algorithmic management reshape employment, traditional collective bargaining frameworks increasingly exclude the sector’s most precarious workers. Drawing on interdisciplinary and comparative insights, the article calls for more inclusive, adaptive models of social dialogue that reflect digital governance, intersectional inequalities, and fragmented employment relations. It positions tourism scholarship as central to this transformation, urging researchers to engage critically and creatively with emerging forms of worker voice, representation, and labour regulation in an evolving global tourism economy.

1 Prekarität und Herausforderungen in der Tourismusarbeit

Der Tourismus- und Gastgewerbesektor beschäftigt weltweit über 270 Millionen Menschen, was 8,2 % der globalen Erwerbsbevölkerung entspricht (ILO 2024). Trotz seiner wirtschaftlichen Bedeutung ist die Branche durch strukturelle Prekarität gekennzeichnet: unsichere Arbeitsverträge, Saisonbeschäftigung, niedrige Gewerkschaftsquote und ein hoher Grad an Informalität (Baum 2019; Ladkin 2011). Diese Herausforderungen werden durch den Aufstieg plattformbasierter Modelle – wie Airbnb, Uber und digitale Concierge-Dienste – weiter verschärft, die Arbeitsstrukturen verändern, Prekarität in Bereichen wie Gästeservice, Transport und Reinigung vertiefen und in Zukunft wahrscheinlich eine noch größere Rolle im Sektor spielen werden. Solche Arbeitsverhältnisse sind häufig rechtlich ungeschützt und werden durch algorithmische Systeme verwaltet, die Aufgabenverteilung, Bezahlung und Leistung überwachen (Wood et al. 2019). Da viele dieser Beschäftigten als Selbständige eingestuft werden, sind sie systematisch vom kollektiven Arbeitskampf und anderen Formen des sozialen Dialogs ausgeschlossen (De Stefano 2016). Diese sich rasant wandelnde Arbeitslandschaft wirft eine drängende Frage auf: Wie kann sozialer Dialog neu gedacht werden, um den Anforderungen der Tourismusarbeitnehmenden gerecht zu werden?

Sozialer Dialog bezeichnet strukturierte Interaktionen zwischen Arbeitnehmer:innen, Arbeitgeber:innen und staatlichen Akteuren – in Form von Tarifverhandlungen, Konsultationen oder tripartiten Verhandlungen (Eurofound 2020). In Ländern mit starken institutionellen Rahmenbedingungen trägt dieser Dialog nachweislich zu gerechteren Arbeitsbedingungen bei, selbst in Niedriglohnsektoren (Costa 2021). In vielen Regionen ist der Tourismussektor jedoch durch eine fragmentierte, flexible Beschäftigungsstruktur geprägt, die große Teile der Belegschaft ohne Vertretung und Zugang zu Schutzmechanismen lässt. Algorithmisches Management verschärft dieses Problem: Es ersetzt menschliche Kontrolle, trifft undurchsichtige Entscheidungen und untergräbt die Bedingungen für verhandelbare Arbeitsbeziehungen (Gandini 2019). Die etablierten Modelle des sozialen Dialogs, die für die industriellen Beschäftigungsformen des 20. Jahrhunderts konzipiert wurden, sind ohne tiefgreifende Reformen kaum mit diesen Entwicklungen vereinbar.

2 Sozialen Dialog durch Tourismusforschung neu denken

Während anerkannt wird, dass Tourismus innerhalb weiter gefasster kapitalistischer und politischer Rahmenbedingungen operiert, die Prekarisierung fördern, und dass sowohl Akteure im Tourismus als auch Forschende in Systeme eingebettet sind, die Arbeitsflexibilisierung vorantreiben, trägt die Tourismusforschung dennoch die Verantwortung, neue Konzepte für einen inklusiven und responsiven sozialen Dialog zu entwickeln. Die Veränderungskapazität mag eingeschränkt sein, wenn diese übergeordneten strukturellen Bedingungen nicht adressiert werden, doch sollte dies Bemühungen, gerechtere Formen der Arbeitsvertretung innerhalb und außerhalb des Sektors zu gestalten, nicht ausschließen. Digitale Werkzeuge wie Apps, geschützte Foren oder Online-Plattformen könnten dezentralisierte oder unorganisierte Beschäftigte vernetzen und kollektive Interessen artikulierbar machen. Solche technologischen Ansätze müssen jedoch auch bestehende Machtasymmetrien widerspiegeln. Arbeiter:innen, die algorithmischem Management unterliegen, haben selten die Mittel, ihre Arbeitsbedingungen aktiv mitzugestalten – insbesondere wenn sie durch Geschlecht, Migrationsstatus oder Alter zusätzlich marginalisiert sind (Ivanova et al. 2018; Ladkin 2011). Ein zukunftsorientierter sozialer Dialog muss diese intersektionalen Ausschlüsse explizit ansprechen, vielfältige Beschäftigungsformen einschließen und Teilhabe neu definieren – jenseits formalisierten Verhandlungsprozessen.

Ein vergleichender Ansatz ist unerlässlich, um sozialen Dialog im Tourismus neu zu denken. Skandinavische Länder zeigen beispielsweise, wie starke Institutionen und soziale Partnerschaften inklusive Arbeitspraktiken selbst in Niedriglohnsektoren fördern können. Diese Modelle spiegeln breitere Merkmale des koordinierten Kapitalismus und universalistischer Wohlfahrtsregime wider, die den sozialen Dialog stärker verankern (Hall und Soskice, 2001). Die direkte Übertragung solcher Modelle ist jedoch in Kontexten mit schwächerer Regulierung oder fragmentierteren Arbeitsmärkten oft nicht möglich (Grimshaw et al. 2015). Eine fruchtbarere Perspektive könnte darin liegen, spezifische Elemente – wie tripartite Koordination oder sektorale Tarifverhandlungen – an konservative Wohlfahrtsregime im deutschsprachigen Raum anzupassen, insbesondere angesichts der besonderen Stellung der Schweiz als liberaler Wohlfahrtsstaat. Auch sektorübergreifende Perspektiven sind lohnenswert: In Bereichen wie Logistik, Care-Arbeit oder der Kreativwirtschaft werden neue kollektive Organisationsformen erprobt, die Ansätze für den Tourismus bieten könnten – insbesondere dort, wo basisorientierte Initiativen oder Multi-Akteurs-Governance-Strukturen entstehen.

Die Veränderungen in der Tourismusarbeiterschaft sind keine vorübergehende Störung, sondern Ausdruck tiefgreifender struktureller Transformation. In einem Kontext zunehmend flexibler, digitalisierter und ungleicher Beschäftigung muss sich sozialer Dialog von einem starren institutionellen Modell hin zu einem dynamischen, inklusiven und anpassungsfähigen System entwickeln. Es geht nicht nur darum, Rechte zu schützen, sondern eine gerechtere Arbeitszukunft mitzugestalten. Die Tourismusforschung hat das Potenzial – und die Verpflichtung –, diesen Wandel mitzugestalten: durch kritische Forschung, evidenzbasierte politische Beratung und die Entwicklung neuer Formen von Teilhabe und Gerechtigkeit. Sozialer Dialog ist nicht veraltet – aber seine Relevanz hängt davon ab, wie radikal wir bereit sind, ihn neu zu denken.

Über die Autoren

Joseph Mellors

Joseph Mellors hat kürzlich seine Promotion an der Newcastle Business School der Northumbria University abgeschlossen. In seiner Dissertation untersuchte er Intersektionalität, Identitätsarbeit und Authentizität auf Homestay-Plattformen. Darüber hinaus forschte er zu Themen der Bildungsgerechtigkeit im Hochschulzugang und ist derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Horizon-Europe-Projekt FUTOURWORK tätig, das sich mit der Verbesserung des sozialen Dialogs und der Arbeitsbedingungen im Tourismus- und Gastgewerbesektor befasst.

FUTOURWORK

FUTOURWORK ist ein im Rahmen von Horizon Europe gefördertes Forschungsprojekt, an dem Partner aus sechs europäischen Ländern beteiligt sind. Es fokussiert sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie des sozialen Dialogs im Tourismus- und Gastgewerbesektor. Das FUTOURWORK-Konsortium wird als Autor genannt, um die kollektiven intellektuellen Beiträge, die Finanzierung, die Projektleitung sowie die gemeinsame Verantwortung für diese Arbeit anzuerkennen.


Correction Note

Correction added 04.09.2025 after online publication 01.08.2025: funder name and DOI was updated


  1. Verfügbarkeit von Daten:

  2. Für diese Studie wurden keine neuen Daten erstellt oder analysiert. Eine Weitergabe von Daten ist daher nicht anwendbar.

  3. Finanzierung:

  4. FUTOURWORK wird durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont Europa der Europäischen Union im Rahmen der Finanzhilfevereinbarung Nr. 101178573 gefördert.

  5. Interessenskonflikte:

  6. Die Autor:innen erklären, dass keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit dieser Forschung bestehen.

  7. Funder Name:

  8. HORIZON EUROPE Climate, Culture, creativity and inclusive society, Funder Id: https://doi.org/10.3030/101178573, Grant Number: 101178573

Literatur

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Online erschienen: 2025-08-02

© 2025 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/tw-2025-0011/html
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